Evidenz: Denkzwang und intellektuelles Gefühl.


Wenn sie auch wider den Methodenzwang in der Wissenschaft in den Ring gestiegen sind - dass sie vernünftig reden, nehmen sie doch in Anspruch; nämlich dass sie überprüfbare Gründe so mit einander verbinden, dass ein anderer ihnen die Beistimmung nicht versagen kann.

Ob 'es' Vernunft 'gibt', hat damit zwar 'zu tun', ist aber nicht dasselbe Thema. 

Wenn es nicht möglich wäre, geprüfte Gründe so zu einander zu stellen, dass die Schlüsse zwingend sind, gäbe es keine Wissenschaft. Dass es aber Wissenschaft gibt, ist ein histori-sches Faktum. 

Darüber gibt es keinen Streit, soweit es sich um materiale Wissenschaften handelt - solche, die in der Welt zur Anwendung kommt: Über die entscheidet die Praxis, vulgo Erfahrung. Deren Feld ist die große Industrie, und was sich bewährt und was nicht, entscheidet der Markt.

Nämlich wo es um handgreifliche Zwecke geht. Wo es dagegen um Sinnfragen geht, die ihren Platz in der bloßen Vorstellung haben, aber zugleich darüber befinden, was ich tun und lassen soll, herrscht angeblich Beliebigkeit: Anything goes. Im Bereich meines Privat-lebens mag das auch richtig sein. Aber ganz und gar für mich allein bin ich nur ganz selten mal, in meiner Alltagswelt stoße ich immer wieder auf andere, die anderer Meinung sind und mir gar das Recht auf meine Meinung streitig machen - weil es diese Meinung ist oder schon, weil es meine Meinung ist. 

Entweder, wir kämpfen es aus, was in aller Regel die Nachbarn in Mitleidenschaft zieht, oder wir vertragen uns, will sagen: Wir schließen einen Vertrag, doch das kann seinerseits die Andern behelligen. Der Sache nach und um des lieben Friedens Willen wäre es aber am besten, wir ließen die besseren Gründe entscheiden. 

Das ist im Prinzip auch nicht anders, als wenn ich selber geteilter Meinung bin und doch zu einem Urteil  kommen soll: Man muss deliberieren. Die Vernunft verfährt öffentlich nicht anders als privat - denn jedes vernünftige Individuum hat sie als öffentlich gegeben vorge-funden, ehe es selbst vernünftig wurde.

Verbürgt die Vernünftigkeit des Denkzwangs die Wahrheit des Urteils? Sie verbürgt die Ob-jektivität des Verfahrens. Es ist eine Objektivität auf Seiten des Subjekts. Sie verbürgt mir, dass der Andere auch nicht anders urteilen kann - und darüber wacht ein vernünftig verfass-tes Gemeinwesen. Anders hätte Vernunft keine zwingende Macht. Die hat sie aber auch nur, weil die Vernünftigen es so wollen.

25. 1. 2022

 

Transzendentaler Denkzwang

 

Ich kann eine Kneifzange nur ihrer Bestimmung gemäß gebrauchen, indem ich sie - ihrer Bestimmung gemäß gebrauche. 

Ich kann sie allerdings anders als ihrer Bestimmung nach gebrauchen; ins Wasser werfen, Briefe damit beschweren, einen Nagel in die Wand klopfen. Doch dann wird sie nicht den Dienst tun, für den sie bestimmt war - einen Draht durchkneifen, einen Nagel aus der Wand ziehen, ein Stück Holz abbrechen.

Die Bestimmung - das Noumenale - ist mit ihrer sinnlichen Gestalt - dem Phänomenalen - bereits synthetisiert, ihr Zweck ist nicht mehr 'gemeint', sondern in sie hineinkonstruiert. Er wird sich in ihrer sinnlichen Gestalt geltend machen.

Nicht anders ist es mit unseren Denkgesetzen. Ich kann mir vorstellen, was und wie ich will. Aber die Begriffe und die Schlussregeln so benutzen, dass sie dem Zweck dienen, für den sie erschaffen wurden, kann ich nur, indem ich sie so benutze, dass sie ihrem Zweck dienen. Das scheint nur darum mysteriös, weil es tautologisch ist und keinen Grund hat als sich selbst
.

29. 9. 18

 


Indiziert der Denkzwang ein 'An sich' der Vernunft?

  Sixt. Kapelle                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das eigentlich Mysterium, das Fichte immer wieder mal umschleicht, aber nie wirklich aufs Korn nimmt, ist das Faktum des 'Denkzwangs': Ich kann nicht anders denken als dass zwei mal zwei vier ist - ob ich nun mit Äpfeln rechne oder ein ausgefeiltes arithmetisches System habe. Es ist dieses Faktum, das seine Vernunft schwankend macht und den Gedanken, dass der Mensch seine Vernunft selber mache, an die Annahme verrät, dass die Vernuft 'da' war, bevor je ein Mensch gedacht hat. 

Ich kann mich freilich Wahnvorstellungen hingeben, und dann ist zwei mal zwei womöglich fünfunddreißig. Doch dann ist jede Art von Verkehr in einer 'Reihe vernünftiger Wesen' ab-geschnitten. Der ist allerdings die Nagelprobe auf die Vernünftigkeit meines Vorstellens, und wenn ich vernünftig bleiben will, dann geht's nur so. 

