Mittwoch, 4. Dezember 2019

War irgendwas dran am Feminismus?

                                                                                aus männlich

Es war ja was dran an den diversen Frauenemanzipationsbewgungen der letzten zweihundert Jahre, aber nicht immer das, was sie selber meinten - und schon gar nicht, was der Spätfeminismus der eben vergehenden Generation in seinen letzten Zügen uns noch immer vorhaucht. 

In der Arbeiterfrauenbewegung des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts kam niemand auf die Idee, von einer jahrtausendealten Unterdrückung "der Frau" durch "den Mann" zu reden. Zu nahe waren sie noch der Realität des Klassenkampfes, aus der diese Denkfigur stammt, um nicht ihre völlige Unangemessenheit zu bemerken.

Wie hätte man sich das vorzustellen - ein Kollektivsubjekt 'die Männer' unterwürfe sich das Kollektivsubjekt 'die Frauen', um es - umsonst - für sich arbeiten zu lassen?

Zwischen Kapital und Arbeit lag das vor aller Augen: Es war der Markt, auf dem sich beide begegneten, und es waren die Marktgesetze, die für einen 'ungleichen Tausch' sorgten; der indessen ungleich nur durch seine historische Prämis- se war: indem die eine Seite (in Geld dargestellte) Waren austauschte, während die andere Seite nur die nackte Arbeits- kraft selbst anbieten konnte.

War eine vergleichbare historische Prämisse irgendwann irgendwo im Verhältnis zwischen den Geschlechtern eingetreten?

Die Rede vom Patriarchat ist eine Nebelkerze. Es seien Männer, die politisch herrschen, weil Männer Waffen tragen und Kriege führen können. Und das setze sich - irgendwie - bis in die persönlichsten Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Ehe und Familie fort...


Bei der Betrachtung vorbürgerlicher, und das heißt agrarischer Gesellschaften stellt sich aber etwas anderes heraus: Ihre beherrschende Realität sind die isolierten Hauswirtschaften, wie Marx sie (nicht als erster) nannte. Sie sind - waren - das Wahre an dem konservativen Kampfruf, die Familie sei "die Keimzelle der Gesellschaft", nämlich die familia in ihrem ursprünglichen oskisch-lateinischen Sinn als oikos, Haushalt, ganz ungeachtet eventueller Blutsverwandtschaften.

Politische Herrschaft war ihnen gegenüber nur Epiphänomen, da mochten Haupt- und Staatsaktionen statthaben und Reiche einstürzen, während unten, wo die Menschen ihren tatsächlichen Stoffwechsel mit der Natur betrieben, jahrhun- dertelang alles blieb, wie es war.

Beherrscht in der traditionellen Hauswirtschaft 'der Mann' 'die Frau'?

Die Frau vertritt die Hauswirtschaft nach innen, der Mann nach außen - vor allem, wo es um das Hauptgeschäft, die Vermarktung der Überschüsse aus der landwirtschaftlichen Produktion und ergo um die größeren Beträge geht. Die Geldwirtschaft macht sich aber zunächst nur mittelbar bemerkbar, beim Tausch von Getreide gegen Vieh etwa tritt Geld nur als Verrechnungsgröße auf. Was an Silber- und Kupfermünzen tatsächlich gebraucht wird, mag die kleine Haus- industrie - Töpfer-, Web- und Flechtarbeiten - einbringen, und die ist wiederum Frauensache. Dieses Geld fließt gleich in den Konsum der Hauswirtschaft ein, nicht in die Produktion. Grob kann man sagen: Während die Produktion Männer- sache ist, ist die interne Verteilung und die Organisation des Konsums Angelegenheit von Frauen.

In dem Maße aber, wie die Geldzirkulation um sich greift, dringt der Markt - und der ist der harte Kern der (natürlich bürgerlichen) Öffentlichkeit - in immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein. Und Öffentlichkeit ist seit Menschengedenken eine männliche Domäne; Einerseits der Markt, andererseits Politik und ihre Fortführung im Krieg.

