
Muss so gedacht werden, als ob...
Es erhellet daraus, theils, dass es, wie schon mehrmals erinnert worden, der Wissenschaftslehre nicht zum Vor-wurfe gereiche, wenn etwas, das sie als Factum aufstellet, sich in der (inneren) Erfahrung nicht vorfindet. Sie giebt dies gar nicht vor; sie erweist bloss, dass nothwendig gedacht werden müsse, dass etwas einem gewissen Gedanken entsprechendes im menschlichen Geiste vorhanden sey. Soll dasselbe nicht im Bewusstseyn vorkom-men, so giebt sie zugleich den Grund an, warum es daselbst nicht vorkommen könne, nemlich weil es unter die Gründe der Möglichkeit alles Bewusstseyns gehört.
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J. G. Fichte, Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, SW I, S. 333
Nota. - Die Transzendentalphilosophie besteht aus zwei Gängen. Im ersten kritischen, analytischen und regres-siven Akt zieht sie von der uns wirklich vorgegebenen Vernunft alles ab, was an Bestimmtheiten - sinnlicher oder intellektueller Erfahrung - in ihr vorkommt. So muss sie zum Schluss auf der Ursprung des Bestimmens selbst stoßen. Er kann selber nur erst gänzlich unbe-stimmt sein, denn nichts kann ihn bestimmen außer ihm selbst. Am Anfang der Vernunft steht ein Akt des Sich-selbst-Bestimmens. Den Akt nennt die radikale Transzendental-philosophie Tathandlung, und den Akteur nennt sie Das Ich.
Im zweiten spekulativen, synthetischen und progressiven Gang re konstruiert sie in einem Schema Schritt für Schritt den Weg des fortschreitenden Bestimmens, den Das Ich genommen haben muss, um sich die Fähigkeit des Erfahrungmachens ein zubilden. Damit ist ein Kreis geschlossen. Es ist dargestellt, unter welcher Bedingung die Entstehung der Vernunft möglich war. Es wird aber nicht behauptet, dass sie notwendig war - nämlich in dem Sinn, dass sie aus sachlicher Zwangsläufigkeitt entstehen musste.
Denn wenn Das Ich nicht ursprünglich bestimmt war, sondern sich nur erst selbst bestimmen konnte, dann "musste" es gar nichts; sich-selber bestimmen kann es, wenn man sich unter 'bestimmen' überhaupt etwas vorstel-len will, nur aus freien Stücken. Nun wissen wir aber, denn davon ging die Untersuchung aus, dass Vernunft schließ-lich wirklich zur Welt gekommen ist. In ihrem zweiten, rekonstruierenden Gang hat die Transzendentalphilosophie, die ab hier spezifisch Wissenschaftslehre ist, genau das aufzugreifen, was praktisch erforderlich war, um den jeweils nächsten Schritt in der Vernunftwerdung tun zu können.
Das ist nicht die Nacherzählung der reellen Begebenheiten, die zum Aufkommen der Vernunft historisch wirk-lich geführt hat. Die müsste ganz woanders ansetzen, nämlich bei der Entsteheung des Lebens selbst und streng-genommen bei der Entwicklung der Bedingungen seiner Möglichkeit. Denn da fängt auch die wirkliche Geschich-te derer an, die schließlich zur Vernunft kamen, und noch die allernächsten Schritte in der Ausbildung des Leben vom ersten Protein bis zum ersten Einzeller teilen wir mit allem, was lebt auf der Welt. Doch schon beim näch-sten Schritt trennten sich die Wege. Und so immer weiter fort, in einem endlosen Spiel von Zufällen, Anpassun-gen und natürlicher Auslese.
Unsere Trennung von der Entwicklungslinie der Schimpansen und Bonobos war längst nicht die letzte Sezessi-on. Im Lauf von zwei Millionen Jahren traten in Afrika mannigfache Frühformen des Menschen auf und es wer-den gewiss immer noch neue entdeckt werden, deren Hinterlassenschaften auf eine wachsende Intelligenz schlie-ßen lassen, deren Vorformen seither rückblickend auch bei vielen Tieren entdeckt wurden. Doch jene Frühfor-men sind sämtlich ausgestorben - nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern weil die Zufälle der Evolution es eben so gefügt haben.
