Transzendentalphilosophie ist ihrem Ursprung nach Vernunftkritik: Bestandsaufnahme und Überprüfung der Vernunft, wie sie zu ihrer Zeit - der hohen Zeit der Aufklärung - vorlag. Das war sachlich die Physik Isaac Newtons, und deren ideelle Voraussetzungen galt es frei-zulegen und auf ihre Gründe hin zu untersuchen; nämlich das gegebene System der wissen-schaftlichen Begriffe und die bewährte Art ihrer wechselseitigen Verknüpfung. Zu prüfen war, ob das System so lückenlos begründet sei, dass es erlaubte, aus ihm selber gültige Schlussfolgerungen zu ziehen, die ihrerseits gelten durften, ohne durch eigene Erfahrungen legitimiert zu werden; alias ob und wieweit "synthetische Urteile a priori" möglich und statt-haft sind. Das war das Eingangprogramm von Kants Kritiken.
Kant selber war beim Aufzeigen des dem realen Verfahren der Vernunft zugrundeliegenden Apriori der zwölf Ktegorien und zwei Anschauungsformen stehengeblieben. Die radikale Kritik wollte auch sie auf ihre Voraussetzungen, nämlich auf ihre Berechtigung hin über-prüfen. Doch eine andere Legitimation als das Ich, das sich 'selbst setzt, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt', vermochte sie nicht aufzuweisen. Aus dieser letzten oder ersten Prämisse her musste es möglich sein, das gesamte vorliegende System der Vernunft zu rekonstruieren, wenn anders die Vernunft selber begründet sein sollte.
Das war das erweiterte Programm von Fichtes Wissenschaftslehre.
Um eine ganze Epoche zu früh.

Wieso hat Fichte mit dem Rekonstruieren der Vernunft aus ihrer aufgefundenen Anfangs-bedingung nicht schlussgemacht, als er mit der Herleitung des Rechtsbegriffes den Über-gang in die sinnliche Welt getan hatte, wo die historische Vernunft real und nicht bloß ideal wirkend war? Hat er nicht bemerkt, dass er sein Eingangsprogramm damit erfüllt hatte?
Kaum anzunehmen. Ich denke wohl, dass er es nicht bemerken wollte. Er wollte nicht, wie Kant beim Apriori, bei einem Gedanken haltmachen, er wollte nicht bloß den gesunden Menschenverstand freigesetzt haben, sich selber fortzubestimmen; sondern er wollte das reine Denksystem zu praktischen Konsequenzen fortführen - zu politischen und sittlichen.
Korrekt hätte er das tun müssen, indem er sich eine rationelle Geschichtsauffassung und eine... Kritik der Wirtschaftsweise erarbeitet
hätte. Doch dafür waren die bürgerlichen Ver-hältnisse - und im
kleinbürgerlich-bäuerlichen Deutschland schon gar - noch nicht genü-gend
entwickelt. Das Eindringen des Kapitals in die Produktion und die
Ausbildung einer bürgerlichen Staatsform standen erst noch bevor. Es
sollte eine ganze Generation brauchen, um mit der materialistischen
Geschichtsauffassung auch eine wissenschaftliche Kritik der Politischen
Ökonomie entstehen zu lassen.
Darauf konnte Fichte nicht warten - dann hättte er ja mit der Wissenschaftslehre gar nicht erst anzufangen brauchen! Für ihn wie für seine Jenaer Zeit- und Hausgenossen war
sie die gedankliche Entsprechung der Großen Revolution - die aber eben
im Begriff war, vom General Bonaparte zu Grabe getragen zu werden. Er
war um eine ganze Epoche zu früh dran. Die bürgerliche Produktionsweise
sollte erst die uneingeschränkt herrschende werden und die spekulative
Philosophie den positiven Wissenschaften Platz machen. Erst danach
konn-te das praktische kritische Gschäft neu begonnen werden. Die Transzendentalphilo-sophie wartet bis heute auf ihre Wiederherstellung.