Bis zu dem Punkt, wo die Geldwirtschaft die Produktion selbst ergreift. Nämlich als die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals die Bauern vom Land vertreibt, die isolierten Hauswirtschaften vernichtet und die Arbeitskraft nötigt, sich für Geld ans Kapital zu verkaufen. Zwar ist der Markt, und also der Arbeitsmarkt, das öffentlichste Gebiet, das es gibt. Aber hier herrschen nicht Männer, schon gar keine proletarischen, sondern Kapitaleigner, und unterdrückt werden nicht nur Männer, sondern bald auch ihre Frauen und Kinder, und Remedur schafft allein wiederum eine Öffentlichkeit, nämlich die Arbeiterbewegung und der Klassenkampf, und sehr zögernd, aber schließlich doch, nehmen daran auch die Frauen teil. Doch ihren Platz bekommen sie nicht spendiert, sie müssen ihn erkämpfen; so wie die Arbeiterbewegung sich ihren Platz in der bürgerlichen Öffentlichkeit erkämpfen musste.

Mit dem Entstehen der großen Industrie greift der Markt schließlich bis in die privatesten Winkel hinein, die Privathaus- halte sind die längste Zeit "Keimzellen der Gesellschaft" gewesen. Als Haushälterinnen werden die Frauen zusehends ersetzlich durch Dienstleistungsindustrie, öffentliche Subsidien und Haushaltselektrik, aber eine automatische Kompensa- tion durch Aufwertung ihrer Stellung in der Öffentlichkeit geschieht nicht. Das ist das Reelle an der Legende von der Unterdrückung der Frauen: dass sie die Abwertung, die sie im Privaten erfahren hatten, in der Öffentlichkeit durch eigene Anstrengung ausgleichen müssen.

Doch auch da hat die Arbeiterbewegung die entscheidende Vorarbeit schon geleistet. Man kann darüber philosophieren, ob sie mehr hätte können oder gar sollen; die historische Leistung der Arbeiterbewegung war aber, auf der einen Seite die restlose Demokratisierung des bürgerlichen Gemeinwesens durchzusetzen und auf der andern den Wohlfahrtsstaat zu erzwingen. Die Bedingungen für die Gleichstellung der Frau im öffentlichen Leben waren damit gegeben.

Dass einem nichts in den Schoß fällt, ist aber wohl von der Gesellschaftsform unabhängig, und dass die Meisten nur ungern für andere Platz machen, sicher auch. Hier und dort muss immer mal ein wenig Druck gemacht werden, und dass dabei auch schrille Töne vorkommen, kann man ertragen. Jedenfalls kann keine Gesellschaft auf die Dauer erlauben, dass Potenziale brachliegen, schon gar nicht, wenn sie in globaler Konkurrenz zu anderen steht. Aber genau das würde sie fördern, wenn sie Reservate schaffen wollte, wo Privilegien - nun nicht mehr der Herkunft, sondern des Geschlechts - verhindern, dass sich im gesellschaftlichen Wettbewerb Qualität behaupten kann, und stattdessen Mittelmaß subventio- niert.

Insofern ist der zeitgenössische Feminismus rein parasitär. Dass seine Sprechröhre ihr unversteuertes Einkommen mittlerweile als Quotenfrau beim größten Revolverblatt der Republik verdient, sagt alles. 



Gibt es einen biologischen Schönheitssinn?

 
aus derStandard.at, 8. Juni 2019                                                                                                                                     aus Geschmackssachen
 
Im Auge des Betrachters 
Verfügt der Mensch über einen Sinn fürs Schöne? Was bewirken schöne Dinge, und was passiert bei der Bewertung von Schönheit im Gehirn? Psychologen geben Antworten


Pfauenmännchen buhlen mit ihrem auffälligen Gefieder um die Aufmerksamkeit von Pfauenweibchen. Der Attraktivere hat bessere Chancen bei der Partnerwahl – das war bereits Charles Darwin bewusst. Als menschliche Merkmale, die Artgenossen zur Fortpflanzung animieren sollen, gelten hingegen etwa Gesichtssymmetrie und Hautreinheit. Wer hier gut ausgestattet ist, wirkt auf sein Umfeld gesund und schön. 