Es wird angenommen, dass es die Entwicklung unserer... Vernunft gewesen ist, die es uns erlaubt hat, uns gegen widrige Selektionsbedingungen zu behaupten, an denen alle andern Gattungen gescheitert sind. Das ist es sogar, was Vernunft rein evolutionsgeschichtlich definiert. Ihre Grundlagen waren evolutionär in der Intelligenz vorbe-reitet. Aber den Qualitätsprung zur Vernunft haben die andern nicht geschafft. Es muss eine Differentia specifi-ca geben, die ihrerseit historisch eingetreten ist.
Diese Differentia specifica ist der Ur-Sprung der Menschen aus seiner angestammten Umwelt in seine selbstge-schaffene Welt.
*
Dieser Ur-Sprung hat tatsächlich stattgefunden. Die Anthropologie kennt ihn unter dem Namen Hominisation. Sie beginnt mit der Erfindung des aufrechten Gangs beim Übergang vom stationären Dasein im Dschungel zum dynamischen Wanderleben in der Savanne und hin zu der neuen Arbeitsteilung zwischen Hand und Kopf.
Das ist die physiologische Seite. Die wäre uns aber nicht gewärtig ohne ihre Verdoppelung im mentalen Bereich, in der Ausbildung des Geistes und seiner fortschreitenden Selbstimmung zur Vernunft.
Solange sich alle Bedeutungen von selbst verstehen, ist Reflexion nicht möglich. Erst wenn und wo sie vermisst werden, wird neben dem Bedeutenden das Bedeutungslose und neben dem Bestimmten das Unbestimmte wahr-nehmbar. Bedeutungen müssen fraglich werden, um als solche kenntlich zu sein.
Bedingung der Reflexion ist Symbolisierung. Die Bedeutung muss vom Gegenstand abgezogen und selbstständig dargestellt worden sein - in einem Bild, dessen Gestalt ihm grundsätzlich nicht "ähnlich sehen" muss: Reflexion ist Abstraktion. Symbolisierung ist eine kommunitäre und kommunikative Leistung. Erst wer Bedeutungen mit andern teilen will, muss sie selbstständig darstellen können. Symbolisierung ist ein erster Schritt vom Hordenwe-sen zur Vergesellschaftung.
Doch um die Bedeutungen von den Dingen selbst unterscheiden zu können, müssen sie aufhören, gegeben zu sein, und als machbar erfahren geworden. Das wurden sie, indem mit der Ausbruch aus der ererbten Umwelt auch die Selbstverständlichkeit von deren Bedeutungen verloren gegangen war. In der Savanne war alles fremd, selbst das Hordenwesen musste neu geordnet werden. Fremd, weil seine Bedeutung fraglich ist. Reflexion macht die Neu-bestimmung von Bedeutungen nicht bloß möglich, sondern wäre ohne sie ohne Sinn und lohnte der Mühe nicht. Reflexion und Sinngebung sind zwei Seiten desselben Akts. Die Wissenschaftlehre wird sie als ideale und reale Tä-tigkeit unterscheiden.
Und so weiter. Am Anfang der Vernunft stand ein Moment. In der Geschichte wird er sich über hunderttausende von Jahren hingezogen haben. Doch für die Reflexion, die nach der Bedeutung fragt, erscheint es im Rückblick als ein... Bild: als ein Akt; nämlich ein Akt. Es ist der Akt, durch den sich die überkommene Umwelt zur selbstge-machten Welt erweitert, nämlich... als Bild; als Vorstellung, als intelligible Welt. In ihr bewegen sich die wirklichen Menschen zuerst nur so, als ob... Die geographische und gar die kosmologische und dann die mikrophysikalische Welt werden erst nach einer halben Ewigkeit hinzugefunden, weil sie gesucht wurden.
Dieses ist die Nacherzählung wirklicher Begebenheiten. Die Transzendentalphilosophie dagegen ist Reflexion, deren Bedingung ist Symbolisierung in einem Bild. Dieses Bild ist das Schema der Wissenschaftlehre.
Realhistorisch handelt es sich um einen systemischen kommunikativen Prozess. Es ist daher gerechtfertigt, ihn als einen immanenten Vorgang in einem identischen Ganzen darzustellen - in einem Ich.
