Montag, 5. September 2022

Synapsen der andern Art.


aus scinexx.de                                                 Modell der neu entdeckten Kontaktstelle zwischen Cilien (gelb) auf der Oberfläche von Neuronen und den Axonen (blau) von Nachbarzellen.                                                    zuJochen Ebmeiers Realien

Cilien-Kontaktstellen an unseren Hirnzellen leiten Impulse direkt in den Zellkern weiter
Synapsen sind die Schaltstellen unserer Nervenzellen. An ihnen werden elektrische Nervenreize über biochemische Neurotransmitter an Nachbarzellen übertragen.


Überraschender Fund: An unseren Nervenzellen haben Forschende eine noch unbekannte Art von Synapsen entdeckt. Diese neuronalen Schaltstellen liegen nicht an den bekannten Nervenfortsätzen, sondern an winzigen haarähnlichen Cilien der Zelloberfläche. Werden diese Synapsen durch Neurotransmitter wie Serotonin aktiviert, löst dies Veränderungen direkt im Zellkern aus – und kann das Ablesen der DNA beeinflussen, wie das Team im Fachjournal „Cell“ berichtet.

Gängiger Lehrmeinung nach liegen die Synapsen der Nervenzellen an ihren langen Fortsätzen, den Axonen. Diese übermitteln neurochemische Signale an Dendriten der Nachbarzelle – etwas kürzeren, wurzelartig verzweigten Zellausläufern. An diesen axo-dendritischen Schaltstellen lösen die elektrischen Signale der Neuronen die Freisetzung von Botenstoffen aus dort vorrätigen Bläschen aus. Diese Neurotransmitter docken auf der Dendritenseite der Synapse an Rezeptoren an und lösen dann in der Empfängerzelle erneut elektrische Signale aus.

Das Rätsel der Cilien

Doch wie sich nun zeigt, ist dieses gängige Bild unvollständig: Es gibt an unseren Nervenzellen noch einen weiteren, bisher übersehen Synapsentyp, wie Forschende um Shu-Hsien Sheu vom Howard Hughes Medical Institute in Boston entdeckt haben. Ziel ihrer Studie war es eigentlich, die Struktur und Funktion der sogenannten primären Cilien an einigen unserer Zellen aufzuklären. Diese winzigen, haarähnlichen Röhrchen ragen nur wenige Mikrometer aus der Zelle hinaus und entsprechen den Geißeln unserer einzelligen Ururahnen.

Bei einigen unserer Zellen, beispielsweise in den Atemwegen oder bei den Spermien, haben die Cilien wichtige Funktionen für Bewegung und Transport. Auch bei der Zellteilung spielen sie eine wichtige Rolle, werden aber bei den meisten Zellen anschließend wieder abgebaut. „Weniger klar ist daher, welche Funktion die primären Cilien im reifen Gehirn haben, in dem sich die meisten Neuronen nicht mehr teilen oder differenzieren“, erklären Sheu und seine Kollegen. „Dennoch sind sie in den meisten Neuronen und Gliazellen des Gehirns noch vorhanden.

Kontakt von Cilien mit Axonen

Um das zu klären, nutzte das Forschungsteam eine spezielle Form der Elektronenmikroskopie, das Ionenfeinstrahl-Rasterelektronenmikroskop (FIB-SEM). Bei diesem wird die Probe statt mit Elektronen mit Ionen abgetastet. In Kombination mit Antikörpern, die speziell an den Cilien andocken, konnten Sheu und sein Team so diese Zellausläufer und ihre Kontaktstellen bei Nervenzellkulturen aus dem Hippocampus von Mensch und Maus analysieren.

Es zeigte sich Überraschendes: Rund 80 Prozent der Cilien auf den Hirnzellen ragten nicht einfach nur in den freien extrazellulären Raum hinaus, sondern berührten Axone von Nachbarzellen. „Das warf die Frage auf, ob diese neuronalen Cilien möglicherweise spezialisierte Kontakte mit den Axonen bilden und ob es sich dabei um Orte der neuronalen Informationsübertragung handelte“, berichten die Wissenschaftler. Um das herauszufinden, untersuchten sie mithilfe spezieller Biomarker, ob es an diesen Kontaktstellen Vesikel und andere Synapsen-typische Strukturen gab.


Mit dem Neurotransmitter Serotonin gefüllte Vesikel und weitere Strukturen belegen, dass an den Kontaktstellen von Cilie und Axon biochemische Informationen übertragen werden.

Tatsächlich enthüllten die Analysen, dass die Kontaktstellen zwischen den Cilien und Axonen alle Merkmale einer Synapse aufwiesen: „In den Axonen sind Vesikel an der Plasmamembran zu erkennen, von denen manche gerade andocken oder mit der Membran verschmelzen – das deutet auf die Freisetzung von Stoffen hin“, erklären die Forschenden. Eine Fluoreszenzlebensdauer-Mikroskopie (FLIM) enthüllte, dass in rund 36 Prozent der beobachteten Kontaktstellen der Neurotransmitter Serotonin vom Axon an die Cilie übertragen wird.

„Das war ein echter Game Changer“, sagt Sheu. Denn damit hat das Team einen ganz neuen Typ von Schaltstellen zwischen Nervenzellen entdeckt – die axo-ciliäre Synapse. Anders als zuvor gedacht kommunizieren unsere Neuronen demnach nicht nur über die Schaltstellen zwischen Dendriten und Axonen, sondern auch über Verbindungen, die vom Axon über die Cilien direkt ins Innere der Nervenzelle führen.

Direkter Einfluss auf die Genaktivität der Nervenzelle


Doch die neu entdecken Synapsen haben auch eine funktionale Besonderheit: Nähere Analysen enthüllten, dass diese Kontaktstellen nicht einfach nur elektrische Signale in der Empfängerzelle verursachen wie die normalen Synapsen. Stattdessen lösen sie eine biochemische Kaskade aus, die bis in den Zellkern reicht und dort Veränderungen an den Histonen und am Chromatin bewirkt – der „Verpackung“ des Erbguts, die das Ablesen der DNA entscheidend beeinflusst.