Mysteriös bleibt es. Man kann es sich vielleicht so erläutern, dass das Ensemble meiner Vor-stellungen zu einem System gefügt ist, das auf Prämissen ruht, die aufeinander gebaut sind; Bilder, die im Innern unbestimmt bleiben, aber nach außen hin Anderes ausschließen. In der Wissenschaftslehre ist das transzendental dargestellt, 'so, als ob' das allezeit und immer wieder aufs Neue geschähe; genauer gesagt, jenseits der Zeit.

Etwas, das in der Zeit geschieht, sich aber nicht in der Zeit darstellen lässt. Ein solches ist auch Gegenstand der Hirnphysiologie. Das Geschehen im Gehirn wird systemisch aufge-fasst, nicht kausal, wo eines auf das andere folgt. Das unterscheidet es vom diskursiven, logischen Denken; oder besser, das unterscheidet das logisch-diskursive Denken von ihm. Aber nicht nur dies. Der Hauptunterschied ist: Wenn auch die Hirnphysiologie in ihrer Be-trachtung systemisch verfährt, so betrachtet sie doch immer nur die Form der Verknüpfun-gen, die Form der Weitergabe, und womöglich die formalen Alterationen, die das Weiterge-gebene durch das Weitergeben erfährt. Nicht aber das, was weitergegeben wird. 

Wie ist es möglich, dass aus einer Vorstellung - die ja kein eingegrenzter Begriff, sondern ein unbestimmtes Bild ist - nur diese andere, aber nicht irgendeine beliebige Vorstellung folgen kann? Eben dadurch, dass die miteinander verkehrende 'Reihe vernünftiger Wesen' nicht in Vorstellungen miteinander verkehrt - die sich, weil sie nicht bestimmt eingegrenzt sind, nicht diskursiv verknüpfen lassen -, sondern sie zum Behuf der Weitergabe (und schon, um während des Sprechens nicht zu vergessen, was man sagen wollte) eben bestim-men muss: zu Begriffen, die sie begreifen können, und die mir erlauben, meine Vorstellun-gen zu behalten und zu einander zu ordnen.

Behalten und ordnen, das ist, unabhängig von dem jeweils Gemeinten (Vorgestellten), das, was der allgemeine Verkehr Aller miteinander auf jeden Fall ebenfalls besorgt, unabhängig von den verfolgten Zwecken im jeweiligen Augenblick. Erst das Ordnen macht das Behal-ten reell, denn was man nicht wiederfindet, hat man verloren. Aber das ordnen ist zugleich die Probe darauf, ob die in Begriffen aufbewahrten Vorstellungen zu einander passen oder nicht. 

Da kann man sich irren. Nämlich wenn man bei den Begriffen vorzüglich auf die Formseite absieht. Dann kann es passieren, dass sich Vorstellungen, die einander in Herkunft und Ab-sicht ganz fremd sind, doch ähnlich sehen. Und dass Vorstellungen, von denen eine auf der andern beruht oder die sogar einander bedingen, so aussehen, als hätten sie gar nichts mit-einander zu tun. Etwa könnte man Freiheit so definieren, dass sie mit Willen gar nichts zu tun hat, und Willen so, dass man ohne Freiheit wollen könnte (z. B. Schopenhauer).  

Am Anfang Freiheit - als Schluss das Absolute/Zweck der Zwecke! Kann man (sollte man nicht) jedes für sich definieren: als "Begriff"? Es sind aber Ideen, 'unbestimmbare Vorstel-lungen', die nur miteinander einen Sinn haben: wenn ich das Absolute - Zweck der Zwecke - nicht aus Freiheit wählen könnte, wenn es mir als ein Zuwählendes vorgegeben wäre, dann würde es ein Objektives; eines, das ich für mich verantwortlich machen kann; eines, um des-sentwillen ich meine Freiheit hintergehen kann. Aber dann wäre es nicht absolut, sondern bedingt.


*

Dem Denkzwang bin ich auch nicht näher gekommen.


irgendwann Ende 2016



Aber warum Anschauung ohne Begriff blind ist; warum nicht Begreifen der 'zweite Schritt' des Erkennens ist, sondern der 'erste' - die Anschauung - durch den 'zweiten' überhaupt erst wirklich wird; weshalb also Einbilden ohne Kritik so gut wie 'gar nicht stattgefunden hat' - das wird ein wenig deutlicher.

9. 5. 18



Inzwischen - September '18 - bin  ich dem Denkzwang nahegekommen, nämlich dem, was Fichte sich darunter vorstellt; und zwar, gewissemßen als Erleuchtung - vor der Philoso-phie: Es ist die (ästhetische) Anschauung der ewigen Wahrhheit, die der Vernunft als Quell zu Grunde liegt (und der sie womöglich als ihrem Ziel entgegenströmt?). [Da war ich wohl auf einem Holzweg. 2. 12. 21]

 

aus Das zweite Kapitel

Nicht eigentlich das Gefühl selbst, in dem er auch den Denkzwang unterbringen will, ist der problematische Begriff, sondern der Zustand: Der ist nämlich das als real gedachte Pendant zum begriffenen Ich. In jedem Fall geht es darum, Denkerfahrung und Sinnlichkeit in einander aufzulösen.

