aus FAZ.NET, 2. 3. 2022 Madame de Pompadour, gemalt von François Boucher im Jahr 1756 zu Geschmackssachen
Ob man den Pariser Eiffelturm als technizistisches Meisterwerk oder als Neorokoko-spielerei sieht, macht einen großen Unterschied. Beide Ansichten schließen sich jedoch nicht aus. In seiner Machart ist er ingenieurstechnische Avantgarde, in seinen Ornament-formen jedoch retrospektiv. Entstanden doch im achtzehnten Jahrhundert etwa in Paris, Nancy, aber auch in Augsburg (als deutschem Zentrum feinster Silberschmiedearbeiten) Garten-Pergolen, die konisch zulaufen und so fein aus dem Edelmetall ziseliert sind, dass man sie für die heute noch in Paris als Souvenirs angebotenen Miniatur-Eiffeltürme halten könnte – wenn sie nicht eben aus der Zeit um 1770 stammten.
Mit einiger Sicherheit waren dem Impressionisten Pierre-Auguste Renoir diese Rokoko-Türmchen bekannt, wie ihm auch nahezu alles an berühmter Malerei vertraut war, die seit der Thronbesteigung Ludwigs XV. und damit dem Beginn des flamboyanten Rokokostils entstanden war, mit dem dieser den pompös-schweren Spätbarock seines Vaters vergessen machen wollte. Als der Eiffelturm zur Weltausstellung im Jahr 1889 eingeweiht wurde, war Renoir achtundvierzig Jahre alt. So weit, dass der Turm in die mit 120 Werken für Corona-Zeiten erstaunlich groß angelegte Sonderausstellung „Renoir – Rococo Revival“ des Frank-furter Städel einbezogen würde, geht das Museum zwar nicht. Es beleuchtet aber erstmals umfassend die kaum bekannten Bezüge von Renoirs Kunst zur Malerei des Rokoko. Einer der schönsten Bildvergleiche zeigt das in nuce: Neben Renoirs „Madame Monet“ im duftig japonisierenden blauen Kleid hängt François Bouchers „Madame de Pompadour“ in einem ebensolchen.
Nostalgie für die guten alten Zeiten
Doch woher stammt Renoirs Rokokofieber? Zunächst war er ausgebildeter Porzellanmaler und hatte vier Jahre in der Manufaktur der Gebrüder Lévy im Marais gearbeitet, was konkret bedeutete, Vorlagen galanter Feste von Antoine Watteau genauso wie Anzügliches von Boucher und Jean-Honoré Fragonard auf das weiße Gold zu übertragen. Vor allem aber lernte er, Blumen zu malen. Von Renoir stammt der erstaunlich modern klingende Satz „Ich kann Blumen malen und brauche sie nur ‚Blumen‘ zu nennen, ohne dass sie eine Geschichte haben“ – solch selbstreferenzielle Logik könnte auch von Hockney sein.
Prächtig ausgeleuchtet wird im Städel, wie das „Zweite Rokoko“ als Retrostil in Renoirs Zeit gesellschaftlich um sich griff – überall in Paris präsent und populär waren plötzlich feudale Gesamtkunstwerke aus Apartmentinterieurs mit stuckierten und geschnitzten Rocaillen. Unter Lünetten und geschwungenen Kassettendecken saßen in Neorokoko-Studierzimmern Männer in rüschiger Retromode, vor intarsierten Schäferidyllen in flirrenden Sommerlandschaften im Boudoir standen die Damen in ausladenden Krinolinenröcken. Die Restaurationskaiserin Eugenie wagte es gar, wieder die Mode ihrer enthaupteten Vorgängerin Marie-Antoinette zu sammeln und zu tragen. Wohlgemerkt haben Rokokoblüten selten etwas mit tatsächlicher Wirtschaftsblüte zu tun – vieles in dieser Blase war auf Verschuldung gebaut. In jedem Fall reinszenierte das zu Reichtum gekommene Bürgertum die luxuriösen Ausstattungen des Rokokoadels. Knapp hundert Jahre nach dem Fall des Ancien Régime und unter dem Schock der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg projizierte sich ein nicht geringer Teil der Franzosen nostalgisch in die Zeiten der Grande Nation zurück.