„Das ist bedeutend, weil das Chromatin so viele Aspekte der Zelle prägt“, erklärt Sheus Kollege David Clapham. „Diese spezielle Synapse repräsentiert einen Signalweg, der beeinflussen kann, was im Zellkern transkribiert wird – und das kann ganze Genprogramme verändern.“ Anders als die kurzlebigen Reize der normalen Synapsen verursacht die neu entdeckte axo-ciliäre Synapse damit langfristige Veränderungen der Gen- und Zellaktivität, die Stunden, aber auch Jahre anhalten können.

„Antenne des Zellkerns“

Nach Ansicht des Forschungsteams enthüllt ihre Entdeckung damit eine ganz neue Art und Weise, in der Nervenzellen auf ihre Umwelt und auf Reize reagieren können. Die Cilien-Synapsen dienen dabei als eine Art „Antenne des Zellkerns“, über die Reize direkt auf die Genaktivität der Zelle wirken. „Das weckt die spannende Möglichkeit, dass die primären Cilien als epigenetischer Regulator agieren, der das Transkriptionsprogramm an Umweltreize anpasst“, erklären Sheu und seine Kollegen.

Das Forschungsteam will nun als nächstes untersuchen, ob die neu entdeckten axo-ciliären Synapsen auch auf andere Neurotransmitter als Serotonin reagieren. Denn wie ihre Analysen bereits zeigten, gibt es auf den Cilien der Gehirnzellen mindestens noch Rezeptoren für sieben bis zehn weitere Botenstoffe. Ungeklärt ist auch noch, ob die Cilien von Zellen in anderen Organen als dem Gehirn womöglich auch eine Signalfunktion besitzen.

„Unsere Entdeckung eröffnet eine Menge Möglichkeiten, an die wir vorher nie gedacht hätten“, sagt Clapham. (Cell, 2022; doi: 10.1016/j.cell.2022.07.026)


Quelle: Howard Hughes Medical Institute

5. September 2022

- Nadja Podbregar


Nota. -"Hört auf die Wissenschaft!" hat Greta uns kämpferisch zugerufen. Sie war und ist jung genug, um zu meinen, sie habe eine spezifische Aussage getan. Generisch hat sie natür-lich Recht - wo immer es geht, sollte man die Stimme der Wissenschaft zu Rate ziehen, zumal wenn Streit herrscht. Spezifisch spricht jedoch "die Wissenschaft" selten mit einer Stimme. Wobei überholte, widerlegte Meinungen nur noch von Minderheiten vertreten werden. Neue Theorien, die auf neuen Befunden beruhen, allerdings auch. Kann ein Laie dieses verbindlich von jenem unterscheiden? Ach, das muss wohl "die Wissenschaft" selber besorgen.

Obiges ist zweifellos eine neue Theorie, die auf neuen Befunden beruht. Ob sie - wie der Wiener sagt: - "einstweilen definitiv" gelten sollen, muss schon die Wissenschaft selber ent-scheiden. Aber das kann dauern.
JE


Sonntag, 4. September 2022

Der mathematische Gottesbeweis.


aus spektrum.de, 2. 9. 2022                              Kann man Gott mit logischen Argumenten herleiten?                     zu Philosophierungen

Lässt sich Gott mathematisch beweisen?
Viele Menschen glauben an ein höheres Wesen. Einige haben sich sogar an einem logischen Beweis für die Existenz eines Gottes versucht.


von Manon Bischoff

Wer hätte gedacht, dass ich in dieser Mathematik-Kolumne auf Gott zu sprechen komme? Aber keine Angst, wir bewegen uns dabei weiterhin in einem streng wissenschaftlichen Rahmen. Tatsächlich haben einige Mathematiker über die Jahrhunderte hinweg immer wieder versucht, die Existenz eines göttlichen Wesens zu beweisen: von Blaise Pascal und René Descartes (im 17. Jahrhundert) über Gottfried Wilhelm Leibniz (im 18. Jahrhundert) bis hin zu Kurt Gödel (im 20. Jahrhundert), dessen Schriften dazu erst 1987 veröffentlicht wurden. Und das wohl Erstaunlichste: 2013 prüfte ein algorithmischer Beweisassistent Gödels logische Argumentationskette – und befand sie für zweifellos korrekt. Hat die Mathematik nun alle Atheisten endgültig widerlegt?

Wie Sie wahrscheinlich schon vermuten, ist das nicht der Fall. Gödel konnte zwar beweisen, dass aus einigen Annahmen zwangsläufig die Existenz von etwas folgt, das er als göttlich definierte. Ob diese Annahmen aber berechtigt sind, kann man bezweifeln. Wenn ich zum Beispiel davon ausgehe, dass alle Katzen dreifarbig sind, und weiß, dass dreifarbige Katzen fast immer weiblich sind, dann kann ich folgern: Fast alle Katzen sind weiblich. Auch wenn die logische Argumentation richtig ist, trifft das natürlich nicht auf das Ergebnis zu. Denn schon die Annahme, alle Katzen seien dreifarbig, ist falsch. Wenn man Aussagen über beobachtbare Dinge in unserer Umgebung wie etwa Katzen trifft, kann man diese durch naturwissenschaftliche Untersuchungen überprüfen. Doch wenn es um den Beweis einer göttlichen Existenz geht, wird die Angelegenheit etwas komplizierter.

Während sich Leibniz, Descartes und Gödel auf einen ontologischen Gottesbeweis stützten, bei dem sie aus der reinen Möglichkeit eines göttlichen Wesens durch logische Schlüsse auf dessen Existenz schlossen, wählte Pascal (1623–1662) einen etwas anderen Ansatz: Er analysierte das Problem aus spieltheoretischer Sicht und entwickelte dabei die so genannte pascalsche Wette.