Bei dieser Funktion hört es mit der Schönheit noch lange nicht auf. Immerhin müssen wir keine Pfauenweibchen sein, um die blaugrün schimmernden Federn ihrer Partner elegant zu finden. Auch Darwin mutmaßte, dass es einen spezifischen Schönheitssinn gebe, mit dem man die gesamte Umgebung ästhetisch wahrnimmt und bewertet.

"Unsere Sicht der Welt wird davon gesteuert, wo die schönen Dinge sind", sagt Helmut Leder, Leiter des Instituts für Psychologische Grundlagenforschung der Uni Wien. Bei der vom Wissenschaftsfonds FWF und der Agentur PR&D veranstalteten Reihe "Am Puls" diskutierte er vergangene Woche mit dem plastischen Chirurgen Artur Worseg darüber, wie uns der Schönheitssinn beeinflusst.

Am Wiener Institut liegt der Forschungsfokus auf dem Visuellen, obwohl sich die Schönheitswahrnehmung auch auf angenehme Melodien oder Gerüche beziehen kann. Bezeichnend ist, dass eine Einschätzung, ob man etwas schön findet, sehr schnell abläuft.

In einem Experiment fanden Leder und Kollegen heraus, dass Versuchspersonen beim Anblick typischer schöner Gesichter und Muster leicht lächelten – selbst dann, wenn sie bewusst gar nicht sagen konnten, ob es sich um einen angenehmen Reiz handelte oder nicht. Im Gegenzug konnte die Stimulation eines Gesichtsmuskels der Verärgerung gemessen werden, wenn ganz kurz ein unschönes Bild erschien.

Glücksgefühl in der Not

"Die Studie zeigt auch: Wenn uns etwas schön vorkommt, bringt das kleine Dosen Freude in unseren Alltag. Schöne Dinge machen uns glücklich", sagt Leder. Wie essenziell diese Art des Glücksempfindens sein kann, lässt sich beispielhaft in Krisengebieten und -situationen erkennen. In Frauengefängnissen stehen bei Insassinnen Make-up-Produkte hoch im Kurs, und selbst in kriegsgebeutelten Gegenden in der Ukraine und im Nahen Osten – und gerade dort – legen viele Menschen Wert auf Schönes: Kunst, Kultur, ein gepflegtes Äußeres.

Die deutsche Literaturprofessorin Barbara Vinken, die sich mit Ästhetik und Mode beschäftigt, sagte dazu: "In der Kleidung wird die Intaktheit des Selbst widergespiegelt. Je stärker man bedroht wird, desto stärker der Wille nach Intaktheit."

Wie sehr schöne Menschen im Alltag unsere Wahrnehmung beeinflussen, ist daran zu erkennen, dass unser Blick wesentlich häufiger und länger auf ihnen ruht. Das klingt naheliegend. Die Stärke dieses Effekts ist aber so groß, dass man im Umkehrschluss mittlerweile durch die bloße Beobachtung von Augenbewegungen sagen kann, welche Gesichter als schöner gelten. Ohne die Testpersonen befragen zu müssen.

Komplexes Schönheitsempfinden

Dass wir uns dezidiert zu Schönem hinwenden, weil es uns guttut und angenehme Empfindungen auslöst, kann sich evolutionär entwickelt haben. Neben biologisch erklärbaren Merkmalen ist Schönheitsempfinden aber weitaus komplexer, erläutert der Wahrnehmungsforscher Leder. Denn was wir als schön ansehen, ist von unserem kulturellen Umfeld abhängig, dazu kommen kurzfristige Erscheinungen wie Moden.

Doch wie funktioniert dieser Schönheitssinn – besonders, wenn die Bewertung so rapide und nahezu unbewusst abläuft? "Es, gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten. Haben wir einen Zähler für das Schönheitsmaß, der uns etwa auf einer Skala sagt, ob ein Gesicht wenig, mittel- oder sehr schön ist? Oder haben wir einen Prototyp, der einem symmetrischen Durchschnittsgesicht entspricht, und wir beurteilen die Abweichungen eines neuen Gesichts – wie eine große Nase oder sehr eng stehende Augen – ausgehend von diesem Prototyp?