27. 5. 20
Der große Bogen der Vernunftkritik.
translate
aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Fichte hat im Ersten Hauptstück seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre aus
dem Jahre 1796, das ich auf diesem Blog wiedergegeben habe, be-sagte
'Prinzipien' zusammengefasst. Nicht minutiös entwickelt wie in der Nova methodo, sondern
eher lehrhaft vorgetragen, aber so musste es sein. Es sollte der Leser
(wie zuvor seine Hörer) bis an den Punkt geführt werden, wo die
transzendentale - kritische und spe-kulative - Rekonstruktion aus notwendigen Vostellungen einhält und eine
positive wissen-schaftliche Deduktion aus Begriffen möglich wird.
Das gibt Anlass zu einer allgemeinen Betrachtung.
*
Vernunft
ist eine Tätigkeit und keine Sache. Sie erfordert einen Stoff, ein
Verfahren und eine Energie. Ihr Stoff sind die Begriffe, ihr Verfahren
sind die logischen Schlussregeln. Was ihre Energie ist, bleibt
einstweilen offen.
Die
Untersuchung der Vernunft in specie beginnt mit Kant. Sein erster
Gegenstand sind die Erfahrungsbegriffe. Es gibt darüber hinaus Begriffe
ohne sinnliches Substrat. Diese sind aus jenen abstrahiert; mit welchem
Recht?
Zuerst
ist da eine Flut sinnlicher Reize. Aus der greift wie mit Kellen die
Vernunft etliche heraus und fasst sie zu Begriffen zusammen. Die Kellen
identifiziert Kant als zwölf Kate-gorien und zwei Anschauungsformen.
Weiter geht er nicht.
Es
stellt sich erstens die Frage: Woher die Kellen? Und zweitens: Von
allein schöpfen sie nicht; es muss sie einer zur Hand nehmen. Und woher die Schlussregeln stammen, lässt Kant völlig unerörtert
Fichte
begann, wo Kant stehenblieb: Die Begriffe wurden von Menschen
geschaffen, in-dem sie Kellen betätigten. Wie sie zu betätigen sind,
wussten sie, weil sie sie selber herge-stellt hatten. Die Spur verfolgt
er und stößt ganz am Schluss auf das Ich, das sich selbst setzt, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt.
Die
Hypothese wäre zu verifizieren, indem der Schlusspunkt der Analyse zum
Ausgangs-punkt einer synthetischen Rekonstruktion genommen wird: Man
sieht dem aufgefundenen Ich Schritt für Schritt bei seiner Tätigkeit zu,
und wenn wir einen Weg finden, auf dem so die von uns eingangs
vorgefundene Vernunft lückenlos nachgebaut werden kann, so wird es der
sein, den die Vernunft wirklich gegangen ist.
Man
erkennt: Es ist die Geschichte ihrer Selbstschöpfung. Sie hat keine
andere Vorausset-zung als das Selbstsetzen eines Ichs. Daraus folgt alles
andere. Es folgte nicht aus Notwen-digkeit - unendliche viele Abwege
waren möglich (und werden faktisch auch gegangen wor-den und spurlos wieder verwachsen sein) -, sondern aus Freiheit, aber dass es folgte, war der faktische und logische Ausgangspunkt der Analyse, zu dem die Synthesis zurückgeführt hat.
Wir
finden in der Synthese, wie der Stoff entstanden und wie das Verfahren
selbst gesucht und gefunden wurde; wir müssen rückschließen, dass die
treibende Energie dieselbe war, aus der heraus das Ich sich überhaupt
erst gesetzt hat. Weil sie keine andere Bestimmung aufweist als diese, nennt Fichte sie den reinen Willen.
*
Kritisch verfährt die Wissenschaftslehre in ihrem von Kant eröffneten ersten, dem analy-tischen Teil. In ihrem konstruktiv-synthetischen zweiten Teil verfährt sie spekulativ. Doch
spekuliert sie nicht ins Blaue hinein, sondern auf ein festumrissenes
Ziel hin: unser wirklich gegebenes System der Vernunft aus Begriffen und
Schlussregeln, über dessen treibende En-ergie wir uns inzwischen auch
klargeworden sind.
An diesem Punkt - dass ein System von Begriffen entstanden ist und dass sich das Denken Regeln geschaffen hat - ist die Vernunftkritik vollendet und hat die Wissenschaftslehre ihre Arbeit getan.