Die pascalsche Wette: Lieber auf Nummer sicher gehen

Dafür betrachtete er die beiden Möglichkeiten (1: Gott existiert, 2: Gott existiert nicht) und die von vielen Religionen gepriesenen Konsequenzen, die sich nach dem Tod ergeben, falls man an Gott glaubt oder nicht – und auch sonst keine Sünde begehe: Wenn es ein göttliches Wesen gibt und man daran glaubt, landet man im Paradies, andernfalls fährt man schlimmstenfalls in die Hölle. Existiert hingegen kein Gott, dann passiert nichts weiter – unabhängig davon, ob man religiös ist oder nicht. Die beste Strategie ist Pascal zufolge daher, an Gott zu glauben. Bestenfalls landet man im Paradies, im schlechtesten Szenario passiert gar nichts. Glaubt man hingegen nicht, dann könnte man im schlimmsten Fall in der Hölle landen.

Pascals Gedanken sind zwar nachvollziehbar – beziehen sich aber stark auf Szenarien aus religiösen Schriften und stellen zudem keinen Beweis für die Existenz eines übermächtigen Wesens dar. Sie besagen nur, dass man sich aus Opportunismus lieber dem Glauben anschließen sollte.

Auf der Suche nach einem »echten« Beweis

Die ontologischen Ansätze sind da schon überzeugender, auch wenn sie Atheisten höchstwahrscheinlich nicht umstimmen werden. Den Anfang machte der Theologe und Philosoph Anselm von Canterbury (1033–1109) zu Beginn des letzten Jahrtausends. Er beschrieb Gott als ein Wesen, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden könne. Wenn es dieses aber nicht gebe, dann könne man sich etwas Größeres vorstellen: nämlich ein Wesen, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, das zudem auch noch existiert (denn diese Eigenschaft macht es noch größer). Das ist aber absurd: Nichts kann größer sein als das Größte, was man sich vorstellen kann. Demnach muss die Annahme (Gott existiert nicht) falsch sein. 

Es dauerte einige Jahrhunderte, bis dieser Gedanke wieder aufgegriffen wurde – und zwar von keinem Geringeren als René Descartes (1596–1650). Angeblich ohne die Schriften von Anselm zu kennen, lieferte er ein fast identisches Argument für eine göttliche Existenz, die vollkommen ist. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) nahm sich die Arbeit ein paar Jahrzehnte später vor und bemängelte sie: Descartes hatte nicht gezeigt, dass alle perfekten Eigenschaften miteinander vereinbar sind. Leibniz vervollständigte das Manko, indem er argumentierte, Perfektion ließe sich nicht richtig untersuchen – deshalb könne man niemals widerlegen, dass sich perfekte Eigenschaften in einem Wesen vereinen. Somit begründete er die Möglichkeit eines göttlichen Wesens. Und daraus folge mit Anselms und Descartes Argumenten notwendigerweise, dass Gott existiere

Der Beweis einer göttlichen Existenz mit formaler Logik


Aus mathematischer Sicht wurden die Versuche aber erst durch Gödels Bemühungen richtig ernst. Das ist nicht allzu verwunderlich: Der Wissenschaftler hatte das Fach bereits mit 25 Jahren auf den Kopf gestellt, indem er zeigte, dass die Mathematik stets wahre Aussagen enthält, die sich nicht beweisen lassen. Dabei bediente er sich der Logik. Ebendiese ermöglichte es ihm auch, die Existenz Gottes zu beweisen:



Formaler Beweis von Kurt Gödel

Auf den ersten Blick erscheinen die zwölf Schritte kryptisch, aber man kann sie Schritt für Schritt durchgehen, um Gödels Gedanken zu folgen. Er beginnt mit einem Axiom, also einer Annahme: Wenn φ die Eigenschaft P hat und aus φ stets ψ folgt, dann besitzt auch ψ die Eigenschaft P. Der Einfachheit halber können wir annehmen, P stehe für »positiv«. Zum Beispiel: Wenn eine Frucht lecker ist (positive Eigenschaft), dann macht es auch Spaß, sie zu essen. Daher ist der Spaß am Essen auch eine positive Eigenschaft.

Das zweite Axiom setzt weiterhin einen Rahmen für P. Wenn das Gegenteil von etwas positiv ist, dann muss dieses »etwas« negativ sein. Damit hat Gödel eine Welt in Schwarz und Weiß eingeteilt: Entweder ist etwas gut oder schlecht. Wenn Gesundheit gut ist, muss eine Krankheit beispielsweise zwangsläufig schlecht sein.

Mit diesen beiden Voraussetzungen kann Gödel sein erstes Theorem ableiten: Wenn φ eine positive Eigenschaft ist, dann besteht die Möglichkeit, dass ein x mit Eigenschaft φ existiert. Das heißt, es ist möglich, dass positive Dinge existieren.

Wie definiert man Gott mathematisch?


Nun wendet sich der Mathematiker erstmals der Definition eines göttlichen Wesens zu: Demnach ist x göttlich, wenn es alle positiven Eigenschaften φ besitzt. Das zweite Axiom stellt sicher, dass ein so definierter Gott keine negativen Merkmale haben kann (sonst würde man einen Widerspruch erzeugen).

Das dritte Axiom besagt, dass Göttlichkeit eine positive Eigenschaft ist. Dieser Punkt ist nicht wirklich streitbar, da Göttlichkeit alle positiven Merkmale vereint.

Das zweite Theorem wird nun etwas konkreter: Indem man das dritte Axiom (Göttlichkeit ist positiv) und das erste Theorem (es gibt die Möglichkeit, dass etwas Positives existiert) verbindet, könnte ein Wesen x existieren, das göttlich ist.

Gödels Ziel ist es nun, in den folgenden Schritten zu zeigen, dass Gott in diesem abgesteckten Rahmen zwangsläufig existieren muss. Dafür führt er in der zweiten Definition die »Essenz« φ eines Objekts x ein, also eine charakteristische Eigenschaft, die alle anderen Merkmale bestimmt. Ein anschauliches Beispiel dafür ist »Welpenhaftigkeit«: Wenn etwas diese Eigenschaft besitzt, ist es zwangsläufig süß, flauschig und tapsig.