Das Ich der intellektuellen Anschauung ist bloßer Begriff: Noumenon. Als solches fühlt es nichts und hat keinen 'Zustand'. Es fühlt das lebendige Individuum, dessen Weg zur Vernunft die Wissenschaftslehre rekonstruieren will - aus der als unvermeidlich aufgefundenen Voraussetzung des sich-selbst-setzenden Ich. 


Wir bleiben stets im Reich der Vorstellung. Die Aufgabe ist nicht, den Denkzwang der Sinnlichkeit, sondern vielmehr die Sinnlichkeit dem Denkzwang zu assimilieren. Die Frage war doch: Wie kommt das Objekt in meine Vorstellung? Er hat sie lediglich umgekehrt: Wie komme ich zu der Annahme, dass meinen Vorstellungen Objek- te außer mir entsprechen? Materialiter ist das dasselbe. Und dieselbe Frage ist: Wie kann ich wissen, ob oder ob nicht? 

Da ist in der Erfahrung die Faktizität des Objekts; an ihm 'objektiviert' der Denkzwang das Gefühl; oder doch richtiger: übt das Gefühl einen Denkzwang aus. Bis hierher ist gar kein logisches Problem; ein solches entstand nur den dogmatischen Systemen, für die das Ich rezeptiv ist und Meldungen von den Dingen bloß entgegen- nimmt. In der Wissenschaftslehre ist die Einbildungskraft eo ipso produktiv, sie hält nach einem Objekt gewis- sermaßen Ausschau.

Umständlich wird es bloß, wo die Einbildungskraft mit ihren eigenen Erzeugnissen zu tun bekommt. Die sind alle Noumena. Einen Anhaltspunkt für ihre Realität lässt sich nicht auffinden, weil sie nicht real sind. Sie sollen aber gelten - oder als Spielzeug oder Abfall ausgemustert werden. Wir können das unterscheiden, und wir unter- scheiden klaren Verstand und Irrsinn. Wie ist das möglich?

Phänomenal haben wir als Anhaltspunkt lediglich die faktische Übereistimmung der meisten Individuen; die wirkliche 'Reihe vernünftiger Wesen'. Sie ist ein Hinweis, zum Beweis taugt sie nicht im mindesten: Die Mehrheit kann verrückt sein. Dass wir aber mit so vielen übereinstimmen, zeigt an, dass viele beim Einbilden ähnlich ver- fahren. Ihr Verfahren folgt einer Regel. Ist es so, dann kann ihr Einbilden nicht gegen die Regel verstoßen  -  jeden- falls nicht nach seiner eigenen Regel, sondern nur, indem ihm schwindelt. 

Wir haben es hier nicht nur mit den Erzeugnissen der Einbildungskraft zu tun, den Bildern, sondern mit ihrer Tätigkeit selbst, dem aktiven Einbilden, welches, indem es wirklich geschieht, ein Handeln, und als ein solches real ist. Insofern ist es nur bedingt frei, nämlich unter den einmal angenommenen Bedingungen. Die Bilder mögen so bunt und einander fremd sein, wie sie wollen - über ihre Brauchbarkeit entscheidet ihr Gebrauch.* Regelhaft ist aber das Verfahren beim Bilden.

Die Annahme eines Denkzwangs ist daher plausibel, und dass es manchen gibt, der aus der Reihe tanzt, ist nahezu unvermeidlich. Vernunft ist nur bedingt möglich - durch eine Wahl des freien Willens.

13. 2. 18

*) Der Denkzwang ist keine Garantie gegen den Irrtum. Vernunft gibt es nicht ohne Kritik.
 

 

Denknotwendig.

Ruth Rudolph, pixelio.de

Es kommt sonach dem Inhalte der Philosophie keine andere Realität zu, als die des nothwendigen Denkens, unter der Bedingung, dass man über den Grund der Erfahrung etwas denken wolle. Die Intelligenz lässt sich nur als thätig denken, und sie lässt sich nur als auf diese bestimmte Weise thätig denken, behauptet die Philoso- phie. 

Diese Realität ist ihr völlig hinreichend; denn es geht aus ihr hervor, dass es überhaupt keine andere gebe.
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Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre,
SW I, S. 449 



Nota. - Wer immer einen zweiten Schritt tun will, muss ihn an einen ersten Schritt anknüpfen. In der Wirklichkeit, und das ist nichts anderes als die Welt der Erfahrung, tun wir immer schon den soundsovielten Schritt, und selbst dem gegenständlichen Philosophen geht es nicht anders. Rechtfertigen kann der Vernünftige sich immer nur durch Verweis auf den eben vorangegangenen Schritt. Die Wissenschaftslehre, die den Grund unseres wirklichen Wis- sens freilegen will, geht diesen Weg konsequent zu Ende; bis zu dem Punkt, hinter den kein Schritt zurück führt: Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt.

Aus diesem aufgefundenen Grund rekonstruiert sie dann Schritt für Schritt die ganze Welt des wirklichen Wis- sens. Wenn ihr das gelingt, ist sie bewiesen. 