Um zu testen, welche der beiden Annahmen näher an der Realität ist, hat Leder einen weiteren Versuch mitentwickelt. Dabei machten sich die Forscher den sogenannten Gesichtsinversionseffekt zunutze, der schlichtweg besagt, dass es Menschen schwerer fällt, auf dem Kopf stehende Gesichter zu erkennen. "Wenn wir eine Art eingebauten Schönheitsmesser hätten, müsste die Schönheit bei einem aufrechten Gesicht am höchsten bewertet werden, weil er nur dann optimal anwendbar ist", so Leder.


Foto von Grace Kelly von Milton H. Green  

Innerer Prototyp

Das Ergebnis zeigte allerdings: Um 180 Grad gedrehte Gesichter erhalten die besten Bewertungen. Anstatt dass positive Eigenschaften eines Gesichts summiert werden, schätzen wir eher ab, in welchen Aspekten es negativ von der Norm abweicht. Weil uns dies bei umgedrehten Bildern schwerer fällt, werden sie schöner beurteilt, argumentieren die Studienautoren. Es gibt also erste Hinweise dafür, dass wir Schönheit mit einer Art innerem Prototyp abgleichen und bewerten.

Was aber passiert, wenn dieser ideale Prototyp mit künstlich verschönerten Fotos gefüttert wird, die in den Medien vorherrschen? "Unser Gehirn, unser Wahrnehmungssystem ist uralt und hat damit keine spezifische Verarbeitung für virtuell manipulierte Gesichter. Sie sehen der Realität ähnlich und werden daher automatisch als Gesicht erkannt", sagt Leder.

"Dies fließt also trotzdem in meine Repräsentation davon ein, wie ein Mensch aussieht. Und das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ich mich selbst und andere für unzureichend und unschön halte." Wichtig sei daher, sich diesen Eindruck regelmäßig bewusst zu machen und zu hinterfragen. Die Begeisterung für klassisch Schönes mag Teil der menschlichen Natur sein – "sie ist aber auch eben nur ein Teil unserer Natur, nur eine Seite des Schönseins." 

Variable Schönheit

Bei der Sorge darum, wie die eigene Wirkung einzuschätzen ist, kann man sich zumindest im vertrauten Umfeld entspannen. Die ästhetische Bewertung eines Gegenübers spielt nämlich vor allem beim Kennenlernen eine Rolle, also wenn es etwa um Bewerbungsverfahren oder Partnersuche geht. Unter Freunden ist man einander vertraut genug, um mit "innerer Schönheit" zu punkten.

Und es sollte auch eine Studie britischer Forscher nicht vergessen werden: Das Team um den Psychologen Mike Burton verglich unterschiedlich attraktive Personen mithilfe mehrerer Aufnahmen. Es zeigte sich, dass die Variabilität einer einzelnen Person ziemlich groß ist: Menschen, die allgemein weniger attraktiv eingeschätzt wurden, sahen auf Bildern, die sie an "guten Tagen" erwischt hatten, immer noch besser aus als allgemein Attraktivere auf einem schlechten Bild. 


Nota. - Mit all diesen empirischen Untersuchungen zum ästhetischen Wahrnehmen ist es dasselbe: Sie betreffen Motive, die viele gemeinsam als schön beurteilen. Das liegt am Verfahren: Statistik ist natur- gemäß quantifizierend, sie erfasst große Mengen und am liebsten gar Durchschnitte. Wenn sie ihre Daten beisammen hat, zählt sie aus. Und siehe da: Je größer die Menge, umso näher liegt die Versuchung, nach einer 'gemeinsamen Ursache' zu suchen.

Und da gibt es dann zwei Möglichkeiten. Entweder biologisch vorgegebene Reiz-Reaktions-Abläufe oder eingeborene Archetypen.

