Dienstag, 3. Dezember 2019

Gewiss.

Lupo  / pixelio.de                                                                    aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Zuförderst über den Doppelsinn des Wortes Gefühl, der auch Herrn E. an meiner Meinung irrig gemacht. Das Gefühl ist entweder sinnlich und das des Bittern, Roten, Harten, Kalten usw., oder intellektuell. Herr E. und mit ihm alle Philosophen seiner Schule scheint die letztere Art gänzlich zu ignorieren, nicht zu beachten, daß auch eine solche Gattung angenommen werden müsse, um das Bewußtsein begreiflich zu machen.

Ich habe es hier mit dem ersten nicht zu tun, sondern mit dem letztern. Es ist das unmittelbare Gefühl der Ge- wißheit und Notwendigkeit eines Denkens. – Wahrheit ist Gewißheit: und woher glauben die Philosophen der entgegengesetzten Schule zu wissen, was gewiß ist? Etwa durch die theoretische Einsicht, daß ihr Denken mit den logischen Gesetzen übereinstimmt? Aber woher wissen sie denn, daß sie sich in diesem Urteile über die Übereinstimmung nicht wieder irren? Etwa wieder durch theoretische Einsicht? Aber wie denn hier? – Kurz, da werden sie ins Unendliche getrieben, und ein Wissen ist schlechthin unmöglich. – Überdies, ist denn Gewißheit ein Objektives, oder ist es ein subjektiver Zustand? Und wie kann ich einen solchen wahrnehmen, außer durch das Gefühl?
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J. G. Fichte Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 146]


Effeminierung.

R. Epp                                                                

Mit der allgemeinen Effeminierung des öffentlichen Lebens in der westlichen Welt ist eine Umwertung der Werte geschehen. Kommunikation und Kooperation sind als das schlechthin Positive (weil Menschliche) zum obesrten Maßstab geworden, das Sachliche muss sich rechtfertigen durch den Grad, in dem es zu Frieden, Harmonie und Nachhaltigkeit beiträgt. Dies ist der erschlichene Sieg der gruppendynamischen Sektenlehre nach einem halben Jahrhundert: Das eigentlich Sachliche ist die Bezie- hungsebene, das sogenannt Sachliche dient nur zur Täuschung.

Das nimmt langsam ein Ende. Die Effeminieruung mit ihrem Schrittmacher, dem Feminismus, war die mentale Schauseite des Siegeszuges der Angestelltenzivilisation im 20. Jahrhundert. Deren sachliche Grundlage war die fortschreitende Ersetzung der Handarbeit durch maschinelle Fertigung und das dem entsprechende Ausufern der vermittelnden, verwaltenden Funktionen in der Produktion. Seither der Aufschwung der Gruppendynamik, die der analytischen Arbeitsplatzbewertung im letzten halben Jahrhundert den Rang abgelaufen hat.

Mit der digitalen Revolution geht auch das zu Ende. Die intelligenten Maschinen verwalten sich immer mehr selbst. Die Tätig- keiten, die weiblichen Neigungen (auch bei den Männern) am besten entsprachen, fallen in der Produktion schlicht und ein- fach weg. Und Produktion, das zeigt sich nun wieder, ist eine sachliche Frage und keine Beziehungskiste. Dem entspricht es wiederum, dass über Kooperation wieder nüchterner gesprochen und geschrieben wird; siehe oben.

PS. Das Sachliche ist nicht durch Beziehungen bestimmt, sondern durch Zwecke. Die wiederum unterliegen der Kritik, und die mag nicht jedEr. (Und wo es um Zwecke geht, geht es um Machen
; Beziehung lässt sich nur erleben.)

27. 10. 2018 
 

Wovon handelt Transzendentalphilosophie?

Maurits Cornelis Escher, Selbstbildnis M. C. Escher                                                                        aus Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Es gibt zwei sehr verschiedene Standpunkte des Denkens; den des natürlichen und gemeinen, da man unmittel- bar Objekte denkt, und den des vorzugsweise so zu nennenden künstlichen, da man, mit Absicht und Bewußt- sein, sein Denken selbst denkt. Auf dem ersten steht das gemeine Leben, und die Wissenschaft; auf dem zweiten die Transzendentalphilosophie, die ich eben deshalb Wissenschaftslehre genannt habe, Theorie und Wissenschaft alles Wissens, keineswegs aber selber ein reelles und objektives Wissen.