Zu Anfang, nämlich vor aller Reflexion, ist es noch ganz unbestimmt. Denn Reflexion ist sein Anfang. Dieses Unbestimmte ist das, was bestimmt, und das, was es bestimmt. Der Fortgang des Bestimmens ist das sukzessive Hervorbringen einer Vorstellung aus einer andern Vorstellung, die eine ist nur möglich nach der anderen, die zweite setzt die erste voraus und ist durch sie bedingt.
Da es sich aber um logische Bestimmungen handelt, ist es gerechtfertigt, ihn ohne Dauer in der Zeit aufzufassen.
Wirkliche Vernunft - der Zielpunkt der Darstellung - besteht in und aus der Vernünftigkeit vernünftig Handeln-der. Es ist das Entwerfen von Zwecken in der realen Welt. Ihre Verwirklichung kann nur als Wechselwirkung vieler zweckhafter Handlungen geschehen - in einer Reihe vernünftiger Wesen.
Die Darstellung muss also an den Punkt gelangen, wo sich das Eine Ich als eine Gesellschaft erweist. Ist dieser Punkt erreicht, ist der besagte Kreis geschlossen. Die Wissenschaftslehre hat ihren Zweck erreicht, und sie macht Platz für die reellen Wissenschaften: Die Darstellung kann in die Zeit und mit ihr in den Raum übertreten.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Was taugt Fichte für die Gegenwart?
Es zieht sich durch die ganze Wissenschaftslehre bis hin zum Atheismusstreit eine doppelte Auffassung von Vernunft.
Immer wieder heißt es, wir machten die Vernunft selber. Und dann stellt sich das Selbermachen als das Auf- finden eines seinem Stoff nach schon Gegebenen dar.
Nach den Voraussetzungen der Wissenschaftslehre kann Vernunft nur aus den von den Ichen selber hervor- gebrachten Bildern stammen. Ein anderes Material kann sie nicht haben. Sie ist Bildung und nicht Abbildung.
Das Einschmuggeln einer irgendwie gearteten Vorherbestimmung widerspricht der Transzendentalphilosophie. Es ist ein dogmatischer Überrest, ein metaphysische Schlacke, die dem kritischen Blick entgangen war. Wer die Philosophie Fichtes für die Gegenwart brauchbar machen will, muss das kritische Geschäft an dieser Stelle neu beginnen.
29. 5. 15
Ich mache kein Hehl daraus: Ich betrachte Fichtes Wissenschaftslehre als aktuelle, praktisch gültige Philosophie für unsere Tage. Dass man sie dafür von zeitbedingten Schlacken reinigen muss, ist keine Frage.
Immer wieder heißt es, wir machten die Vernunft selber. Und dann stellt sich das Selbermachen als das Auf- finden eines seinem Stoff nach schon Gegebenen dar.
Nach den Voraussetzungen der Wissenschaftslehre kann Vernunft nur aus den von den Ichen selber hervor- gebrachten Bildern stammen. Ein anderes Material kann sie nicht haben. Sie ist Bildung und nicht Abbildung.
Das Einschmuggeln einer irgendwie gearteten Vorherbestimmung widerspricht der Transzendentalphilosophie. Es ist ein dogmatischer Überrest, ein metaphysische Schlacke, die dem kritischen Blick entgangen war. Wer die Philosophie Fichtes für die Gegenwart brauchbar machen will, muss das kritische Geschäft an dieser Stelle neu beginnen.
29. 5. 15
Ich mache kein Hehl daraus: Ich betrachte Fichtes Wissenschaftslehre als aktuelle, praktisch gültige Philosophie für unsere Tage. Dass man sie dafür von zeitbedingten Schlacken reinigen muss, ist keine Frage.
Aber
insbesondere muss man klarstellen, was man dazurechnen will und was
nicht. Ich sage es unverblümt, mich interessiert Philosophie nur als
Transzendentalphilosphie, und dazu gehört die Philosophie Fichtes nur
bis zum Jahreswechsel 1799/1800 (bis zu den Rückerinnerungen und nicht mehr in der Bestimmung des Menschen).