Doch beides übergeht das, was am ästhetischen Erleben das Erhebliche und daher das Problematische ist: das Urteilen. Wenn ich dem nachgebe, wozu ich sowieso neige, dann urteile ich gerade nicht, sondern verzichte auf ein Urteil. Was anderes ist es, wenn ich nach momentanem Schwanken zu meinem ersten Reflex zurückkehre. Dann habe ich mir mein Urteil vielleicht leichtgemacht, aber eben doch geurteilt.

Denn bedenke: Wenn wir tatsächlich alle denselben Geschmack hätten, dann... gäbe es das Ästhetische nicht, weil man es nicht unterscheiden könnte. Ohne Unterscheidung kein Urteil. Von Geschmack kann nur die Rede sein, wenn wir grundsätzlich einem jeden seinen eigenen Geschmack anmuten.

So wenig das Ästhetische sonst auch mit Vernunft zu tun haben mag - in dem Punkt sind sie einig: Sie muten Jedem ein eigenes Urteil zu. *

*) Ihr Unterschied ist der: Da es bei der einen um das Zusammenwirken geht, verlangt sie für das eigene Urteil gemeinsame Gründe. Das Ästhetische hat ein jeder für sich und braucht gar keine Gründe; und das macht seine Besonderheit aus: dass es ohne Grund urteilt.
JE 9. Juni 2019

Der Grundsatz der Wissenschaftslehre.

                                           aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Jede mögliche / Wissenschaft hat einen Grundsatz, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern vor ihr vorher gewiss seyn muss. Wo soll nun dieser Grundsatz erwiesen werden? Ohne Zweifel in derjenigen Wissenschaft, welche alle möglichen Wissenschaften zu begründen hat. – Die Wissenschaftslehre hätte in dieser Rücksicht zweierlei zu thun. Zuvörderst die Möglichkeit der Grundsätze überhaupt zu begründen; zu zeigen, wie, inwiefern, unter welchen Bedingungen, und vielleicht in welchen Graden etwas gewiss seyn könne, und überhaupt, was das heisse – gewiss seyn; dann hätte sie insbesondere die Grundsätze aller möglichen Wissenschaften zu erweisen, die in ihnen selbst nicht erwiesen werden können. ...

Die Wissenschaftslehre ist selbst eine Wissenschaft. Auch sie muss daher zuvörderst einen Grundsatz haben, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern zum Behuf ihrer Möglichkeit als Wissenschaft vorausgesetzt wird. Aber dieser Grundsatz kann auch in keiner anderen höheren Wissenschaft erwiesen werden; denn dann wäre diese höhere Wissenschaft selbst die Wissenschaftslehre, und diejenige, deren Grundsatz erst erwiesen werden müsste, wäre es nicht. Dieser Grundsatz – der Wissenschaftslehre, und vermittelst ihrer aller Wissenschaften und alles Wissens – ist daher schlechterdings keines Beweises fähig, d.h. er ist auf keinen höheren / Satz zurück zu führen, aus dessen Verhältnisse zu ihm seine Gewissheit erhelle. 

Dennoch soll er die Grundlage aller Gewissheit abgeben; er muss daher doch gewiss und zwar in sich selbst, und um sein selbst willen, und durch sich selbst gewiss seyn. Alle anderen Sätze werden gewiss seyn, weil sich zeigen lässt, dass sie ihm in irgend einer Rücksicht gleich sind; dieser Satz muss gewiss seyn, bloss darum, weil er sich selbst gleich ist. Alle andere Sätze werden nur eine mittelbare und von ihm abgeleitete Gewissheit haben; er muss unmittelbar gewiss seyn. Auf ihn gründet sich alles Wissen, und ohne ihn wäre überhaupt kein Wissen möglich; er aber gründet sich auf kein anderes Wissen, sondern er ist der Satz des Wissens schlechthin.

Dieser Satz ist schlechthin gewiss, d.h. er ist gewiss, weil er gewiss ist*. Er ist der Grund aller Gewissheit, d.h. alles was gewiss ist, ist gewiss, weil er gewiss ist; und es ist nichts gewiss, wenn er nicht gewiss ist. Er ist der Grund alles Wissens, d.h. man weiss, was er aussagt, weil man überhaupt weiss; man weiss es unmittelbar, so wie man irgend etwas weiss. Er begleitet alles Wissen, ist in allem Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus.