Die philosophischen Systeme vor Kant kannten großenteils ihren Standpunkt nicht recht, und schwankten hin und her zwischen beiden. Das unmittelbar vor Kant herrschende Wolffisch-Baumgartensche stellte sich mit seinem guten Bewußtsein in dem Standpunkte des gemeinen Denkens und hatte nichts geringeres zur Absicht, als die Sphäre desselben zu erweitern und durch die Kraft ihrer Syllogismen neue Objekte des natürlichen Den- kens zu erschaffen. [...]

Diesem System ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, inwiefern die Meta- physik das System reeller, durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse sein soll, leugnet z. B. Kant, und ich mit ihm, die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich. Er rühmt sich, dieselbe mit der Wurzel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu ret- ten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Bewenden haben.

Unser System, das die Erweiterungen wieder zurückweist, läßt sich ebensowenig einfallen, das gemeine und allein reelle Denken selbst zu erweitern,  sondern will dasselbe lediglich darstellen und erschöpfend umfassen. Wir den- ken im philosophischen, das objektive Denken. Unser philosophisches Denken bedeutet nichts und hat nicht den mindesten Gehalt; nur das in diesem Denken gedachte Denken bedeutet und hat Gehalt. Unser philosophisches Denken ist lediglich ein Instrument, durch welches wir unser Werk zusammensetzen. Ist das Werk fertig, so wird das Instrument als unnütz weggeworfen. 
 
M. C. Escher M. C. Escher
Johann Gottlieb Fichte, Rückerinnerungen, Nachfragen, Antworten in: Gesamtausgabe, Bd. II/5, S. 111-115




Sieht das Ungeborene mehr als wir denken?

aus scinexx                                                                                                                               

Sehen ungeborene Babys mehr als gedacht?
Zellen im sich entwickelnden Auge reagieren erstaunlich empfindlich auf Licht

Überraschend sensibel: Trotz noch geschlossener Augen könnte der Fötus im Mutterleib mehr sehen als gedacht. Denn bestimmte Zellen in der sich entwickelnden Netzhaut registrieren nicht nur, ob Licht da ist oder nicht. Sie nehmen sogar schon unterschiedliche Lichtintensitäten wahr und sind komplex miteinander vernetzt, wie Experimente mit Mäusebabys nahelegen. Damit könnten diese Zellen eine wichtigere Rolle für die Entwicklung von Auge und Gehirn spielen als bislang angenommen.

Was bekommen ungeborene Babys im Mutterleib von der Außenwelt mit? Tatsächlich erstaunlich viel: Wie Mediziner inzwischen wissen, entwickeln sich vor allem der Geschmack und das Gehör des Fötus schon sehr früh. Etwa ab dem sechsten Monat beginnt dann auch der Sehsinn des Ungeborenen aktiv zu werden. Zwar sind seine Augen zu diesem Zeitpunkt noch geschlossen, doch durch die Lider hindurch nimmt der Fötus bereits Licht wahr.

Verantwortlich für diese Fähigkeit sind bestimmte Ganglienzellen in der sich entwickelnden Netzhaut. Diese lichtempfindlichen Zellen stehen mit unterschiedlichen Bereichen des Gehirns in Verbindung und fungieren beim Fötus wie An-Aus-Schalter: Sie können anzeigen, ob Licht einfällt oder nicht. Auf diese Weise helfen sie zum Beispiel dabei, beim Ungeborenen einen Tag-Nacht-Rhythmus zu etablieren.

Sehen mit geschlossenen Augen

In letzter Zeit mehren sich jedoch die Hinweise darauf, dass diese Ganglienzellen mehr Informationen über den Lichteinfall registrieren als angenommen, und möglicherweise sogar untereinander kommunizieren. Um mehr darüber herauszufinden, haben Franklin Caval-Holme und Marla Feller von der University of California in Berkeley nun die sechs bekannten Subtypen dieser Zellen bei neugeborenen Mäusen untersucht. Die Nager sind kurz nach der Geburt noch fast blind und ihre Augen geschlossen – ähnlich wie beim Fötus nach dem zweiten Trimester.
 