Und ist das Denken, das sie rekonstruiert hat, als notwendig erwiesen.
JE

 

 

 

 

Diskursivität und Unfreiheit.

veronikazanke              zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Begreifen heißt, ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mechanis-mus. Einen Akt der Freiheit begreifen wollen, ist also absolut widersprechend. Eben wenn sie es begreifen könnten, wäre es nicht Freiheit.
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J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,  SW IV,    S. 182


Nota I. - Das ist das ganze Reich des diskursiven Denkens. 'Da ist nicht Freiheit, sondern Mechanismus.' Sein abtrünniger Schüler Herbart, der von der (transzendentalen) Freiheit gar nichts hielt, sollte es samt und sonders als Metaphysik zusammen fassen: alles Denken, das 'eine Vorstellung an die andere knüpft'.  Daneben oder ihm gegenüber findet er im Denken dasjenige Vorstellen vor, bei dem die jeweilige Vorstellung 'notwendig vom Ge- fühl des Beifalls oder der Missbilligung begleitet' ist: die Ästhetik. Das umfasst alle Wertur-teile, die vom ('meta- physischen') Verstand aus gar nicht möglich wären.

Ethik ist nach dieser Auffassung eine Unterabteilung der Ästhetik: diejenige, die Werturteile über Willensakte fällt. Wohl hat der "Eleat" Herbart in seiner Metaphysik die radikalst mög-liche Gegenposition zur Transzendentalphilosophie eingenommen; aber mit seiner ästheti-schen Ethik hat er nachträglich der Wissenschaftslehre einen besseren Abschluss anerfun-den, als Fichte ihn selber fand.

Freiheit konnte Herbart als orthodoxer Lutheraner im ethischen Bereich schon gar nicht zugeben: "Vernunft kommt von vernehmen." (Etymologisch trifft das zu.) Für Fichte waren Sittlichkeit und Willensfreiheit Wech- selbegriffe. In diesem einen Punkt aber waren sie sich einig: Freiheit ist die Grenze des Begreifens. 
8. 5. 18

 
Nota II. -  Das diskursive Denken ist der Geltungsbereich der Denkgesetze. Natürlich sind wir nicht mehr frei, sobald wir uns dem geltenden System der bewährten Begriffe und der gesicherten Schlussregeln unterwerfen. Nur in seinem Rahmen können wir uns bewegen und nach seinen Vorschriften.

Ob wir aber vernünftig werden - oder richtiger: als wir zu Bewusstsein kamen, bleiben - wollten, stand uns frei (wobei man sich immer fragen mag, ob einer den Irrsinn frei wählen konnte)

Das heißt nicht zugleich, dass ich in meinem Vorstellen nicht mit einem freien Akt etwas neu anfangen kann. Ich würde es aber im Kreis der Reihe vernünftiger Wesen zur Anerken-nung bringen müssen. Erzwingen kann ich die Anerkennung nicht: Wenn es wirklich neu ist, lässt es sich aus geteilten Prämissen nicht deduzieren. Ich muss die Andern wo möglich verlocken. Lockstoff ist das Ästhetische
15. 12. 18
 
JE

 

 

 

 

Wahrheit im Denkzwang?

 
Aber bin ich gezwungen, die Dinge so zu denken?

Ich kann von ihnen abstrahieren oder ich kann sie auch anders denken, also findet kein Denkzwang statt. Aber dann stelle ich das Ding nicht der Wahrheit gemäß dar; aber soll meine Vorstellung dem Dinge gemäß sein, so findet Denkzwang statt. Aber was ist denn das für eine Wahrheit, an die meine Vorstellung gehalten werden soll?


Es ist die Frage nach der Realität, die wir der Vorstellung zu Grunde legen. Unser eigenes Sein in praktischer Hinsicht ist die Wahrheit, es ist das unmittelbar Bestimmte, wovon sich weiter kein Grund angeben lässt. Dieses unser eigenes Sein deuten wir durch ein Ding außer uns; dieses Ding außer uns ist seiner Wahrheit gemäß dargestellt, wenn es auf ein inneres Sein deutet. Aus einem Quantum Beschränktheit in mir folgt diese oder jene Beschränktheit außer mir.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97

 

Nota. -  Was ist Wahrheit? Unser eigenes Sein - und zwar in praktischer Hinsicht - ist die Wahrheit. In praktischer Hinsicht heißt: in Bestimmung zu... Wozu ist mein Sein praktisch bestimmt? Zu unendlichem Übergehen vom Unbestimmten zum Bestimmten; bestimmt zu unendlichem Bestimmen. Nicht meine Bestimmtheit ist mithin die Wahrheit meines Seins, sondern das Übergehen. Das dürfte nun wohl als Kernsatz der Wissenschaftslehre gelten - wenn nämlich einer so unklug wäre, sie lehren zu wollen.
 

In Hinblick auf das Gefühl - im folgenden Absatz kommt er darauf zurück - erhellt schonmal dies: Ein Denkzwang und das entprechende Gefühl, genötigt zu sein, stellt sich nur ein, wenn ich den Vorsatz gefasst habe, 'wahr' zu denken. Aber den kann ich nur aus Freiheit fassen. Ein 'Leiden', ein Gefühl des Gezwungenseins kommt nur vor unter Bedingung eines vorausgegangenen Akts der Freiheit.  