Was macht ein Wesen in seinem Kern aus?

Das vierte Axiom scheint zunächst nicht allzu spannend. Es besagt nur, dass, wenn etwas positiv ist, es dann immer positiv ist – egal zu welcher Zeit, in welcher Situation oder an welchem Ort. Welpenhaftigkeit und Schmackhaftigkeit sind beispielsweise immer positiv, ob am Tag oder in der Nacht, ob in Heidelberg oder Buenos Aires


Welpenhaftigkeit | Die Essenz des kleinen Hundes ist Welpenhaftigkeit: Daraus folgt sofort, dass er süß, flauschig und tapsig ist.

Gödel kann nun das dritte Theorem formulieren: Wenn ein Wesen x göttlich ist, dann ist Göttlichkeit dessen essenzielle Eigenschaft. Das leuchtet ein, denn wenn etwas göttlich ist, besitzt es alle positiven Merkmale – und damit sind die Eigenschaften von x festgelegt.


Im nächsten Schritt geht es darum, wann etwas existiert. Wenn irgendwo mindestens ein Wesen y die Eigenschaft φ besitzt, welche die essenzielle Eigenschaft von x ist, dann existiert auch x. Das heißt, wenn irgendetwas »welpenhaft« ist, dann müssen auch Welpen existieren

Dem fünften Axiom zufolge ist die Existenz eine positive Eigenschaft. Dem würden die meisten Leute wohl zustimmen.

Daraus kann man nun folgern, dass Gott existiert, denn er besitzt jede positive Eigenschaft und Existenz ist positiv.

Kritik an Gödels Beweis


Wie sich herausgestellt hat, sind Gödels logische Schlüsse alle korrekt – das konnten selbst Computer nachweisen. Dennoch gibt es Kritik. Neben den Axiomen, die man natürlich in Frage stellen kann (warum sollte sich eine Welt in »gut« und »böse« unterteilen lassen?), gibt Gödel beispielsweise keine näheren Details dazu an, was eine positive Eigenschaft ist. Anhand der Definitionen und Axiome kann man die Menge P immerhin mathematisch beschreiben:

  1. Falls eine Eigenschaft zu der Menge gehört, ist dessen Negation nicht enthalten.
  2. Die Menge ist in sich abgeschlossen.
  3. Die Eigenschaft, als Essenz nur die Merkmale innerhalb der Menge zu besitzen, ist selbst ein Element der Menge.
  4. Die Menge hat immer die gleichen Elemente – unabhängig von der Situation (dem mathematischen Modell).
  5. Existenz ist Teil der Menge.
  6. Wenn φ Teil der Menge ist, dann ist die Eigenschaft, φ als Essenz zu haben, auch in der Menge enthalten.

Damit ist allerdings nicht sichergestellt, dass diese Menge eindeutig ist. Es könnte mehrere Sammlungen geben, die den Anforderungen genügen. Wie Logiker beispielsweise gezeigt haben, lassen sich Fälle konstruieren, in denen nach Gödels Definition mehr als 700 göttliche Wesen existieren, die sich in ihrer Essenz unterscheiden.

Damit ist die abschließende Frage nach der Existenz eines (oder mehrerer?) göttlichen Wesens nicht geklärt. Ob die Mathematik wirklich der richtige Weg ist, um sie zu beantworten, ist fraglich – auch wenn die Bemühungen durchaus spannend sind.


Nota. - Der Grundfehler ist, von Anselm bis Gödel, das Vermengen von Ontischem mit Logischem. Anselm kann man das nicht vorwerfen, denn Ontisches und Logisches saßen nicht zuerst - beisammen, aber getrennt - auf dem Olymp der platonische Ideen und wurden dann von beschränktem Menschenverstand unsittlich verkuppelt. Was nicht so getrennt wurde, wie es sich gehört, sind Qualität und Relation. Qualitäten sind nicht aus Bestandteilen zusammengesetzt und lassen sich aus Begriffen (re)konstruieren, sondern sind was sie sind, und können nur als Einzelner und Ganze angeschaut werden. Ist dies besorgt, kann und wird man wohl, denn Intelligenz ist praktisch, sie zu einander in Bezie-hung setzen - das ist, nach der anschaulichen, die operative Dimension. Die erste ist ontisch, die zweite logisch.

Das Ontische klar und deutlich vom Logischen unterscheiden kann man erst, wenn man den Mut fasst, das Ontische - alles Qualitative - als Gegenstand ästhetischer Betrachtung zu bestimmen. 

Offenkundig wird es, wenn Gödel das Göttliche mit dem Welpenhaften vergleicht. Die sogenannten Eigenschaften des Welpen süß, flauschig und tapsig - sind nicht begrifflich, sondern nur anschaulich erkennbar - von den "Eigenschaften" des Göttlichen gar nicht zu reden. Dem Nachgeborenen kommt Gödels gewaltsamen Konstruktion wie eine Parodie, eine atheistische Persiflage vor, und man mag nicht glauben, dass er es nicht selbst bemerkt hat.

Christliche Theologen bräuchten sich aber nicht getroffen zu fühlen. GOtt oder gar GOttes "Eigenschaften" durch Menschen bestimmen zu lassen, empfänden sie als Lästerung, denn die einzige Eigenschaft ihres Gottes ist schon keine mehr, nämlich Absolutheit und Unbestimmbarkeit.