Früher verhasst, heute für Überraschungen gut
Renoir spürt diese Sehnsüchte. Der aus einfachsten Verhältnissen stammende Maler muss sich anders als die Freunde Manet, Monet oder Degas an dem orientieren, was sich verkauft. Mit seinen weitergedachten Neorokokobildern bedient er den Markt, ohne sich im Geringsten verbiegen zu müssen. „Ich bin einer der ihren“, schreibt er seinem Galeristen Durand-Ruel – und meint damit Fragonard, Watteau und Hubert Robert. Durand-Ruel wiederum verkauft Renoirs impressionistische Bilder und ganze Raumdekorationen mit sicherem kommerziellen Gespür in originalen oder nachgeschnitzten Rokoko-Rahmen.
Eins der verblüffendsten Beispiele dafür hängt mit einem leuchtend gemalten Bouquet vor grauem Manet-Hintergrund im letzten Raum der ersten Etage der auf zwei Stockwerken ausgebreiteten Fülle von 72 Renoirs und knapp 50 Rokokobildern und Impressionistenfreunden. Im Parterre sind die skizzierten historischen Hintergründe zu sehen; im Stockwerk darüber die wieder aufgegriffenen Lieblingsmotive des Rokoko wie die „Fêtes galantes“ und auf der Chaiselongue fläzenden Akte, teils Seite an Seite mit Cézanne vor der Montagne Saint-Victoire entstandene Landschaften und zarteste Natur-Aquarelle, aber auch die furiose „Welle“ aus Memphis, bei der das Feld aus Gischt im Vordergrund auch ein Acker voller Weizen sein könnte. Die zitierten Korrespondenzen werden abgerundet von Jean Siméon Chardin als König der haptisch-meditativen „Nature morte“, inspirierte Stillleben und wie bei Manet verloren stehende und musizierende Pierrots und Gitarreros der Commedia dell’arte.
Warum ist Rokoko grade so beliebt?
Spätestens hier wird man fragen, ob die Kunstgeschichte geschlafen hat. Hätte doch nichts näher gelegen, als die schon bei Gainsborough, Tiepolo, Watteau und Fragonard von ihren fixen Konturen befreiten Aktdarstellungen, Landschaften und Tüllstoffe als jene Vorformen des Impressionismus zu betrachten, die sie sind. Aber man wollte bei der Kunst des modernen Lebens unbedingt die Null-, nicht die Fortsetzung. Dass die Rückgriffe Renoirs und anderer Maler wie Degas, Manet, Claude Monet oder Berthe Morisot auf diese locker skizzenhafte Maniera heute dennoch wieder ein Museumspublikum zu überraschen vermögen, liegt vermutlich an der Stellung des Rokoko als ehemals meistgehasstem Stil überhaupt. Naturgemäß musste die Französische Revolution den Stil des weggefegten Systems als frivol-dekadent und zutiefst immoralisch geißeln. Für Stendhal war das Rokoko 1828 gar der Inbegriff schlechten Geschmacks. Der Klassizismus reagierte mit edler Einfalt, stiller Größe und einem Rollback aus züchtig gegürteten griechischen Chitons für die Frauen sowie einem Rüschenverbot für Herren auf das anarchisch Ungezügelte, und auch das dritte Rokoko wurde in den Zwanzigerjahren bald vom Bauhaus entstuckt (ein offizieller Begriff dieser Zeit übrigens für das „Bereinigen“ überladener Gründerzeitfassaden) und ausgenüchtert.