Was jetzt noch folgen kann, sind die positiven Bestimmungen der Wissenschaften in con-creto. Von
den kritischen Grundsätzen, die die Wissenschaftslehre in ihrem
analytischen so-wohl als in ihrem synthetischen Teil entwickelt hat, wird
sie sich in ihrer Erkenntnis leiten lassen; aber ihr Gegenstand werden sie nun nicht mehr.
*
Der Begriff des Rechts ist nun gefasst, und es kann aus Begriffen fortargumentiert werden.
Meine Emendation der Wissenschaftslehre.
Der letzte Grund, auf den die Wissenschaftslehre in ihrem ersten, analytischen Teil stößt, ist das Noumenon des Wollens-überhaupt. Aus dieser Triebkraft allein ist der wirkliche Gang der Intelligenz zu erklären (=der zweite, synthetische Gang der Wissenschaftslehre).
Wollen ist aber stets Wollen von Etwas, wollen setzt einen Zweck, an dem es sich bestim-men kann. Dem Noumenon des Wollens-überhaupt steht daher das Noumenon eines Zwecks-überhaupt gegenüber. Sowenig wie jenes ist er aber bestimmt; er ist bestimmbar, und dieses unendlich. Zweck-überhaupt ist die nicht erschöpfbare Idee des Absoluten, und der Gang der Intelligenz wäre ohne sie ohne Richtung und könnte eine Vernunft nie erge-ben.
Fichte bastelt vorübergehend an dem Paradox eines irgendwie-doch-schon-bestimmten Ab-soluten. Daraus kann nichts werden. Da trifft ihn der Offene Brief Jacobis. Prompt geht er ihm auf den Leim und bekehrt sich zu einem realen Absoluten.* Ab da werden seine Dar-stellungen der Wissenschaftslehre zu dogmatisch konstruierender Metaphysik.
Meine Verbesserung ist nur ein kleine, aber eine entscheidende. Das Noumenon des Abso-luten ist eine Idee, und da es diejenige Idee ist, die allesWerten überhaupt erst möglich macht, ist es eine ästhetische Idee.
Dies zum einen.
Zum andern ist Vernunft in ihrer tätigen Form als Vernünftigkeitnicht die endliche Summe von soundsoviel individuellen Leistungen, sondern ein gegebener – vorgefundener – Zu-stand; das Verhältnis einer "Reihe ver-nünftiger Wesen" untereinander. Als ein solches ist es den individuellen Intelligenzen und ihren Erfahrungen 'a priori' vorausgesetzt als Bedin-gung ihrer Möglichkeit.
Mit andern Worten, Vernünftigkeit ist keine Privatsache, sondern das Verhältnis zwischen einem 'Ich' und einer 'Welt'.
Doch nicht alles, was mir vorkommt, berührt 'das Ich'. Es juckt die Nase, kribbelt im Fuß, denkt an den letzten Sommer. Das widerfährt mir persönlich, das Ich als das Prinzip meiner Vernünftigkeit wird davon nicht berührt. Der eine findet Charlie Chaplin komischer, der an-dere Buster Keaton. Einen fasziniert Michael Jackson, einen andern David Bowie: Das ist Sache des Geschmacks, und der urteilt einzeln und immer ad hoc. So ist es mit der Mora-lität. Ihre Ratschlüsse geschehen und gelten hic et nunc. Abstraktionen sind ihr nicht bloß fremd, sondern zuwider.
Das sind Sachen, die mich persönlich berühren – also nicht 'mein Ich'; die 'in der Welt' vorkommen, aber nur in meiner Welt und nicht in unserer Welt. Das eine geht die 'Reihe vernünftiger Wesen' was an, das andre nicht. (Recht ist eins; Moral ist ganz was anderes.)
Das ist meine zweite Emendation.
Beide hängen aber miteinander zusammen, nämlich in der regulativen Idee eines Absolu-ten; und in specie darin, dass es unbestimm- und nicht erschöpfbar ist.
*) – das zwar nicht bestimmt, aber vorgängig immer schon sich-selbst-bestimmend war.
Das Schema der Vernunft; oder Die Anthropologie der bürgerlichen Existenz.

Fichte will gar nicht
erklären, auf welchem Weg ein individuelles Ich zu seinem so oder an-ders
gearteten Bewusstsein kommt. Er will erklären, warum, wie und
inwiefern Vernunft in einer Gesellschaft, sei es als Realität, sei es als Postulat, zur Herrschaft kommt.