Muslimen ist Gott aber dermaßen heilig, dass sie, wie die Juden, seinen wahren Namen nicht kennen noch gar aussprechen dürften. Sie haben ihn darum mit rund fünfzig Nicknames versehen, die... ebensoviele Eigenschaften bezeichnen - als wär er ein Nachbar von nebenan.
JE  

Samstag, 3. September 2022

Donatello in Berlin.


aus FAZ.NET, 2. 9. 2022     
                     Donatello, David, Bronze; Loggia, Florenz                                        zu Geschmackssachen

Der große Rätselsteller
Marmor, Stein und Terrakotta spricht: Eine Berliner Ausstellung zeigt, dass Renaissance auch Unergründlichkeit und nie ganz aufzulösende Spannung bedeutet. Donatello ist der Begründer dieser Formenwelt.


von Stefan Trinks

Sich als „Erfinder der Renaissance“ zu bezeichnen, wie Berlin die erste Donatello-Ausstellung in Deutschland in der Gemäldegalerie am Kulturforum bewirbt, wäre dem Florentiner Bildhauer des fünfzehnten Jahrhunderts nie eingefallen. Zwar wurde Donato di Niccolò di Betto Bardi als Sohn eines Wollkämmers in Florenz als Kapitale der Renaissance schon 1386, also noch im vierzehnten Jahrhundert Dantes und Petrarcas geboren. Doch beginnen die ersten nachweisbaren Werke erst 1408, zu einem Zeitpunkt, als Giotto, Ghiberti oder Brunelleschi bereits zentrale Werke der Renaissance geschaffen hatten. Doch geschenkt der zu großsprecherische Untertitel. Ohne Zweifel ist Donatello einer der größten Bildhauer der Renaissancekunst, und erstaunliche neunzig Werke aus aller Welt bezeugen das in Berlin. Alle Hauptwerke sind da – und wo sie ortsfest wie die Judith in der Florentiner Loggia dei Lanzi oder die Propheten am Dom sind, zeigt man zumindest Echos von ihnen. Was aber nicht einmal Florenz hat: Aus dem Dom zu Padua, wo der Künstler von 1453 bis 1454 arbeitete, stammen das prächtig wimmelnde Altarrelief des „Eselswunders“ sowie das ein Meter achtzig große Lettnerkreuz, beide aus Bronze

Immer entgrenzen Donatellos Figuren den eng bemessenen Bildraum oder die Rahmen der Reliefs durch Gesten oder durch schiere körperliche Präsenz. Dabei unterscheidet er die Stofflichkeit jedes einzelnen Bildelements penibel: Der Schleier der Muttergottes wirkt wirklich transparent fein gewoben, Selbst die Brauen des Kindes auf dem schimmernden Babyspeck werden vom Bildhauer anders behandelt als die gezupften Augenbrauen der idealschönen „florentinischen“ Muttergottes mit ihrer feinporigen Haut. Haptik, die mit dem Auge abzutastende Oberflächentextur, be­deu­tete alles für Donatello."  

David, Marmor, 1408-09

Er wollte sich niemals langweilen

Doch sagt sich das so leicht dahin. Auf den Einsatz von Farbe meist verzichtend, muss der Bildhauer diese Nuancen ein und demselben Marmor abtrotzen. Für sein frühestes nachweisbares Werk, den marmornen David von 1408/09, benutzt er daher einen farbig gemaserten Marmor. Dieser ermöglicht es ihm, das aus mehreren Stücken Leder grob zusammengenähte Wams ebenso überzeugend als schillernde Tierhaut zu präsentieren wie den Mantel aus Wolle darüber oder das medusenhaft ab­ste­hen­de Haar des bereits geköpften Go­liath zu Davids Füßen, auf dem noch die Le­derschlinge mit der todbringenden Steinschleuder aufruht. Die Farben muss sich der Betrachter sowohl bei der Madonna mit Kind als auch bei dem jugendschönen Heroen mit noch gotischem Schwanenhals wie beim Schwarzweiß-Fernsehen hinzudenken. Obwohl der Lederwams Davids dick und solide wie ein Brustpanzer wirkt, drückt er mit einer auffälligen Geste des allein ausgefahrenen Zeige- und Mittelfingers dennoch so fest in ihn hinein, dass das Leder nachgibt. Auf Augenhöhe wie jetzt in Berlin wirken die Finger völlig überlängt. Sie sind aber für die untersichtige Aufstellung in fünfzehn Meter Höhe am Chor des Florentiner Doms konzipiert. An genau dieser Stelle wäre der David, wenn er je dort aufgestellt worden wäre, der Vorgänger von Michelangelos Fünf-Meter-David gewesen – Vorbild war er auch so.

Donatello & Michelozzo, Tanzende Spiritelli, von der Außenkanzel des Doms zu Prato, 1434–38

Sein Oberflächen-Impressionismus der per se ja nur einfarbigen Werke ist gut an dem dionysisch wilden Putten-Reigen der marmornen Kanzelreliefs zu erkennen, die einst recht weit oben außen am Dom zu Prato angebracht waren: In den Details sind die Spiritelli genannten Geisterwesen roh und unfertig belassen, hochgewachsene Besucher können von oben die nicht auspolierten Löcher des Drillbohrers als typischem Werkzeug auch der antiken Sarkophage in den Schattenfugen erkennen. In einem der in Berlin gezeigten Hauptwerke hingegen, dem einstigen Lettnerkreuz des Doms in Padua, zeigt sich die ganze Kraft der engen Beziehung Donatellos zum bis in die Schamhaare ausformulierten, vorzugsweise männlichen Körper. Ohne Zeichen der Passion wie Blut, Schweiß und Tränen leiden Haut und Muskeln durch ihre enorme Anspannung manifest.

Dieser Oberflächenfetischismus erfasst alle Materialien, die er bearbeitet, also Terrakotta, Wachs, Stein, Glas (aus dem Londoner Victoria &Albert-Museum stammt die nach Donatellos Arzt benannte „Chellini-Madonna“, der den Tondo als Ge­schenk für seine Heilkünste erhielt, dessen Rückseite aus tiefblauem Glas ist, das die exzentrische britische Vorbesitzerin als Aschenbecher nutzte), Marmor und immer wieder Bronze: wie bei seinem neoantiken Reiterstandbild, von dem der riesige Werkstatt-Pferdekopf in Berlin stammt, oder dem Florentiner Bronze-David.