*) Man kann ohne Widerspruch nach keinem Grunde seiner Gewissheit fragen. handschr. Marginalie
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J. G. Fichte, Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre,
SW I, S. 46 ff.

Kants Induktion und ihre Radikalisierung.

                                    aus Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Die Kantische Philosophie ist nur durch Induktion, nicht aber durch Deduktion bewiesen. Sie sagt: Wenn man diesen oder jene Gesetze annehme, wäre das Bewusstsein zu erklären; sie gilt daher nur als Hypothese.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 5f. 


Nota I. - Kants Induktion führt ihn nur bis zu den Kategorien. Er hat sie im Material 'aufgefunden' und stellt sie zusammen; nebeneinander. Aber schon, weshalb es genau diese zwölf sein müssen, wird nicht demonstriert und nicht deduziert. Schon gar nicht wird deduziert, woher sie stammen. Es sind vier mal drei, das sieht gut aus, aber mehr Evidenz haben Kants Kategorien nicht für sich.

18. 6. 17 


Nota II. - Aber weshalb hat er bei den Kategorien Halt gemacht? 

Dass er sie auf induktivem Wege aufgeunden hatte, war genial genug. Natürlich kann er so nichts beweisen. Aber dass er nach seinem Verfahren auf mehr oder andere als diese zwölf hätte kommen können, ist ihm bislang auch nicht nachgewiesen worden. Soweit kann man die Sache auf sich beruhen lassen.

Aber um tiefer zu bohren und die Frage zu klären, wo die Kategorien - oder das Apriori, wie er es nennt - her- gekommen sind, hätte er wie irgendein Dogmatiker freihändig zu spekulieren beginnen müssen. Die einfachste spekulative Antwortung - Gottes Ratschluss - lag aber längst vor, er hätte sie durch eine bessere Variante ver- drängen müssen. Das hat er gar nicht erst versucht, und ob seine Aussage, er habe dem Glauben Platz schaffen wollen, ein wahres Bekenntnis oder eine Ausrede war, ist unter diesen Umständen gleichgültig. Es liefe auf das- selbe hinaus.

Das tiefer Bohren hätte auch nicht geschehen können durch Erweiterung - Vertiefung - des zu untersuchenden Materials; man wüsste ja nicht einmal, wo man anfangen soll. Es musste vielmehr das Verfahren vertieft, nämlich radikalisiert werden. Das hat Fichte unternommen, aber nicht, indem er analytisch Scheibchen für Scheibchen von den induktiv freigelegten Kategorien abzog, um an ihre Gründe vorzudringen; sondern indem er diesen Arbeitsgang im Gedankenexperiment übersprang. 

Wie war Kant verfahren? Er hatte vom gegebenen Material der Vernunft - den Begriffen* - nach und nach die besonderen Bestimmungen abgezogen. Zuerst scheiden sich Noumena und Phainomena. Noumena sind reine Denkbestimmungen; bei den Phainomena kommt als Differentia specifica die Erfahrung hinzu. Von der werden wieder, Schritt für Schritt, die konkreten Bestimmungen abgezogen. Bleibt übrig ein 'apriorischer' Fundus, den er in vier mal drei Kategorien und zwei Anschauungsfor- men aufteilt. Kategorien und Anschauungsformen lassen sich nicht selber analytisch zerlegen. Sie müssen en bloc abgezogen werden von der stets gegenwärtigen, ausgesprochen-unausgesprochenen Prämisse des Ich denke, das alle unsere Sätze muss begleiten können.

Ziehen wir vom Denken all die Bestimmungn ab, die es von anderen Tätigkeiten unterscheiden könnten, so bleibt übrig: reine Agilität ohne alle Bestimmung. Wollen wir von da aus den Weg zurück zum entwickelten Vernunftsystem beschreiten, von dem wir ja ausgegangen sind, so muss als erster Schritt ein sich-selbst-Bestimmen der reinen Agilität vorgestellt werden. Und siehe da: Die Agilität erweist sich ipso facto als nicht gar so rein, denn sie zeigt sich als bestimmen-könnend.