"Aufforderung" zur Vernünftigkeit ist deren Bedingung nicht
historisch und kausal, indem 1. das Ich sich setzt, 2. sich ein
Nichtich entgegensetzt, um sich 3. diesem entgegenzuset-zen, und dann
immer so weiter bis an den Punkt, wo dann die Aufforderung geschieht;
sondern logisch und systemisch: 1., 2., 3. und alle weiteren Schritte
fänden gar nicht erst statt, wenn die Aufforderung nicht erginge. –
Denn die Aufforderung ergeht nicht individuell von dir an mich. Die Aufforderung ergeht durch die Begegnung mit einer "Reihe vernünftiger Wesen", in die ich hineingeboren wur-de. Vernunft als herrschender Zustand ist
den individuellen Ichs vorausgesetzt. Sie muss nicht mehr entstehen
durch den verallgemeinernden Verkehr der sich verständigenden
In-dividuen, sondern ist als apriorische 'Systemeigenschaft' der
bürgerlichen Welt schon ge-geben. (Erst) das bürgerliche Individuum ist a priori Anteilnehmer einer Gesellschaft. Dar-aus folgt alles Weitere auf einen Schlag und lässt sich eo ipso nur als System, als zeitloses "Schema" darstellen.
Die
Wissenschaftslehre ist die Vollendung der Kant'schen Vernunftkritik.
Der geschicht-liche Bericht, wie es zu diesem herrschenden Zustand gekommen ist, fällt nicht in ihre Verantwortung, er ist eine Sache der historischen Realwissenschaften.
Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten
soll. Die Vorstellungswelt des Wahnsinnigen ist, welche Beiwörter man
ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die
Wissenschaftslehre entwirft nun ein Schema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas gedeutet werden kann, soll es vernünftig heißen.
Diese
Postulat ist jedoch nicht aus freier Laune erwachsen. Es ist
gewissermaßen 'aufge-funden'. Denn die Untersuchung nahm ihren Ausgang an
einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen
Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig
auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine
Voraussetzungen geprüft. Die aufge-fundene Erste Voraussetzung, ohne die
alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich
ein(em) Nichtich entgegensetzt'.
Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Be-wusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde lie-gen ;soll – sofern es vernünftig wurde.
In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was geschehen soll, nicht als historischen Vorgang, sondern als System dar: doch im System ist die Zeit un-tergegangen. Das System kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das System ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.
"Aber
das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit
im eigentlichen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden,
es muss betrachtet werden als et-was notwendig Denkbares, als etwas
Ideales."*
Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch.
Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt
auf den anderen folgen, und die Schritte sind im diskursiven Verfahren
als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begriffe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.
Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie,
aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund
und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es
aber nicht alswirklich stattgefunden vorausgesetzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht erklären. Alles,
was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System
irgendwo wieder vor-kommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am
selben Ort* und nicht unterm selben
Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar
nichts entspricht, gehören nicht in die Transzen-dentalphilosophie.
*
Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Men-schen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.
*) WL nova methodo, S. 23
**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Darstellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veranschaulichen kann.
Die Wissenschaftslehre ist die ganze Philosophie.
Ob die Philosophie ein Fach ist,
mag ich gar nicht entscheiden. Das finge an mit einem Pfennigfuchsen
darüber, was man alles dazu zählen will und was nicht, und da bisse sich
die Katze in den Schwanz. In zweieinhalb Jahrtausenden hat sich in
Europa – anderswo nicht – eine Tradition der kritischen Reflexion auf
das, WAS wir wissen, und darauf, WIE wir wis-sen,
ausgebildet. Da haben sich Einsichten angesammelt – selbst wenn man’s
bloß kritisch nimmt –, die nur vielleicht liebenswerte, aber dummfreche
Rotznasen ignorieren können, wenn sie sich denn diesen Dingen zuwenden
wollen.
Daraus sind an den Universitäten Fakultäten und
'Fachbereiche' hervorgegangen. Dass es ein 'Fach' ist, behaupten sie
gern, um das Monopol zu wahren, das sie seit 150 Jahren dar-über haben.
Als nichtakademischer Privatmann kann ich das eigentlich nicht gutheißen.