Pferdekopf für ein Reiterdenkmal, der sogenannte Protome Carafa, von 1456.

Pyrrhus-Siege in Bronze

Über den um 1440 gegossenen Junghelden [siehe Kopfbild] wurde viel geschrieben, auserklärt ist die lebensgroße Figur mit ihren 158 Zentimetern bis heute nicht. Warum der zwischen (in Florenz deplatziertem) Jägerhut und kecker Stutzer-Kopfbedeckung changierende Helm, der zudem von einem recht zerfleddertem Lorbeerkranz umwunden ist? Sein Blick bleibt bis heute rätselhaft wie das Lächeln der Mona Lisa. Es ist keine Arroganz des Siegers, aber auch kein demütiges oder gar gottesfürchtiges Herabblicken auf den übermächtigen und dennoch überwundenen Gegner, der zwar mit Alterszügen dargestellt, aber nicht durch übles Aussehen diskreditiert wird. Eher zeigt Davids Blick eine erschreckende Leere, wie ein postkoital zombiehafter Leerlauf – der Liebestriumph der Jugend über das Alter?

Derartige Erschöpfungszustände sind bei dem neckisch ehernen „Amor-Attis“ aus dem Bargello in Florenz nicht zu befürchten. Wie bei Jim Morrison von den Doors offenbart seine lose sitzende Lederhose mehr, als sie verhüllt, denn die Hosenbeine sind an seinem Gürtel aufgehängt und Unterhose trägt der Knabe keine. Die Geste der noch kindlichen Finger dirigiert eine Liebesmelodie in die Luft, die wohl keine fromme Weise ist. Ein Amor kann der an den Füßen Geflügelte sein, auch Züge eines Attis, des Geliebten der Urmutter Kybele, lässt der Vergleich mit daneben ausgestellten antiken Kleinbronzen dieses Gottes erkennen, und da er auf einer Schlange steht, sogar solche des jungen Herkules Sauroktonos.

Amor-Attis, 1435-40

Als Donatello 1466 als Meister der Ambiguität und inoffizieller Hofkünstler der Medici in seiner geliebten Geburtsstadt Florenz stirbt, hat er mit seinen die Skulptur transzendierenden Formen nicht nur dafür gesorgt, dass der zwei Generationen jüngere Michelangelo sich an ihm abarbeiten muss. Seine Brechungen des Raums sowie seine deutungsoffenen Figuren sollten noch Rodin und selbst Bildhauer des zwanzigsten Jahrhunderts wie Brâncuși maßgeblich prägen.


Donatello. Erfinder der Renaissance. Gemäldegalerie, Berlin; bis 8. Januar 2023. Der Katalog kostet 35 Euro.

Kruzifix aus dem Dom zu Padua, 143-1444


Nota. - Nein, sich als Erfinder der Renaissance aufzuspielen, wäre Donatello schon deshalb nicht eingefallen, weil es nicht nur den Ausdruck, sondern auch das, was er bedeutete, zu seiner Zeit noch gar nicht gab. Giotto und seine Nachfolger hätten, wären sie danach gefragt worden, vielleicht bestätigt, dass sie sich durch ein Bestreben nach Schönheit und Natürlichkeit von ihren künstlerischen Vorgängern unterschieden; aber dass es sich dabei um ein rinascimiento der griechisch-römischen Antike handelte, konnte erst einem Nachgeborenen auf- und einfallen.

Doch wie soll man Stefan Trinks' Lobgesang auf Donatellos Kult der Oberfläche anders auffassen als die Feststellung, dass sich was Besseres über diesen Künstler summa summarum eben nicht sagen lässt?

Es ist aber nicht richtig, einen Künstler nur danach zu beurteilen, ob er der Kunst etwas zeitlos Unvergleichliches hinzugefügt hat. Wenn einer den Geschmack seiner Zeit in einer unstrittig gültigen Weise zur Darstellung gebracht hat, dauert sein Werk vielleicht ebensolange, wenn nicht länger.
JE

Strategisches Denken und Sprache als Hauptziel der natürlichen Selektion.


aus Die Presse, Wien, 3. 9. 2022                                                                                       zuJochen Ebmeiers Realien

Wie die Evolution das menschliche Gehirn formte.
Das menschliche Gehirn und seine Fähigkeiten sind einzigartig. Bei unseren Vettern, den Affen, findet die Art und Weise, wie wir sprechen, denken oder Informationen über Generationen hinweg austauschen, keine Entsprechung. Unsere nächsten, aber ausgestorbenen Verwandten, die Neandertaler und die Denisovaner, hatten jedoch möglicherweise ganz ähnliche Fähigkeiten


Warum aber ist der moderne Mensch als Gewinner aus der Evolutionslotterie hervorge-gangen? Wie kam es dazu und was unterscheidet ihn von anderen Spezies? Ein Forschungs-team um den Hirnforscher und Zellbiologen Wulf Haubensak von der Med-Uni Wien hat die evolutionäre Geschichte der menschlichen Gehirnfunktionen rekonstruiert. Dabei kom-binierte es historische Genome und moderne Bildgebungsdaten des Gehirns, um die Aus-wirkungen der natürlichen Selektion auf den Verstand über Millionen von Jahren aufzu-zeigen.

Forscher erstellten Gehirnkarten

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass vor allem fortgeschritte-ne Sprachkenntnisse und strategisches Denken in der Evolution zwischen dem modernen Menschen und archaischen Homininae wie den Neandertalern eine große Rolle gespielt haben müssen. Diese kognitiven Eigenschaften waren demnach das Hauptziel der natürli-chen Selektion beim modernen Menschen, was zu unseren außergewöhnlichen Fähigkeiten führte. „Die Erforschung heutiger und historischer Genome und die Übertragung dieser Daten auf unser modernes menschliches Gehirn ermöglicht uns ganz neue Einblicke in unsere Geschichte“, sagt Haubensak. Die Studie dazu, bei der auch Forschende des For-schungsinstituts für Molekulare Pathologie IMP, des Zentrums für Virtual Reality und Visualisierung VRVis sowie der Max-Perutz-Labs mitgearbeitet haben, ist diese Woche im Fachjournal Cell Reports erschienen.