So muss verfahren, wer Kants induktives Verfahren radikalisiert.

*) Begriffe sind Vorstellungen, die so weit bestimmt sind, dass sie im Gedächtnis verzeichnet und durchs Symbol Anderen mitgeteilt werden können.

PS. Dass ich es nicht vergesse: Hier handelt es sich um den ersten, analytischen Gang der Wissen- schaftslehre.
JE, 1. 6. 19

Dienstag, 3. Dezember 2019

Le Platonisme où va-t-il se nicher?

                                                                                              aus Marxiana   

Le platonisme où va-t-il encore se nicher! – "Wo überall wird sich der Platonismus noch einnisten!" seufzt Marx an einer ganz beiläufigen Stelle über die Fetischisierung des Gebrauchswerts.* Dass der Platonismus überall schon drinsteckt und sich gar nicht erst einnisten muss, wo immer Hegel'sche Dialektik webt und wabert; und selbst schon, wo der Alltagsverstand des Krämers waltet – ist ihm selber noch nicht klar. 

Dass die Bedeutung – der 'Begriff' – das Wesen der Dinge ausmacht und ihre Wirklichkeit bloß Erscheinung ist, spukt selbst ihm noch immer durch den Hinterkopf, wo im Stirnlappen doch längst die kritische Auffassung Platz gegrif- fen hat: dass die 'Bedeutung' der Dinge immer nur das ist, was ein Subjekt mit ihnen im Lebens-vollzug anfängtweil es eine Absicht auf sie hat.


*) Marx, Das Kapital I,
MEW Bd. 23, S. 388 Anm.





 

Verstopfen.

divinatrix                                                                                        aus  Levana, oder Erziehlehre

Es ist ein Fehler in unsern Erziehungen, daß wir gewisse Wissenschaften so früh anfangen, sie verwachsen so zu sagen in unsern Verstand, und der Weg zum Neuen wird gehemmt. Es wäre die Frage ob sich die Seelenkräfte nicht stärken ließen ohne sie auf eine Wissenschaft anzuwenden. ___________________________________________
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, A




Erotik des Ästhetischen.

Lysipp, Eros                                                                                   aus Geschmackssachen

Anschauen ist ein sich-Verlieren im ganz-Andern. Das ist seine Versuchung; es ist im Plato'schen Sinn erotisch.

Problematisch wird es beim bildenden Künstler. Seiner Einbildungskraft hat ein Bild vorgeschwebt, in dem er sich verloren hat. Aber er will es wiedergeben. Er muss es von sich absondern, um es fassen zu können. Doch sobald er es gefasst hat, ist es kein wirklich Anderes mehr; er müsste es so fassen, dass es, ungeachtet seiner Vertrautheit mit ihm, allen Andern als 'ganz anders' vorkommt. Und das ist sein formales, sein künstlerisches Problem: Er kann sich an die Ausarbeitung seiner Wiedergabe nicht heranmachen ohne Berechnung

Es gab bildende Künstler, deren Bilder so aussehen, als habe mit der Berechung ihre bildnerische Produktion angefangen und die Anschauung sei aus einem fertigen Repertoire an irgendeiner Stelle nur herbeigezogen worden. Ich denke, um nicht viel Ärger zu riskieren, an William Bouguereau: Die einen sagen, es sei akade- misch, die andern sagen, es ist Kitsch.

Kunst wäre es, wenn seine Einbildungskraft ihm ein Bild hat vorschweben lassen, das, nachdem es durch den Fleischwolf seiner tastend-bestimmenden Experimente gegangen ist, doch immer noch so stark geblieben wäre, dass es die Einbildungskraft der andern so dazu versucht, sich in ihm zu verlieren, wie er es tat, bis er sich ans reflektierende Wiedergeben gemacht hat.

Ein Künstler ist er, wenn es ihm gelang, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, ohne dass jeder es sehen kann.

Es gibt aber auch solche, die von vorn bis hinten nur bluffen.