Bei ihren Experimenten stellten die Wissenschaftler Erstaunliches fest: Tatsächlich scheinen die lichtempfindlichen Ganglienzellen in der Retina ein regelrechtes Netzwerk zu bilden. Die Zellen verfügen demnach über eine elektrische Verbindung, sie kommunizieren über sogenannte Gap Junctions miteinander.

Überraschend komplex

„Wir dachten bisher, dass die Ganglienzellen im sich entwickelnden Auge zwar mit dem Gehirn verbunden sind, aber noch nicht mit dem Rest der Retina“, erklärt Feller. „Nun zeigt sich: Sie sind miteinander und auch mit anderen Zellarten verbunden – das war ein überraschender Fund.“ Noch spannender aber: Wie die Forscher herausfanden, reagiert dieses Zellnetzwerk spezifischer auf Licht als erwartet. Es registriert offenbar auch die Lichtintensität und kann sich daran anpassen. Je stärker die Verbindung der Zellen über die Gap Junctions war, desto lichtempfindlicher waren sie dabei in vielen Fällen.


Was bedeutet diese Erkenntnis nun? Zum einen zeichnet sich damit ab, dass neugeborene Mäuse – und möglicherweise auch Föten im Mutterleib – mehr sehen als bislang angenommen. Weil die Ganglienzellen im unreifen Auge unerwartet komplex auf Lichtreize reagieren, könnten sie außerdem eine größere Rolle für die Entwicklung von Auge und Gehirn spielen, wie die Wissenschaftler betonen.

„Vermitteln mehr als gedacht“ 

„Studien haben gezeigt, dass die lichtempfindlichen Ganglienzellen wichtig für Dinge wie die Entwicklung von Blutgefäßen in der Retina und die Etablierung der circadianen Rhythmik sind. Doch das sind ‚Licht-an-Licht-aus-Reaktionen‘, für die entweder Licht oder kein Licht nötig ist“, sagt Feller. Dass die Zellen auch auf die Intensität des Lichts reagieren, könne bedeuten, dass sie für weitere Prozesse von Bedeutung sind: „Diese Zellen vermitteln womöglich mehr Informationen als gedacht.“
Weitere Untersuchungen müssen die Funktionsweise der Ganglienzellen im unreifen Auge in Zukunft näher beleuchten – und klären, ob diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind. Grundsätzlich gilt der Sehsinn als Nachzügler bei der Sinnesentwicklung. Er reift erst weiter aus, wenn sich die Augen des Kindes in der 26. Schwangerschaftswoche öffnen. Doch selbst nach der Geburt ist ein Säugling zunächst noch extrem kurzsichtig, sieht die Welt um sich herum nur unscharf und erkennt keine Farben. (Current Biology, 2019; doi: 10.1016/j.cub.2019.10.025)

Quelle: University of California Berkeley


Montag, 2. Dezember 2019

Vernunftkritik statt Theory Of Mind!


 
Manfred Frank schließt seinen Beitrag zu Fichte in der Frankfurter Allgemeinen vom 23. 11. '19 mit der beziehungsreichen Frage: „Aber warum darf man aus der Hinterlassenschaft eines Philosophen nicht eine bleibende Einsicht heraussieben, selbst wenn sie zu weiteren Fragen drängt?“

Das geht gegen die Vertreter jener angelsächsischen sprachanalytischen Philosophenrichtung, die sich selber eigenartigerweise „Systematiker“ nennen und glauben, ein jeder könne in der Philosophie ganz von vorn an- fangen und sich seine Maßstäbe selber machen. Exemplarisch stellt er Fichtes Gedanken eines ursprüngli- chen Bewusstseins, in dem Subjekt und Objekt noch nicht geschieden waren, in den Mittelpunkt.

Fichte ist bis heute der berühmteste Unbekannte der Geistesgeschichte. In Kompendien und Nachschlagwer- ken kommt er vor als Subjektiver Idealist auf dem Weg 'von Kant zu Hegel'; als ein Scharnier, das einen Wert in den beiden Flügeln hat, die es verbindet. Dass Manfred Frank ihm einen großen Aufsatz widmet, ist zu be- grüßen. Nicht begrüßen kann ich, dass er ihn dabei zu einem Bewusstseinsphilosophen herabstuft.