Mithilfe eines von Florian Ganglberger und Katja Bühler vom VRVis entwickelten compu-tergestützten neuroanatomischen Ansatzes (multidimensionales Hochleistungs-Clustering) wurden 9000 Gene analysiert, um funktionelle Gehirnkarten zu erstellen. Diese gaben Auf-schluss über die Entwicklung evolutionär relevanter Merkmale. Demnach erfuhren etwa Gene, die an der Sprache beteiligt sind, vor 7,4 bis 1,7 Mio. Jahren bei unseren frühen homininen Vorfahren zahlreiche Veränderungen. (cog)


Nota. - 'Stragetisches Denken' ist das Erdenken von Zwecken und das Erkunden ihrer Möglichkeit. Da die Menschen wie ihre Vettern in Gemeinschaft müssen Zwecken mitge-teilt und in Gemeinschaft realisiert werden. Da setzt Sprache voraus. Und zugleich kann Sprache nur aus der Mitteilung von Zwecken und der Absprache über ihre Verwirklichung entstehen. Ei und Henne? Das Problem löst sich so pragmatisch wie es sich stellt: als ein systemischer Prozess.
JE


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Donnerstag, 1. September 2022

Wittgenstein über Musik.

aus Süddeutsche.de, 1. 9. 2022              Wittgensteins Klarinette              zu Geschmackssachen ;  zuJochen Ebmeiers Realien

Ludwig Wittgenstein über Musik
Das Schöne stellt viel Unfug an
Ein Band versammelt in Stichpunkten alles, was Ludwig Wittgenstein je über Musik geschrieben hat. Kann das funktionieren?


Von Helmut Mauró


Ludwig Wittgenstein war nicht nur einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhun-derts, sondern auch ein leidenschaftlicher Lehrer. Er neigte zu körperlicher Züchtigung in einem Maße, das den damals weiten Rahmen in der praktischen Erziehung durchaus sprengte. Seine pädagogische Karriere fand daraufhin ein jähes Ende. Trotzdem blieb Wittgenstein Lehrer, nun aber sich selber und die Nachwelt lehrend.

Als musikalischer Mensch - er spielte Klarinette und kannte die Werke der Wiener Klassik und Romantik gut - hatte er auch zu diesem Thema einiges zu sagen. Dennoch: Das nun erschienene Buch "Betrachtungen zur Musik" hat er nie geschrieben. Aber er hat die Idee dazu formuliert, die sich in seinen Manuskripten findet: "Der Titel meines Buches: 'Phi-losophische Betrachtungen, alphabetisch nach ihren Gegenständen".

Der Berliner Kompositionsprofessor Walter Zimmermann hat die Idee jetzt aufgegriffen und alles zum Thema Musik, was das Wittgenstein-Archiv in Bergen hergibt, alphabetisch in Oberbegriffen zusammengefasst: von "Formtypen" wie Fuge, Symphonie, Walzer bis "Töne" wie Tonarten, Tonreihen, Tonleiter. Macht das Sinn? Nicht unbedingt, denn Wittgenstein hat keine Vorlage geliefert für ein Musiklexikon, und selten erklären die zu den einzelnen Stichworten zusammengestellten Sätze den Sachverhalt näher. Sie sind eher ein Fixpunkt, von dem aus und um den herum Wittgensteins Gedanken kreisen. Manches klingt erst einmal fern und abwegig, anderes leuchtet sofort ein.

Ludwig Wittgenstein und Walter Zimmermann (Hg.): 
Betrachtungen zur Musik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 253 Seiten, 25 Euro.

Zum Beispiel, wenn er nach Ironie in der Musik fahndet und dabei nicht nur Wagners "Meistersinger" ins Spiel bringt, sondern das Fugato im Kopfsatz von Beethovens Neunter: "Hier ist etwas, was in der Rede dem Ausdruck grimmiger Ironie entspricht." Das Ironische setzt er gleich dem "Verzerrten" und kommt auf Grillparzer, der sagte, Mozart habe in seiner Musik nur das Schöne zugelassen. Also das Nicht-Verzerrte. Wittgenstein ist - zu recht - unsicher, ob das so ist, und löst das Problem sogleich mit der Feststellung, hier habe auch der Begriff "das Schöne" manchen Unfug angestellt.

An anderer Stelle ist Wittgenstein - auch mit sich selber - weniger kritisch. Gustav Mahlers Symphonien etwa, die sich oft in der Verfremdung vorgefundener Musik entwickeln, empfindet Wittgenstein als unecht, ja sogar als Lüge, als "eine Art Betrug". Aber es ist dann doch weniger eine Anklage gegen Mahler, als gegen sich selber: "Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muss einen schlimmen Einfluß auf den eigenen Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht mehr Echtes von Falschem unterscheiden kann. So mag die Unechtheit des Stils Mahlers zu erklären sein + in der gleichen Gefahr bin ich."

Wittgenstein wird hier geradezu emotional, er findet Mahlers Musik "schlecht", "nichts wert", aber er reflektiert die angewandten Kriterien nicht weiter. "Unecht" kann an dieser Stelle nicht viel mehr heißen als unoriginär, nicht einmal unoriginell. Das hat man ja seiner-zeit auch Johannes Brahms vorgeworfen. Dass aber die Substanz eines Kunstwerks durchweg neu und einzigartig sein muss, um als bedeutende Kunst anerkannt zu werden, ist kein Zeiten übergreifendes Gesetz und zeigt eher einen verengten Blickwinkel, der damals die Kreativität vor allem an der Auffindung eingängiger Melodien festmachte. Komponisten wissen: die sind nicht einmal die halbe Miete.