Das ist nun ganz etwas anderes als das sinnliche Fühlen, von dem zuvor stets die Rede war. Er wird an Stelle der Anschauung des einzelnen Gefühls bei diesem bestimmten Denkakt den gesamten Zustand des ganzen artikulierten Organismus ins Spiel bringen müssen. Die Scheidung von sinnlich und intelligibel ginge verloren; nicht aber die von real und ideal.
JE, 23. 10. 18
 
 
 

 

 
Das ist wieder das kitzliche Thema Denkgesetz. Es ist das verbleibende Myste-rium der Wissenschaftslehre, nämlich das Paradox der Freiheit. Freiheit ist das Vermögen, absolut anzufangen. Doch kaum hat das Denken angefangen, erweist es sich als in allerlei Gesetze verfangen. Das wäre nur so zu verstehen, dass jeder Schritt, den es wirklich tut, von nun an in Ewigkeit gültig ist und auch von der absolut freien Reflexion im Nachhinein nicht revidiert werden kann. Und so würde Schritt für Schritt ein Denkgesetz aus dem an-dern hevorgehen.

Doch immer wieder finden sich bei Fichte Stellen, aus denen herausklingt, dass der letzte Zweck der Vernunft der vernünftigen Tätigkeit vorgegeben sei. Dies Schwanken hat seine Wurzel in einer vorwissenschaftlichen romantischen Grundanschauung, die gar nicht in die Philosophie gehört, sondern in Fichtes Lebensbeschreibung. Wer sich heute der Wissen-schaftslehre zuwendet, lässt sie füglich außer Acht.

Damit ist das Schwanken behoben, nicht aber das Pardox: die fortschreitend sich fesselnde Freiheit - die aber doch eine unendliche bleiben soll.

Zurück auf Anfang: Die Wissenschaftslehre soll sein die Vollendung der Kant'schen Ver-nunftkritik; soll erhellen, wie, nämlich aus welchem Rechtsgrund Vernunft im 18. Jahrhun-dert* ihren Herrschaftsanspruch erhebt. Wie weit die Transzendentalphilosophie ihre Ab-straktionen auch immer treibt: Ihr Gegenstand ist die historische Realität. Was bei Fichte die 'Reihe vernünftiger Wesen' ist, ist in der Wirklichkeit das Modell der bürgerlichen Ge-sellschaft, in der die Gelehrten den öffentlich Ton angeben. In der Wissenschaftslehre er-scheint die Reihe vernünftiger Wesen an einer Stelle dem Ich vorgegeben, von ihnen geht die Aufforderung zur Selbstbestimmung alias Vernunft allererst aus. 

Was Vernunft in specie ist, nämlich nach welchen Regeln sie verfährt, finde ich als gegeben vor. Es ist (reell) eine lange Geschichte zweckmäßiger Wechselwirkungen. Vernünftig werde ich handeln, indem ich dieser pro- zessierenden Wechselwirkung beitrete, denn nur in der Welt der Reihe vernünftiger Wesen, der intelligiblen Welt, kann ich vernunftgemäß wirken. Vernunft ist selber keine Denkweise, sondern eine Weise des Handelns in der Welt.

Das Forstschreiten der Vernunft ist das Fortschreiten in der gemeinsamen Bestimmung des Unbestimmten, das Medium der Bestimmung ist der Zweckbegriff. Vernünftig ist eine Welt, in der die Zweckbegriffe fortschreitend vergemeinschaftet werden. Das geschieht reell nicht durch Deliberation, sondern praktisch durch gemeinsames Handeln. Allgemein geltend sind diejenigen Bestimmungen, die gemeinsames Handeln ermöglichen, und das ist eine Sache der Erfahrung und nicht (erst) der Reflexion. Erfahrung geschieht durch Widerstand; auch durch den Widerstand anderer vernünftiger Wesen.

Das gemeinsame Bestimmen der Zweckbegriffe ist zugleich die fortschreitende Selbstbe-stimmung der Reihe vernünftiger Wesen. Da die Bestimmung der Zwecke in der Welt ins Unendliche geht, tut es die Selbstbestimmung der Reihe vernünftiger Wesen desgleichen. Sie ist die treibende Kraft. Ihr Treibstoff ist die Reflexion, die frei und unendlich ist. Zum Wesen der Vernunft gehört Kritik.

*) eigentlich seit dem 17. Jahrhundert
 
24. 10. 18

 

 

Am Gelten sind Form und Qualität ununterscheidbar.

                                                                             

Die Vorstellung von einem Denkzwang, gar von Denkgesetzen ist die ärgste Kopfnuss der Transzendentalphilosophie: Also doch etwas, das elementarer wäre als die freie Tätigkeit des Ich?  

Ein jedes Objekt hat eine Form: dass es ist; und es hat eine Qualität: was es ist. Das Objekt ist, wie es ist. Dass es ist macht aus den Widerstand, den es meiner möglichen Tätigkeit ent-gegensetzt. Welchen Widerstand es leistet, hängt von der Art meiner Tätigkeit ab; auf Seiten des Objekts ist nur dass. Das Dass ist ein Abstraktum, es betrifft Jedes, das Was ist konkret, es betrifft nur Eines.

 
Die Gegebenheitsweise des Dinges ist Sein: dass es einer Tätigkeit widersteht. Die Gegeben-heitsweise seiner Bedeutung (seiner Qualität) ist Gelten: Es gilt als... was? Das Was ist ge-setzt durch die konkrete Tätigkeit, der es widersteht: dass es dieser Tätigkeit widersteht. Ich tue nie überhaupt, sondern tue immer dieses. Und dieses ist bestimmt durch den Zweck, den ich verfolge. Der macht das quale aus, und das liegt ganz bei mir. Quale ist das, als was das Ding gilt - mir bei dieser Tätigkeit.