Ich
verteidige also nicht die Selbstständigkeit 'der Philosophie'. Ich
verteidige die Einzigkeit der Wissenschaftslehre (in meiner Emendation,
versteht sich). Sie ist der harte Kern, der Prüfstein, die Kritik des Wissens, soweit es mehr sein soll als die Sammlung verwertbarer Fakten.
Das
Sammeln verwertbarer Fakten dient dazu, das Leben einfacher, bequemer,
befriedi-gender zu führen. Was immer über solche Fragen hinausgeht, läuft
früher oder später auf die Eine Frage zu, wohin und wozu man sein Leben führen will. Das nennt man herkömm-lich Praktische Philosophie.
Um die Wörter geht es ja nicht, Philosophie ist kein eingetra-genes
Warenzeichen. Es geht darum, dass sie nicht wirklich wissenschaftlich,
nämlich nicht wirklich kritisch sein können: denn sie wollen – und müssen, wenn sie was taugen sollen – positiv werden und Zwecke behaupten; wenn Sie so wollen, im weitesten Sinn 'politisch'. Das ist nicht Wissenschaft, sondern Meinungs-Kampf.
Gottseidank gibt es die Kritik und
die Wissenschaftslehre als den Fels, auf dem sie baut! So haben die
mannig-faltigen Meinungen immerhin etwas Gewisses, woran sie sich halten
kön-nen; wenn schon nicht positiv, so doch negativ: was alles nicht geht.
Der springende Punkt ist aber: Die Wissenschaftslehre ist nicht der Bericht darüber, 'wie das Ich sich konstituiert',
'wie das Bewusstsein zustande kommt' und 'welches meine Pflichten
sind'. Sie ist ein abstraktes Modell jenseits von Raum und Zeit – Schema, sagt
Fichte immer wieder; "ohne alle Erfahrung" – von einem Bewusstsein, das
vernünftig verfährt. Die Wissenschaftslehre ist das Schema der Vernünftigkeit.
*
Ist
es also "rein formal"? "Bloße Methode"? – In der Wissenschaftslehre
geht sowas gar nicht. Denkbar wäre es nur, wenn das Materiale – der Stoff oder die autarken Bedeutungs-partikel – vorgegeben wäre und das Verfahren sich ganz auf deren Verknüpfung beschrän-ken könnte. ( So etwas hat Hegel an Schellings dialektischer Triade bemängelt: Das ginge
klipp-klapp und ohne Inhalt; während bei ihm der Inhalt des Begriffs
seine Bewegung voraus bestimmte...)
Mit andern Worten, wenn als Material der Begriff vorausgesetzt wird. Aber der Begriff ist ein Derivat. Ursprünglich war er Vorstellung, und die ist eine Abstraktion von der Tätigkeit 'vorstellen'. Eine Vorstellung 'gibt es', wenn und sofern einer sich etwas vorstellt; sonst nicht. Als Begriff ist sie aus der Tätigkeit herausgerissen und zu einem Dauernden mumi-fiziert.
Gegenstand
der Wissenschaftslehre ist aber der Gang des Vorstellens selbst. Es ist
der Gang vom Bestimmbaren, weil Unbestimmten oder wenig Bestimmten, zum
Bestimmteren. Das ist offenbar keine bloß formale Bestimmung. Das
Bedeutungsfeld wird von Schritt zu Schritt enger, aber dichter. Es ist
nicht Kombination, sondern Qualifizierung. Das Verfah-ren ist der
Gehalt, aktual. Für andere darstellen, nämlich so, dass sie's nur
nachlesen müss-ten, lässt es sich nicht. Man muss schon das Vorstellen selber betreiben, um seiner gewärtig zu werden.
*
Ein pragmatischer Vernunftbegriff.

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts – seit dem Ende des 30jährigen Krieges – waren sich, außer den Theologen jeder Konfession, alle einig, dass Vernunft es war, die von nun an zu herr-schen hätte. In den philosophischen und juristischen Traktaten der folgenden anderthalb Jahrhunderte dürfte kein Begriff öfter vorgekommen sein. Merkwürdig nur: Zum Thema wurde Vernunft nie. Was sie sei, woher sie kommt, wodurch wir von ihr wissen, wurde nicht gefragt. Sie offenbarte sich, indem man sich ihrer befleißigte.