Fichtes Ehrgeiz war ein anderer. Er wollte die von Kant begonnen Vernunftkritik zu Ende führen. Er hinter- ließ nicht bloß eine Einsicht, sondern ein ganzes System; nicht ein System der ganzen Welt wohlbemerkt, sondern ein System der ganzen Vernunft – die Wissenschaftslehre.

Bewusstes Sein sind auch die Wahnbilder des Irren. Doch Sache der Philosophie sind sie nicht. Was immer gewusst wird, wäre gleich-gültig, wenn es nicht vernünftig wäre. Also geht es nicht um das Bewusstsein (und sei es Selbstbewusstsein) als solches, sondern um das vernünftige Bewusstsein. Denn das ist, was er- klärt werden muss: das Vorkommen von Vernunft in der Welt, vom gesunden Menschenverstand bis hin zu Mikro- und Makrophysik. Nicht, dass sie ist, aondern warum sie gelten soll. Nämlich ob und wie weit sie begründet ist.

Vernunft gibt es nicht als gesicherten Fundus, sondern nur als Tätigkeit. Vernünftig handeln heißt Erfahrung machen und Zwecke setzen mittels definierter Begriffe und geprüfter Schlussregeln. Vernunftkritik soll zei- gen, wie das möglich wurde. Vernunft, wie sie einmal ist, ist ihr Ausgangspunkt und Gegenstand. Ihr Verfah- ren kann sie indessen nicht sein, denn das gilt es ja eben zu begründen. Vernunftkritik muss – genetisch, nicht logisch – zeigen, wie aus Vorstellungen Begriffe allererst werden. Das nennt man Transzendentalphi- losophie. 

Die Sache der Philosophie

Sie verfährt zunächst analytisch oder regressiv. Sie beginnt bei der Gegebenheit der Vernunft. Vom tatsäch- lichen Wissen zieht sie eine begriffliche Bestimmung nach der andern ab und legt seine Handlungsweise selbst frei. Kant fand: Die erfahrende Vernunft gründet auf Voraussetzungen, dem Apriori - ab da erst werden Erfahrungsbegriffe möglich. Wo wir die Voraussetzungen herhaben, hat er, 'um zum Glauben Platz zu schaf- fen', nicht weiter erörtert. Dazu war Fichte zunächst nicht bereit, er wollte dem Wissen bis auf den Grund gehen. Er wollte die Möglichkeit eines Wissens vor der Erfahrung und vor den Begriffen aus einer eignen Quelle erweisen. Das Apriori selber – die Kategorien und Raum und Zeit – hat keine Bestimmungen mehr, die man abziehen könnte, ab hier wird ein spekulativer Sprung nötig. Übrig bleibt am Ende der Wissensakt selbst: S p dass q. Wer oder was ist S? Erfahren kann es nicht werden, denn von ihm geht alle Erfahrung aus. Es muss vor aller Empirie als schlechthin tätig – agil, sagt Fichte – angenommen werden. Es kann daher nichts von außen in es hineingelangen. Was es fühlend erlebt, sind die Widerstände, auf die seine Agilität stößt. Agierend nimmt es sich selber wahr – als agierend und als sein Agieren wahrnehmend. Das ist es, was Manfred Frank mit Dieter Henrich Fichtes ursprüngliche Einsicht nennt – das Ich setzt sich, indem es sich in sich selbst unterscheidet und entgegensetzt....

Der springende Punkt ist aber der: Fichtes Ich ist kein Bewusstsein, sondern ein Noumenon, weiter nichts. „Das bestimmende Ich ist etwas einfaches Absolutes, durch bloßes Denken produziertes, ein Noumen. Darin wird ja nicht gedacht ein sich wirklich bestimmendes Ich, da bloß die Form gedacht wird, das bloße Vermö- gen.“* Ein Noumen ist ein reines Gedankending, während ein Phänomen in Raum und Zeit erfahrbar ist. Zu jedem Phänomen lässt sich ein Noumen denken – das ist dann das ominöse Ding-an-sich. Ein bloßes Nou- men dagegen kann eine Schnapsidee sein; oder einen Gedanken bezeichnen, der einem bloßen Erfahrungs- datum Sinn und Zweck zuschreibt, denn aus den Phänomenen selbst kann man sie nicht herausfinden. Man muss sie vielmehr hineinprojizieren.

