Berichtigung von Fichtes Moralphilosophie.

 
Jene Stimme in meinem Innern, der ich glaube, und um deren willen ich alles Andere glau-be, was ich glaube, gebietet mir nicht überhaupt nur zu thun. Dieses ist unmöglich; alle die-se allgemeinen Sätze werden nur durch meine willkürliche Aufmerksamkeit und Nachden-ken über mehrere Thatsachen gebildet, drücken aber nie selbst eine Thatsache aus. Sie, diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder besonderen Lage meines Daseyns, was ich bestimmt in dieser Lage zu thun, was ich in ihr zu meiden habe: sie begleitet mich, wenn ich nur aufmerksam auf sie höre, durch alle Begebenheiten meines Lebens, und sie versagt mir nie ihre Belohnung, wo ich zu handeln habe. Sie begründet unmittelbar Ueber-zeugung, und reisst unwiderstehlich meinen Beifall hin: es ist mir unmöglich, gegen sie zu streiten.

Auf sie zu hören, ihr redlich und unbefangen ohne Furcht und Klügelei zu gehorchen, dies ist meine einzige Bestimmung,  / dies der ganze Zweck meines Daseyns. – Mein Leben hört auf ein leeres Spiel ohne Wahrheit und Bedeutung zu seyn. Es soll schlechthin etwas gesche-hen, weil es nun einmal geschehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben von mir, von mir, der ich in diese Lage komme, fordert; dass es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Verstand; um es zu vollbringen, Kraft.
 

Durch diese Gebote des Gewissens allein kommt Wahrheit und Realität in meine Vorstel-lungen. Ich kann jenen die Aufmerksamkeit und den Gehorsam nicht verweigern, ohne meine Bestimmung aufzugeben.

Ich kann daher der Realität, die sie herbeiführen, den Glauben nicht versagen, ohne gleich-falls meine Bestimmung zu verläugnen. Es ist schlechthin wahr, ohne weitere Prüfung und Begründung, es ist das erste Wahre, und der Grund aller anderen Wahrheit und Gewissheit, dass ich jener Stimme gehorchen soll: es wird mir sonach in dieser Denkweise alles wahr und gewiss, was durch die Möglichkeit eines solchen Gehorsams als wahr und gewiss vor-ausgesetzt wird.
 

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J. G. Fichte, 
Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 258f.


Nota I. - ... Da ist erstens das Gewissen, das immer nur dieses oder das gebietet, und immer jetzt. Allgemeine Sätze werden daraus allenfalls von der Reflexion abstrahiert, aber sie ha-ben keine Realität. Mit andern Worten, Begriffe finden in der Moralität keinen Platz. -  ...
29. 4. 14

Nota  II. - So habe ich damals meinen Kommentar eingeleitet, der sich weniger auf die 'Stelle' bezieht als auf den logischen Zusammenhang, in dem sie in der Bestimmung des Menschen steht und der den Bruch formuliert, den Fichte mit der Transzendentalphilo-sophie vorgenommen hat. 

Doch nehmen wir die Stelle so wie sie ist beim Wort. Immerhin hat er seinen ethischen Grundgedanken, den Novalis meisterlich paraphrasiert hat, nirgendwo so pointiert ausge-sprochen wie hier. Und bis hier ist auch gar nichts einzuwenden. 

Doch schließt sich unabweislich die Frage an: Woher kommt die Stimme meines Gewis-sens?

Es ist das Thema, das er mit dem Aufsatz über unseren Glauben an eine göttliche Weltre-gierung aufgeworden und mit dem er den Atheismusstreit heraufbeschworen hat. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten. In der Stimme des Gewissens spricht entweder eine der Subjektität übergeordnete Norm, oder es spricht das Subjekt selbst. Und wäre es letzteres, früge sich, wie ein Ich, das sich als Vernunftwesen setzt, sie für sich als geltend erhören kann. Doch die übergeordnete Norm kann ein Denker, der von der Transzendentalphilo-sophie ausging, nicht annehmen; sie wäre ein Ansich und machte das ganze vorangestellte System hinfällig. 

So ist die Norm nach Fichte also kein Objektivum, sondern systemgerecht ein Subjektivum, ein Glauben; eine Fiktion, die aber will er uns als denknotwendig vorkonstruieren: ein be-dingter Zwang, wie er schon mehrfach vorkam: ein objektives Subjektivum. Das ist eine schwindelerregend wacklige Konstruktion, und sie dient Fichte auch lediglich dazu, sich zum Glauben an ein Reales Absolutes zu bekehren (und Jacobis Kritik abzuwehren).

Weniger weit hergeholt und ganz in der Logik der Transzendentalphilosophie, aber auch ge-radezu auf dem Weg gelegen, den Fichte selbst mit dem letzten Vortrag der Nova methodo eingeschlagen hatte, wäre der Weg über das Ästhetische, der allein Transzendentalphilosohie reell möglich macht: Die gewöhnliche, "gemeine" Vernunft betrachtet die Welt und kann nicht anders als gegeben. Dem ästhetischen Sinn erscheint sie als gemacht. Indem sich der Philosoph von der gemeinen zur ästhetischen Ansicht erhebt und von dort das Ganze neu überblickt, wird Transzendentalphilosophie überhaupt erst möglich.