Es ist daher nicht zu unterscheiden zwischen gelten-überhaupt und gelten-als-dieses. Wirk-lich ist Gelten nur konkret. Gelten-überhaupt ist ein Abstraktionsprodukt des reflektieren-den Verstandes, das den wirklichen Vorstellungen als bloße Hülle nachträglich übergestreift wird. Es ist nicht selber Denken, sondern Denken des Denkens. (Von realer und idealer Tä-tigkeit spricht Fichte.)

Denken ist das Zuschreiben von Geltungen. Wo Sein gedacht wird, gilt es als Sein. Es kann die Form nicht mit der Qualität in Widerspruch geraten, weil sie nicht unterschieden sind.

Wenn b aus a folgt und c folgt aus b, dann folgt c aus a. Man kann nicht anders denken. Es ist so, es lässt sich daran nichts erklären. Aber es lässt sich explizitieren. Der Denkzwang ge-schieht durch die Vorstellung des Folgens. Wenn ich sie so gebrauche - wenn sie so gilt -, muss ich sie beim nächstenmal ebenso gebrauchen, oder es gälte eine andere. Sie ist keine formale Bestimmung. Sie ist das Bild einer bestimmten Handlung: vom Tun eines Machers. Sie liegt der Vorstellung von logischer Notwendigkeit ebenso zugrunde wie der Vorstellung von Ursache und Wirkung, und die metaphysische Gleichsetzung der beiden hatte einen ge-netischen Grund.



Corollaria

Sein kann ich substantivieren, weil es tot ist. Es ist Objektität (unbestimmtes Dass) - unter der Bedingung einer Subjektität: der bestimmenden Tätigkeit eines Andern. In dem ist die Tätigkeit substantiviert. Das Wirkliche ist die Tätigkeit in ihrem zeitlichen Verlauf; die Sub-stantiva sind Zutaten der Reflexion. 

Zu einer Geltung kommt, worin sich der Zweck einer Tätigkeit vergegenständlicht. Zweck der Tätigkeit und Geltung des Gegenstands sind dasselbe; nämlich entgegengesetzte Sub-stantivierungen eines Tuns - eigentlich müsste ich schreiben: eines tuns -, das in seinem Ver-lauf eines ist; außerhalb der Zeit als Begriff sistiert, was wirklich nur in der Zeit geschieht. 

Das Qualifizierende ist die Tätigkeit, indem sie diesem - und nicht irgendeinen - Zweck gilt. Indem ich dem Gegenstand die Form meines Zwecks einbilde, bestimme ich ihn zu Diesem. Es gilt heißt daher: Ich bestimme. 


Welche tiefe semantische Fallgrube des Hilfsverb sein ist, wenn es zu dem Nomen das Sein substantiviert wird, hat sich herumgesprochen. Eine noch tiefere Fallgrube ist aber das Ver-bum tun, das, sobald es im Satz objektiviert werden soll, unweigerlich die nominale Form das Tun und die Tätigkeit annimmt, die glauben macht, es könne ein Tun geben, ohne dass ich tue. Ich will sagen: mein tun. Doch schreiben muss ich: mein Tun. Ich denke es sogar, obwohl ich es nicht meine.

Das Quale des Tuns ist der Zweck, dem es gilt; und daher der meines Gegenstands. 

 
Das muss alles erst noch durchgären, aber ich glaube, ich bin dem Denkzwang dicht auf den Fersen. Die Mystifikation geschieht durch die Vorliebe der Sprache für die Nominis, oder richtiger: ihre Aversion gegen tun. In den ersten Klassen sagten wir noch Tuwort. Später hieß es Tätigkeitswort.  

16. 1. 19 
 
 
 
 
 
Gelten und bedeuten, II.

                                                              

Tatsächlich liegt das Mysterium der Vernunft in der Urteilskraft. Im Urteil richte ich über die Gültigkeit der Gründe (Werte...); aber Grund des Urteils ist eben... die Gültigkeit. "Gel-tung" ist ein Paradox: 'Ich' stellt sich über die Geltung, macht sich zu ihrem Maßstab, indem es Geltungen vergleicht. Andererseits muss es die Geltungen als unabhängig von ihm den-ken: "Entweder gibt es gar keinen Wert, oder es gibt einen notwendigen Wert."*

Das Ich 'macht' sich seine Gründe selber, aber so, als ob sie absolut wären. Mit andern Worten, die "absolute" Geltung ist immer nur eine Behauptung


*) Fr. Schlegel, in Materialen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Ffm. 1977, S. 198


aus e. Notizbuch, 11. 7. 03



Ist das bloß paradox oder ist es absurd? Der allerletzte Rechtsgrund jeglicher Geltung ist ja gar kein Urteil, in dem Gründe erwogen und eine Wahl getroffen wird, sondern lediglich ein Gefühl - wenn auch das Gefühl der Gewissheit. Oder, mit andern Worten, das Gefühl eines Denkzwangs, das Gefühl, "gar nicht anders zu können". Doch so unwiderruflich es sich auch ankündigt - subjektiv bliebe es auch dann noch, wenn alle wirklichen Subjekte es fak-tisch teilen würden (wovon man bloß nicht wissen kann).