Denn wie sie zu verfahren hätte, lag inzwischen auf der Hand, nämlich nach dem Vorbild der Mathematik. Diesen galileischen Grundgedanken hatte Descartes in seinem Discours de la méthode kanonisiert Clare et distincte definierte Begriffe werden verknüpft nach den seit Aristoteles nicht wesentlich erweiterten Regeln der formalen Logik und ergeben Schlüsse von der Evidenz der Demonstrationen der Geometer. Vernünftigkeit war zuerst einmal eine Methode.
Descartes hatte ursprünglich kritisch argumentiert, gegen die Mannigfaltigkeit und Unent-scheidbarkeit der rivalisierenden Meinungen: Geprüft werden sollten nicht erst die fertigen Resultate, sondern bereits die Wege des Denkens. Aber die dogmatische Falle lag schon im kritischen Grundprinzip verborgen. Indem das mathematische Modell zum Einheitsprinzip von denkender Seele und ausgedehnter Materie bestimmt wird, werden Natur und Geist in Parallele gesetzt: La Raison besteht in der Identifikation von realer Ursache – raison – mit dem logischen Grund: raison. Natur und Vernunft erklärten einander, die Begriffe vermit-telten, das Verfahren füllte sich mit Stoff. Daraus entstanden die großen metaphysischen Systeme mit den beiden Polen Leibniz und Spinoza und manchem Malebranche dazwi-schen. Statt der Methode trat der Gehalt in den Vordergrund. Aus Vernunft wurde Ratio-nalismus, aus kritischem Verfahren wurde ein Fetischismus der Begriffe.
*
Ihm galt Kants Versuch einer Vernunftkritik. Anstoß gab der Streit um den Kausalitäts-begriff, in dem empirische Ursachen und logische Gründe zusammenfallen. Begriffe, die nicht auf Erfahrung beruhen, sind leer, doch ohne Begriffe ist die Anschauung blind. Er-fahrung beruht auf den Anschauungsformen Raum und Zeit und den zwölf kategorialen Begriffsfamilien als Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie, woher, wodurch wir zu ihnen gelangt sind, ließ er offen; um, wie spitze Zungen meinen, Platz für den Glauben zu schaffen (moch-ten sie doch vom Himmel gefallen sein). Das Apriori wurde zur Zuflucht aller gewendeten Dogmatiker, die hier ein Asyl für das vertriebene Ding-an-sich gefunden hatten. Das war eine Halbheit, die Vernunftkritik drohte an den Orthodoxen Kantianern zu scheitern, dabei konnte es nicht bleiben.
Die Halbheit zu ergänzen war Zweck der Wissenschaftslehre: die Rückführung der Begriffe hinter die Grenzlinie des Apriori zurück auf die Tätigkeit des intellegierenden Subjekts, und das hieß: die Rückführung der festgestellten Begriffe auf die ihnen zu Grunde liegenden dy-namischen Vorstellungen. Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das Vorstellen selbst und nicht erst seine mannigfaltigen Produkte. Das Grundmodell: Die lebendige Intelligenz steht vor einem unendlichen Reich des Bestimmbaren – und gehört selber dazu, denn indem sie ihr jeweils Anderes bestimmt, bestimmt sie sich selber mit. Dabei kommt sie freilich nie zu einem Ende, weder bei der Bestimmung der Welt noch bei der Bestimmung ihrer selbst. Denn so weit der Weg auch sei, den sie beim Bestimmen schon zurückgelegt hat, so bleibt das Feld vor ihr doch so weit wie je: unendlich.
Vernünftig ist nun eine Intelligenz, die diesen Gang nimmt; nicht seine einzelnen Stufen, sondern das Vorgehen selber: ein stetiges Fortschreiten vom relativ Unbestimmten zum Bestimmteren. Es ist als solches ein unentwegtes Urteilen, doch nicht die Urteile machen die Vernünftigkeit aus, sondern der Urteilende: Wenn ich einen vernünftigen Tutor habe, dem ich vertraue, und übernehme seine Urteile, dann mögen die Urteile vernünftig sein, aber ich bin es nicht – weil sie nicht meine sind. Vernünftigkeit ist hier wieder ein Verfah-ren, aber es ist nicht formal vorbestimmt einerseits als 'Methode' und nicht andererseits material vorgegeben durch monadische 'Begriffe', sondern entwickelt selber seine Vorstel-lungen aus/einander. Es ist selber formal und material in Einem.