Fichtes Ich ist dasjenige an einem wirklichen Bewusstsein, was seine Vernünftigkeit ausmacht. Dies Noumen wird nicht als seiend behauptet. Es wird lediglich als Erklärungsgrund gesetzt. 'Was Vernunft ist' (wie sie zu- standekommt), wird verständlich nur unter Annahme eines solchen sich-selbst-setzenden X. Ob dieser (in der Vorstellung) notwendigen Voraussetzung außerhalb der Vorstellung 'etwas entspricht' (und was ), hat nicht die Transzendentalphilosophie zu erörtern, sondern die positive Wissenschaft: empirische Psychologie und Hirnforschung. 

Sache der Transzendentalphilosophie ist es nicht, sich den Realwissenschaften unterzuschieben, sondern ihnen die Fragen zu stellen, die sie beantworten müssen, damit... na ja, damit die Philosophie etwas Sinn- volles aussagt, das erlaubt, zwischen den dürren Fakten etwas zu verstehen; und damit Wissen mehr als nur verwertbar ist, Ergebnis der Fichte'schen Untersuchung ist: Vernünftig ist ein Bewusstsein, das sich aus Frei- heit Zwecke setzt – die es indes zu verantworten hat, weil es mit anderen Ichen in einer Reihe vernünftiger Wesen verbunden ist, die seine Vernünftigkeit verbürgen, indem sie seine Zwecke anerkennen in tätiger Aus- einandersetzung mit ihren eigenen Zwecken.

Eine so vervollständigte Vernunftkritik wäre nicht, wie Kant beanstandet hat, „bloße Logik“, denn die Wis- senschaftslehre knüpft nicht Begriffe nach allgemeinen Regeln an einander, sondern entwickelt (und be- stimmt) aus Vorstellungen neue Vorstellungen. Das ist nicht einfach Ableitung, sondern sinnhafte Begrün- dung. Die ganze Welt liegt darin beschlossen.

Die Gemengelage

Fichte selbst war sehr bald mit seiner ersten, noch scholastischen Darstellung der Wissenschaftslehredie indes die einzige schriftlich Fassung bleiben sollte - unzufrieden, die manchen Leser bis heute verleitet, sein Ich metaphysisch misszuverstehen. Und vor allen Dingen damit, dass er gleich beim Ich begonnen hatte, statt es aus der Vernunftkritik erst herzuleiten. Eben das unternahm er in der Vorlesungsreihe Nova methodo aus den Jahren 1797/99. Die ist allerdings nur als Kollegnachschrift erhalten und liegt erst seit vierzig Jahren gedruckt vor. 

Sie ist sozusagen eine Ausgabe Letzter Hand - letzter Hand nämlich vor Fichtes dogmatischer Wendung nach dem Atheismusstreit, in der er sich von der Transzendentalphilosophie im besondern und vom Kritischen Prinzip im allgemeinen losgesagt hat. Sie ist ihrerseits nicht vollendet, er gibt in der Schlussvorlesung einen Abriss dessen, was er noch vorhat. Dort findet sich ganz am Ende die Wendung zum Ästhetischen als der einzigen Möglichkeit, aus dem vernünftigen Alltagsbewusstsein überzugehen zu seiner Selbstreflexion in der Wissenschaftslehre. Es ist dieser Übergang, der die Wissenschaftslehre zu einem System werden lässt. Doch wer weiß schon davon? 

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts - seit dem 30jährigen Krieg - war Vernunft an Stelle der Offenbarung zum unbestrittenen Maßstab der Philosophie geworden. Sie ist im Zuge des pp. Deutschen Idealismus unter die Räder gekommen; und als sie sich im Neukantianismus wieder aufgerappelt hat, doch nur als Philologie. Ums kurz zu machen: Dabei ist es bis heute geblieben. Vernunftkritik ist nie wieder zum Thema geworden; so wenig, dass ein philosophischer Autor, der auf sich hält, das Wort Vernunft gar nicht erst in den Mund nimmt. Im breiten Publikum herrscht dagegen die treuherzige Vorstellung von einem konsensuellen Juste Milieu. Vernunft ist aber Kampf und Sieg des besseren Arguments. Vernunft ist erforderlich, wo Entschei- dungen getroffen werden sollen; um sie vor sich herzuschieben, reicht Gemütlichkeit. Vernunft wird nicht gehäkelt und gestrickt, sondern gehauen und gestochen. Wie anders wollte sie der Unvernunft sonst bei- kommen? Die ist ja von Natur im Vorteil.