Das ist allerdings absurd, nämlich vom Standpunkt der in sich gegründeten Vernunft aus betrachtet: Es dreht sich im Kreis, doch was im Kreis "begriffen" liegen soll, liegt ganz im Dunkeln.

Der Standpunkt der in sich gegründeten Vernunft ist das, was Fichte als das gemeine Be-wusstsein bezeichnet und dessen Grund und Herkunft die Wissenschaftlehre darlegen soll. Grund und Herkunft der Vernunft setzt sie weder dogmatisch voraus, noch postuliert sie sie prophetisch, sondern sucht sie in den wirklichen Handlungen der Vernunft auf. Was sie gefunden hat, erwies sich als ein Akt der Freiheit, der als ein solcher 'im Dunkeln liegt' und nicht begriffen, sondern - sofern man es will - nur angeschaut werden kann. Und was sieht man? "Ja;  anders wäre es nicht möglich."

Wenn ich zuunterst den (bedingten) Denkzwang voraussetze, werde ich auch nach oben hinaus immer wieder auf den Denkzwang stoßen.

Warum? Die Wissenschaftslehre ist streng immanent und geht über ihre Prämissen nirgends hinaus.

2. 7. 18 


Auch in dem Punkt bin ich inzwischen etwas klüger. Richtig ist: Im Urteilen kommt sich der Mensch durchaus nicht so vor, als würde er aus freien Stücken unter vielen Möglichkeiten auswählen. Vielmehr hat er den Eindruck, als sei das Urteil höheren Orts schon längst ge-fällt gewesen und er selbst gebe es nur noch kund. Das ist der Denkzwang, dem jeder Ver-nünftige unterliegt. Und nur, wer ihn fühlt, ist ein Vernünftiger.

Dass die Urteilsgründe 'an sich' schon vorgelegen hätten, bevor er ans Urteilen überhaupt dachte, kann ihm nur vorläufig als Einsicht genügen. Denn es hätte doch irgendwie von ir-gendeinem Ersten Urteilenden so gefügt werden müssen! Die Idee von einer Urintelligenz, die alle überhaupt möglichen Urteil im Voraus schon gefällt hätte, ist so unanschaulich - wo und in welchen Medium?! -, dass der Vernünftige sie sich schnell aus dem Kopf schlägt und vorzieht, gar nichts Genaueres darüber wissen zu wollen. Das ist der Grund, warum die Ver-nunft seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Vokabular der Philosophen verschwunden ist.

Die Transzendentalphilosophie kann hier Abhilfe schaffen. Denn wenn sich das Ich als "sich-selbst vorausgesetzt" vorfindet, ist das oder derjenige, den er vorfindet, durchaus nicht er als die lebendige Intelligenz, die aktuell etwas vorstellt, sondern der abstrakte, raum- und zeitlose Vernünftige "in uns allen", als den er sich bei dieser Gelegenheit vor-stellt. Dass er sich zu den Vernünftigen zählt, setzt voraus, dass er die Vernüftigkeit der Gemeinschaft, zu der er gezählt werden will, für sich als bindend anerkannt hat. 

Es ist eine Voraussetzung, die nie gegeben ist, sondern immer wieder neu gemacht werden muss.

2. 11. 18  



Es hat keinen Sinn, von Geltung zu reden, als ob "es" sie "gäbe". Dieses oder Jenes gilt jetzt und für diesen einen oder jenen andern beabsichtigten Akt. Die Abstraktionen des reflektie-renden Verstandes sind nichts Wirkliches, sie haben nur ideale Bedeutung für den (unver-meidlichen) Fall, dass ich erneut 'ein Urteil fällen', oder besser: urteilen muss. 

So wie das Ich ("das Bewusstsein") sich als sich selbst vorausgesetzt auffassen muss, fasst es sich als einen Urteilenden 'sich vorausgesetzt' auf. Dieses bedeutet jenes. Urteilen ist bestim-men, und bestimmen ist der Charakter meiner Tätigkeit. Unterscheidungen trifft erst die von höherer Warte zusehende Reflexion. Etwas gilt immer nur actu.* Konservierte Geltung ist der Begriff, aber der ruht. Wenn ich das nächste Mal urteile, müsste - könnte - ich ihn akt ivieren. 
*) in dem, für den und durch den Akt
JE, 26. 1. 19
 
 
 
 
Intellektuelles Gefühl und Denkzwang

                                       zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik  

Der Begriff des intellektuellen Gefühls wirkt in der Wissenschaftslehre wie nachträglich eingefügt und nicht aus den vorangegangenen Prämissen - als notwendig eingesehenen Vorstellungen - entwickelt. 

In der sinnlichen Erfahrung sind es die Widerstände der Dinge, die die reale vorstellende Tätigkeit nötigen, einen Weg zu beschreiten und einen anderen nicht zulassen. Wenn die ideale, lediglich intellektuelle Tätigkeit an Punkte gelangt, an denen dieser Weg angezeigt, ein anderer aber verbaut ist, ist ein Analogon zu den realen Widerständen der Dinge zu ver-muten. Auf dem beobachteten Weg der Vorstellungen ist er jedoch nicht 'in Erscheinung getreten'. Er kann daher nicht wie die realen Widerstände in Raum und Zeit liegen. 