Auch maltechnisch lernt Renoir vom Rokoko. Seine Palette ist insgesamt heller und leuchtender als die anderer Maler. Die geradezu liebkosend in zahllosen Schichten aufgetragenen Rottöne und Inkarnatfarben, die er insbesondere seit dem Vor-Ort-Studium der rotlastigen Fresken Pompejis ins Pinkfarbene ausreizt, verfeinert er bis zur Überzüchtung. Als einziger Impressionist grundiert er zweimal, und zwar strahlend weiß, weil es für ihn als Porzellanmaler Pflicht ist, die Farben stärkstmöglich zum Strahlen zu bringen, was in den Gesichtern zu dem berühmten emaillehaften Schmelz führt. Als Einziger nimmt er wie sein Vorbild Watteau in der Technik der Trois Crayons eine Trikolore von nur drei Pastellkreiden zur Hand, die das Rokoko-Sfumato der Gesichter, das aureolenhafte Ausstrahlen des Teints auf seine Umgebung, erst ermöglichen.
Der spielerisch leichte Lernerfolg der Schau ist klar: Der Impressionismus hätte gewiss anders ausgesehen ohne den prägenden Einfluss der Rokokomalerei, der außer Renoir auch viele seiner Mitstreiter entflammen ließ. Fragt sich nur noch, was uns die auffällige Häufung von Rokoko-Ausstellungen derzeit bedeuten will? Tiepolo in Stuttgart, Boucher und Marie-Guillemine Benoist in Karlsruhe, Goya in Basel, Watteau in Berlin, nun eben Frankfurt und viele mehr sprechen für sich. Ob es ein unbewusster Einspruch der Museen gegen die zunehmend lautstark geforderten politisch korrekten Ausstellungen ist? Das wäre unbedingt zu begrüßen.
Renoir – Rococo Revival. Der Impressionismus und die französische Kunst des 18. Jahrhunderts. Im Städel, Frankfurt; bis zum 18. Juni. Der Katalog kostet 39,90 Euro.
Nota. - Ja, da ist was dran: Seit drei, vier Jahren bemerke ich bei mir eine eigenartiges Faible für die Rokkoko-Malerei; nicht gerade für Boucher, aber für Fragonard, Watteau und Robert, auch natürlich für Gainsborough (als Landschafter; als Porträtist ist mir Reynolds lieber), sowie Tiepolo und Guardi. (Chardin ist ein Genre für sich.) Einige davon haben sich als Landschafter verdientgemacht und liegen mir folglich nahe, aber die andern? Und da hat Stefan Trinks Recht, die sind nicht politisch korrekt und haben auch sonst keine Aussage, die bringen es fertig, eine Blume zu malen und sie einfach Blume zu nennen. Aber eine Tendenz hat's doch, es ist spöttisch mit einem Tropfen Amaro, es hat ein süßes schweres Aroma von beginnender Fäulnis. Aber man kann es auch, wenn man mag, gar nicht bemer-ken, es ist ja alles Maskerade.
Es mag gefallen oder nicht, es ist jedenfalls eine, es ist jedenfalls die und ich beiß mir auf die Zunge moderne Kunstauffassung. Das ihr gemäße Terrain fand sie in der Landschaft, und so komme ich endlich zum Impressionismus. In der Landschaftsmalerei hat sich Renoir nicht sehr hervorgetan. Die Menge ist auch auf diesem Feld beachtlich, doch richtig beein-druckend ist kaum etwas: Die Fertigkeiten eines Porzellanmalers sind für die Landschaft wenig hilfreich. Immerhin scheint er bei diesen Stücken weniger auf die Verkäuflichkeit ge-achtet und allerlei Neues ausprobiert zu haben .
Die Bilder, die Stefan Trinks für uns ausgesucht hat, sind kurz vor der hohen Zeit des Im-pressionismus entstanden, und man kann noch ein bisschen den Porzellanmaler wiederer-kennen - und bedauern, dass außer all den Rottönen so wenig davon übriggeblieben ist. Oder, im Gegenteil, dass er sich nicht gründlicher davon gelöst und die avantgardistischen Züge seiner Landschaften resoluter ausgebaut hat. Er hätte einen guten Fauve abgeben können.
JE