Aussagen zu Wittgensteins Kerngebiet muss man selbst zusammensuchen

Solche Passagen machen ein bisschen traurig. Wie viel mehr hätte man über Mahler erfahren können, hätte sich Wittgenstein ihm mit der gleichen positiven Akribie genähert wie etwa Franz Schubert, dessen Melodien er treffend gegen die von Mozart stellt, oder wenn er der Beobachtung des Mathematikers Rudolf Rothe nachspürt, Schumann sei "durch die Wirksamkeit Wagners um einen großen Teil seiner rechtmäßigen Wirkung gekommen".

Noch bedauerlicher allerdings ist die Tatsache - und hier verschleiert die alphabetische Stichwortordnung wiederum mehr, als sie weiterhilft -, dass man sich die Aussagen zu Wittgensteins Kerngebiet um Sprache und Sinn, also die Sprachähnlichkeit und Sinnhaftigkeit von Musik, selber zusammensuchen muss. Hier kann man doch tiefergehende Erkenntnisse erwarten als in den beobachtenden Beschreibungen praktischer Musikerfahrung.

Sätze wie diese weisen darauf hin: "Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen womit sich jeder Sinn ausdrücken lässt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet." Und in Richtung moderner Zeichentheorien: "Symbole enthalten ja die Form der Farbe + des Raumes und wenn etwa ein Buchstabe einmal eine Farbe, ein andermal einen Laut bezeichnet so ist er beidemale ein anderes Symbol - + das zeigt sich darin daß andere Regeln der Syntax für ihn gelten." Wo aber unterscheiden sich Sprache und Musik?

Oftmals könne man nur denken, wenn man halblaut zu sich selber spreche

Man könnte das Sprechen das Instrument des Denkens nennen, sagt Wittgenstein, aber man könne nicht sagen, der Sprechvorgang sei ein Instrument des Denkvorgangs, oder "die Sprache gleichsam der Träger des Gedankens, wie etwa die Töne eines Lieds die Träger der Worte genannt werden können".

Einige längere Abschnitte in diesem Zusammenhang sind in Englisch verfasst: Oftmals könne man nur denken, wenn man halblaut zu sich selber spreche. Aber niemand würde sagen, dass das Denken das Sprechen begleitete, würden sie nicht durch die Existenz der beiden Verben Sprechen und Denken dazu versucht oder genötigt. Wenn man von etwas sagen kann, dass es mit der Rede einhergehe oder sie begleite, dann wäre dies so etwas wie die Modulation vokaler Bedeutungen des Ausdrucks. "But does the Ausdruck accom-pany the words in the sense in which a melody accompanies them?" Der Herausgeber verzichtet auf eine Übersetzung, sie wäre schwierig. Übersetzte man "accompany" mit "begleitet", würde man unterstellen, in gesungener Sprache begleiteten Töne ein Gesprochenes. Es würde also gleichzeitig in getrennter Aktion gesprochen und gesungen.

Es ist offensichtlich, dass Wittgenstein in der englischen Zuspitzung nach dem Charakter musikalischer Bedeutungsmöglichkeiten sucht, und doch entlarvt er sie als Chimären, nimmt dem Leser dabei den verführerischen romantischen Glauben: "Die Melodie ist eine Art Tautologie, sie ist in sich selbst abgeschlossen; sie befriedigt sich selbst." Sie spricht also gar nicht zu uns? Wir sind gar nicht gemeint, gar nicht Teil der Kunst? Das wäre ernüchternd, deprimierend - und tröstlich.

Manchmal sind Wittgensteins Gedanken auch etwas "vermudelt", womit weniger die Unordnung gemeint ist als beinahe das Gegenteil, die unerbittliche Konsequenz seines Denkens, die Unumkehrbarkeit gewonnener Erkenntnis. Vermudelt ist "wie Silberpapier, das einmal verknittert ist, sich nie mehr ganz glätten lässt". Da ist er zu sehr in der Musik, um die Distanz des Unverständigen zu halten, und nicht ganz darin, um aus ihr heraus denkend für sie zu sprechen. Fragen führen weiter. Was entbehrt der Unmusikalische? "Was fehlt dem, der nicht empfindet, beim öftern Wiederholen des Wortes 'Bank' gehe diesem etwas verloren; seine Bedeutung; + es werde nun ein bloßer Klang?" Wittgensteins Antwort, es handle sich um eine Art Aspektblindheit, bleibt unbefriedigend, der Leser muss selber denken. Mehr kann ein Lehrer nicht erreichen.

Nota. - Die Beobachtung, dass Ästhetik etwas substanziell anderes ist als diskursiver Verstand, kommt anscheinend gar nicht vor. Im Tractatus hatte es immerhin noch geheißen, Ethik und Ästhetik sind eins, etwas anderes eben als begreifendes Schlussfolgern; und nur wenig später meinte er noch, dass man Philosophie im engeren Sinn - also nicht das, was er selbst betrieb - 'eigentlich nur dichten kann'; und sich jeder Sinn eben wohl doch nicht in den natürlichen Sprachen "ausdrücken" lässt.

Aber später war er dann mit dem Definieren von Wörtern so sehr beschäftigt, dass er sich über seine elementarsten philosophischen Grundvorstellungen nicht mehr groß klarzuwerden bemühte.

Obiges Buch ist interessant anscheinend nur für Leser, die neugierig sind, W.'s Geschmacksurteile über diesen Komponisten und jenes Stück zu erfahren. Das mag für den eigenen Geschmack gelegentlich bereichernd sein; oder auch - je nach Geschmack eben - ganz gleichgültig.
JE

Ich bin wieder da!


Es ergehen Zeichen und Wunder. Nachdem es lange unzugänglich war, kann ich dieses Blog nun wieder bearbeiten. Dies ist nur ein erstes Lebenszeichen; demnächst mehr!

Besuchen Sie bitte auch mein neues Blog Ebmeier's System!

JE