Durch die ganze Wissenschaftslehre klingt immer wieder an, dass Fichte nicht einfach das Sittengesetz (Handle aus Freiheit) im allgemeinen, sondern im besondern Moralität für den auszeichnenden Charakter der Vernunft hält. Wo er aus dem reinen Wollen das Gefühl des Sollens werden lässt, ist der moralisierende Unterton nicht zu überhören. Doch scheint er umgekehrt Vernunft als die andere Ansicht der Sittlichkeit anzusehen. 

Warum auch nicht? 

Weil er als den obersten Zweck der Vernunft Übereinstimmung annimmt. Das hat aber nur Sinn, wenn er Moralität von der Vernunft ausnimmt. Übereinstimmung ist Zweck der Ver-nunft, soweit es das Zusammenwirken der 'Reihe vernünftiger Wesen' angeht. Die können außerhalb ihres Zusammenwirkens gar nicht - etwa jeder für sich - 'vernünftig' sein. Ihre Vernünftigkeit besteht im Bestimmen gemeinsamer Zwecke und allem, was dazu nötig ist. Unterm Bestimmen gemeinsamer Zwecke verstehen wir im Allgemeinen Politik und im Besondern Recht; da müssen sie nicht übereinstimmen, aber Übereinstimmung wollen. 

Nun hat uns keiner nachdrücklicher belehrt als Fichte, dass Moralität und Recht zwei grundverschiedene Bereiche sind. Moralität ist nicht Übereinstimmung des einen mit dem andern, sondern eines jeden mit sich, aber die geht ihn allein an, und nur die hat er zu wol-len. Etwas anderes wollen ist nicht moralisch.

Moralität ist kein Gesetz, Moralität ist nicht vorbestimmt, und Moralität ist nicht der ver-borgene Kern der Vernunft.

*

Moralität ist so aktual wie Vernünftigkeit. Sie bestimmen sich selbst im Moment des Akts. Das wäre transzendentalphilosophisch gedacht, aber das sei, wie Jacobi meinte, nihilistisch. Das mochte Fichte nicht auf sich sitzen lassen. Er wollte eine positiv bestimmte Vernunft durch eine positiv bestimmte Moral - den "Glauben an eine göttliche Weltregierung".

Schwebt die Vernunft in der Luft? 

Transzendentalphilosophie geht aus vom historischen Faktum, dass Vernunft ist. Da sie ist, war sie möglich. Vernunftkritik heißt die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufsuchen. Nicht zu ihrer Aufgabe gehört, zu erklären, warum es so ist. Das wäre nicht Kritik, sondern dog-matische Setzung. Sie hörte auf, Transzendentalphilosophie zu sein, und würde konstruie-rende Metaphysik. Mit der hat aber Kant ein für allemal Schluss gemacht.

Die eventuelle Suche nach dem Stoff, aus dem die Vernunft gemacht ist, wäre, da Metaphy-sik nicht mehr in Frage kommt, Gegenstand einer reellen historischen und empirischen Dis-ziplin: der Anthroplogie. Die darf Hypothesen entwerfen, weil sie sie der faktischen Über-prüfung unterzieht. 

Ich resümiere: Vernunft wurde notwendig, als die Vorfahren der Menschen ihre naturgege-bene Umwelt im ostafrikanischen Graben verlassen haben und damit ihren genetisch über-kommenen Bedeutungsrahmen. Bedeutungen sind keine Informationen, sondern Qualia. Die werden nicht gemessen und gezählt, sondern gewertet. Es ist im Lauf der Jahrmillionen unter den Menschen ein wertendes Vermögen entstanden, und wieder ist es nicht Sache der Wissenschaft, zu begründen, warum es so kommen musste, sondern die Bedingungen der Möglichkeit aufzusuchen. 

Stoff der Vernunft ist das Vermögen, Eigenschaften zu finden und zu erfinden, die als sol-che begrüßt oder abgelehnt werden. 

*

Das ist das ästhetische Vermögen und, sofern es auf Willensbestimmungen bezogen wird, das Vermögen der Moralität. Sie sind nicht Erzeugnisse der Vernunft, sondern liegen ihr voraus. Geschmacksurteile wie die Sätze des Gewissens fallen ohne vorausgehende Delibe-ration.
 
4. 9. 18


Und dies zum Abschluss:

                                    aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Um uns selbst zu finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andre, und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigentlich ist. Diese Aufgabe erscheint nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung jedesmal, in wiefern ein Sittengesetz an uns ergeht. Aber in dieser Aufforderung liegt zugleich, da wir praktische Wesen sind, zu einem be-stimmten Handeln Aufforderung.

Dies ist für jedes Individuum auf besondere Weise gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und hat sein ganz besonderes. Aber die Weise, wie das Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto aufstellen. So eine Untersuchung wird von einem hohen Gesichts-punkte* aus angestellt, auf welchem die Individualität verschwindet und bloß auf das Allge-meine gesehen wird. Ich muss handeln, mein Gewissen ist mein Gewissen. In sofern ist die Sittenlehre individuell.

*) hoher Gesichtspunkt = hohe Abstraktionsebene
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 241.

 

Nota. - Obige Stelle stammt aus dem Vortrag Einteilung der Wissenschaftslehre, mit dem Fichte Anfang 1799 die Wisssenschaftslehre nova methodo abgeschlossen hat, und ist also jünger als das System der Sittenlehre, das bereits zu Ostern 1798 im Druck erschienen war. Man wird sie daher als eine Richtigstellung lesen müssen. 

Dass Fichte wenig später von der Transzendentalphilosophie ganz abgekommen ist, steht auf einem anderen Blatt.

JE

 

 

 

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