Die Zäsur geschah, als er sich unterm Zuspruch Jacobis entschloss, seinem Schwanken zwischen zwei Vernunft- begriffen - einem dogmatischen und einem kritischen - schließlich ein Ende zu setzen und energisch in die Rei- he der Dogmatiker einzuschwenken.
Man muss die
ursprüngliche Wissenschaftslehre nicht gegen Fichtes dogmatische Wendung
verteidigen. Die darf man umstandslos ignorieren.
Nicht ignorieren kann man den Umstand, dass Fichte seinen ursprünglichen Ansatz ja wegen des unverhofften Atheismusstreits nicht hat vollenden können. Er war, da werde ich mir mit der Zeit immer sicherer, kurz davor.
1. 6. 19
Meine Emendation der Wissenschaftslehre.
Der letzte Grund, auf den die Wissenschaftslehre in ihrem ersten, analytischen Teil stößt, ist das Noumenon des Wollens-überhaupt. Aus dieser Triebkraft allein ist der wirkliche Gang der Intelligenz zu erklären (=der zweite, synthetische Gang der Wissenschaftslehre).
Wollen ist aber stets Wollen von Etwas, wollen setzt einen Zweck, an dem es sich bestimmen kann. Dem Nou-menon des Wollens-überhaupt steht daher das Noumenon eines Zwecks-überhaupt gegenüber. Sowenig wie jenes ist er aber bestimmt; er ist bestimmbar, und dieses unendlich. Zweck-überhaupt ist die nicht erschöpfbare Idee des Absoluten, und der Gang der Intelligenz wäre ohne sie ohne Richtung und könnte eine Vernunft nie er-geben.
Fichte bastelt vorübergehend an dem Paradox eines irgendwie-doch-schon-bestimmten Absoluten. Daraus kann nichts werden. Da trifft ihn der Offene Brief Jacobis. Prompt geht er ihm auf den Leim und bekehrt sich zu einem re-alen Absoluten.* Ab da werden seine Darstellungen der Wissenschaftslehre zu dogmatisch konstruierender Me-taphysik.
Meine Verbesserung ist nur ein kleine, aber eine entscheidende. Das Noumenon des Absoluten ist eine Idee, und da es diejenige Idee ist, die alles Werten überhaupt erst möglich macht, ist es eine ästhetische Idee.
Dies zum einen.
Zum andern ist Vernunft in ihrer tätigen Form als Vernünftigkeit nicht die endliche Summe von soundsoviel individuellen Leistungen, sondern ein gegebener – vorgefundener – Zustand: das Verhältnis einer "Reihe ver-nünftiger Wesen" untereinander. Als ein solches ist es den individuellen Intelligenzen und ihren Erfahrungen 'apriori' vorausgesetzt als Bedingung ihrer Möglichkeit.
Mit andern Worten, Vernünftigkeit ist keine Privatsache, sondern das Verhältnis zwischen einem 'Ich' und einer 'Welt'.
Doch nicht alles, was mir vorkommt, berührt 'das Ich'. Es juckt die Nase, kribbelt im Fuß, denkt an den letzten Sommer. Das widerfährt mir persönlich, das Ich als das Prinzip meiner Vernünftigkeit wird davon nicht berührt. Der eine findet Charlie Chaplin komischer, der andere Buster Keaton. Einen fasziniert Michael Jackson, einen andern David Bowie: Das ist Sache des Geschmacks, und der urteilt einzeln und immer ad hoc. So ist es mit der Moralität. Ihre Ratschlüsse geschehen und gelten hic et nunc. Abstraktionen sind ihr nicht bloß fremd, sondern zuwider.
Das sind Sachen, die mich persönlich berühren – also nicht 'mein Ich'; die 'in der Welt' vorkommen, aber nur in meiner Welt und nicht in unserer Welt. Das eine geht die 'Reihe vernünftiger Wesen' was an, das andre nicht. (Recht ist eins; Moral ist ganz was anderes.)
Das ist meine zweite Emendation.
Beide hängen aber miteinander zusammen, nämlich in der regulativen Idee eines Absoluten; und in specie darin, dass es unbestimm- und nicht erschöpfbar ist
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*) – das zwar nicht bestimmt, aber vorgängig immer schon sich-selbst-bestimmend war.
24. 1. 16
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