*
Wenn aber Vernunft in einem tätigen Verständnis von ihrem Ursprung an vom Subjekt selbstgemacht ist – wie kann es sein, dass auf ihrem Boden, und darauf kam es an, Ver-ständigung möglich ist? In der Wirklichkeit sind die Subjekte keine unendlich bestimmbaren Iche, sondern sehr unterschiedliche, sehr endliche Individuen. Macht jedes seine Vernunft selber? Irgendwie muss sie ihrem je individuellen Tätigwerden doch schon vorausgesetzt sein, wie anders könnte sie sonst zum allgemeinen Medium taugen?
Das ist der Widerspruch der Wissenschaftslehre. Er manifestiert sich darin, dass Fichte von Anbeginn schwankt zwischen einem kritisch pragmatischen und einem dogmatisch substan-ziellen Vernunftbegriff.
Dabei hält er den Schlüssel schon in der Hand."Dieser Begriff der Selbstheit der Person ist nicht möglich ohne Begriff von einer Vernunft außer uns; dieser Begriff wird also auch kon-struiert durch Herausgreifen aus einer höheren, weiteren Sphäre. Die erste Vorstellung, die ich haben kann, ist sie Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen."*
Schlechthin-tätig ist das Ich 'an sich', dazu bedarf es keiner Aufforderung. Zum Bestimmen muss es aufgefordert werden – vom Unbestimmten zum Bestimmten fortzuschreiten. Be-stimmen heißt einer Sache einen Zweck zurechnen. "Der Zweck wird uns in der Aufforde-rung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären. ... Doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, et-was, woraus wir wählen können. ... Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen." **
Der Zweckbegriff ist die Grundform des Begriffs: Begreifen heißt die Sache einem Zweck zuordnen. Die Tätigkeiten der Subjekte durch Begriffe regulieren heißt Zwecke miteinander vereinbaren. So geschah es schon, als das Ich in die Welt trat, wo es eine 'Reihe vernünftiger Wesen' bereits vorfand; sie ist das unbegreifliche höhere Wesen. Die Aufforderung erging in dem Moment, als das Ich in die Reihe eintrat und sich damit zum Individuum bestimmte. Seine Teilhabe an der Vernünftigkeit ist von Anfang an vermittelt durch die der Andern. Sie ist selber Vermittlung. 'Vernunft' nennen wir einen Zustand, in dem das Handeln Aller ver-nünftig ist. Vernunft als Zustand ist keine Sache, sondern ein tätiges Verhältnis – die Ver-kehrsweise einer 'Reihe vernünftiger Wesen'; ist nicht bestimmt, sondern allezeit sich-selbst-bestimmend.
Aufgekommen ist sie gegen Mitte des 17. Jahrhunderts.
*) Nova Methodo, S. 177
**) ebd., S. 178
Heroischer Nihilismus.

Nein, es war nicht der Vorwurf des Atheismus, der Fichte ins Bockshorn gejagt hat; den hatte er souverän und reinen Gewissens von sich gewiesen. Es war vielmehr Jacobis Ein-wand, dass die Wissenschaftslehre in Absicht der Lebensführung nur einen Nihilismus zeitigen könnte. Wenn die Philosophie in ihrer vernünftigsten Form – und als diese er-kannte er die Wissenschaftslehre – zu dieser Konsequenz führe, dann sei die Philosophie – jedenfalls in ihrer vernünftigsten Form zu verwerfen. Dem wusste Fichte nichts entgegen zu setzen, und er fing zu schlingern an.
Jacobi hatte Recht, aber mir macht er nicht bange. Wenn der Nihilismus ein heroisch-ästhetischer ist, sei er mir willkommen. Das Wahre ist an sich schön, es ist nicht darauf angewiesen, sich irgendwem nützlich zu machen.
Nota.- Die obigen Fotos gehören mir nicht. Wenn nicht anders angezeigt, habe ich sie im Internet gefunden. Sollten Sie einer der Eigentümer sein und deren Verwendung sn dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Mitteilung auf diesem Blog. JE
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