Soll aber das ideale Quantum der Einbildungskraft schlechterdings frei sein, kann der Grund für das Nichtkönnen der Vorstellung nur in ihr selber liegen. Die negative Notwen-digkeit ist dann eine ebenso bedingte, wie die positiven Notwendigkeiten der sinnlichen Er-fahrung. Es kann nur so sein, dass in der Kette der vorangegangenen Vorstellungen eine Bestimmung mit-gesetzt war, die von den darauf folgenden Vorstellungen nicht gelöscht werden kann. Wenn zum Beispiel in der wirklichen Vorstellung Raum und Zeit gesetzt waren, kann sie sie nicht nach Belieben nachträglich ungeschehen machen. 

Doch Raum und Zeit sind Charakter der sinnlichen Welt. Hier geht es aber um nicht mög-liche Bestimmungen in der intelligiblen Welt. Die liegt außerhalb von Raum und Zeit. Dass es keinen Punkt gibt, wo die negative Notwendigkeit - das Nichtdürfen - in Erscheinung tritt, liegt an der intelligiblen Welt selber.

Mit andern Worten: Aufgezeigt werden, nämlich so, dass er wie der Widerstand der Dinge im Gang der Vorstellung vorkommt, kann er nicht. Man kann einem, der widerspricht, nur zurufen: "Versuch's doch selbst, du wirst sehen: Es geht nicht." Doch wenn er zurückfragt "wieso nicht?" kann man ihm nichts antworten.

Genauer gesagt, bevor das System abgeschlossen ist, kann man nichts antworten. Danach kann man - muss man - antworten: Weil anders das System nicht stimmt. Es muss also das System nicht nur abgeschlossen, sondern als gültig anerkannt sein; wozu man keinen zwin-gen kann. 

Wie sagte doch einer? Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.

Man erinnere sich: Auch in der sinnlichen Erfahrung kommt der Widerstand der Dinge als solcher nicht vor: Auf ihn wird in der Anschauung lediglich aus dem Gefühl geschlossen. Dieser Schluss gilt freilich als natürlich: weil ihn Jeder macht, andernfalls könnte er sich in der Reihe vernünftiger Wesen nicht behaupten. Jenen andern Schluss macht nicht jeder, sondern nur, wer sich zu philosophieren entschlossen hat.

12. 12. 20

 
 


Das Vexierstück vom Denkzwang, kurz und bündig.

  M. C. Escher                         zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich denke reell, wenn ich mich gezwungen fühle. Dies kommt daher, weil ich mich be-stimmte.
_______________________________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 217 

 

Nota. - Beim Fortschreiten im Bestimmen der Welt und dessen, was in ihr vorkommt, und aller Gedanken, die in mir vorkamen, habe ich eo ipso mich  bestimmt.* Fortfahren im Be-stimmen kann ich immer nur von dem Standpunkt, auf dem ich angelangt war. Was mein Denken zwingt, ist nichts als die Bestimmungen, die ich an mir schon vorgenommen habe.

Kann ich dem Zwang nicht entkommen, kann ich die Bestimmungen nicht rückgängig ma-chen? 

Aber sicher; ich kann den Verstand verlieren. Ob ich danach nochmal von vorn anfangen kann, ist eine andere Frage; zumal das Ich in diesem Fall kein einzelnes ist, sondern das Genus der vernünftigen Wesen: Die müssten schon mitmachen.

*) [meinen Zustand]

JE, 1. 12. 21
 
 
 
 
 

Ein intelligibles Gefühl.

 

Diese Vorstellung vom inneren Wirken kommt im Bewusst/sein vor als etwas zwischen Gefühl und Gedanken schwebendes, man könnte es nennen ein intelligibles Gefühl. 

Wenn die Einbildungskraft sich selbst überlassen bleibt, so schweift sie herum, und es kostet innere Anstrengung, sie zu binden. Dieses Aktes, des Bindens, werde ich mir un-mittelbar bewusst, indem ich ihn vollziehe, und hierdurch lässt sich die intelligible Welt an die Welt der Erscheinungen anknüpfen; was in diesem Gefühle vorkommt, ist die erste innere Kraft, man könnte sie reine Kraft, Kraft auf sich selbst nennen; sie ist Wirkung des Vernunftwesens auf sich selbst.
____________________________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 126f. 


Nota I. - Ich kann meine Aufmerksamkeit richten - und das merke ich.
 8. 6. 15 

Nota II. - Ich habe mir andernorts viel Mühe gegeben, über das 'intellektuelle Gefühl' und den dazugehörigen Denkzwang etwas Begreifliches zu schreiben. Dass ich vorher längst etwas Anschauliches darüber geschrieben hatte, habe ich übersehen. Es ist aber zwingend: Dass ich meine Aufmerksamkeit aus der Zerstreuung unter die Mannigfaltigen zusammen-reiße und auf auf Dieses statt auf Jene richte, wäre nicht möglich, wenn ich es nicht bemerk-te - das muss mir jeder, der es je versucht hat, zugeben; es ist eine Evidenz, mit andern Wor-ten: ein intellektuelles Gefühl.

5. 2. 22

JE

 

 

 

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