Doch sind die Voraussetzungen wie immer ungünstig. Zu beginnen wäre nicht beim breiten Publikum, sondern bei den Philosophierenden. Die stehen sich aber seit Jahr und Tag als zwei feindliche Lager ge- genüber, sprachanalytische Systematiker hier, kontinentale Philologen da. Das Material ist ihnen zwar ge- meinsam: die Begriffe. Doch während die einen sich an deren unendlichen Differenzier- und Interpretier- barkeit erfreuen, wollen die andern durch akribisches Definieren je stahlharte Kerne festklopfen, an denen jeder weitere Bestimmungsversuch abprallen muss; Wahrheitspartikel ohne Voraussetzung, So hängen sie ohne sich dessen zu versehen dem vonWittgenstein überkommenen logischen Atomismus an und erwarten im Ernst, wenn jedes sprachliche Missverständnis ausgeräumt ist, sei allem Zwist unter und Menschen der Boden entzogen. 

Die 'kontinentalen' Philosophen finden hingegen im unendlichen Für und Wider, Einerseits Andererseits und Zwar Aber ihr Auskommen; farbiger ist das auf alle Fälle. Man kann, wenn alle Steine umgewendet sind, es ein zweites und ein drittes Mal beginnen. Es kommen stets wirklich neue Einsichten zustande. Doch irgend- wann liegen sie so eng beieinander, dass die verbleibenden kleinen Unterschiede wirklich nicht mehr nach ihrer Auflösung schreien. Dem Philosophierer wird langweilig und Philosophie wird zum Bildungsgut, das nur noch fürs ästhetische Betrachten taugt (doch manchmal reichlich). 

Über den eigentlichen Gegensatz – den Nutz und Frommen der Begriffe – reden sie gar nicht, sondern reden nebeneinander her. Manfred Frank fasst als möglichen Vermittlungspunkt die aus der analytischen Philoso- phie hervorgegangene amerikanische Theory Of Mind ins Auge. Fichtes Ich spielt dort eine prominente Rol- le, aber ganz aus seinem transzendentalen Sinnzusammenhang gerissen. Theory Of Mind ist eine Hybride aus Philosophie und Kognitionspsychologie. Worin ihr wissenschaftlicher Zugewinn bestünde und ob sie die Gegensätze auflösen oder nur verwirren kann, ist unklar. Dass die Analytiker aber mit ihrer Arbeit an einem Ober- oder Grundbegriff der eigenen Voraussetzungslosigkeit - paradox gesagt - den Boden entziehen, kann einem Kontinentalen schon gefallen. Er hätte aber nur einen Punkt markiert. Eine argumentative Überwin- dung der Fronten ist gar nicht möglich, weil sie keine Voraussetzungen miteinander teilen; umso mehr Wör- ter lassen sich allerdings aufbieten. 

Aus der Klemme hülfe, wenn es gewollt würde, ein energisches Wiederaufgreifen der so lange liegen geblie- benen Vernunftkritik. Sie rührt nicht in der Schaumkrone der Begriffe, sondern beobachtet die darunter lie- genden Tiefenströmungen der Vorstellung. Der Gegensatz von Kontinentalen und Historikern würde sich von selbst erledigen und damit viele brachgelegte Intelligenzen für einen Neustart der Vernunft aktivieren. Man- che haben davor kalte Füße, aber das ist die Schlacht, die es zu schlagen gilt. Die Zeit schreit förmlich da- nach.



Nota. - Diesen Text hatte ich für die FAZ geschrieben, aber sie wollten ihn nicht. Er ist ihnen nicht philolo- gisch genug...




 

Sonntag, 1. Dezember 2019

Die Reform der Schule muss bei den Lehrern anfangen.

 
aus Der Standard, Wien, 24. 11. 2014                                                                                                            aus  Levana, oder Erziehlehre

"Die Lehrer spielen sich als Richter auf"
Christine Eichel über vergiftetes Schulklima, bindungsfähige Lehrer und Unterricht à la "Friss, Vogel, oder stirb"

INTERVIEW | 
  
Eichel: Bindung und Bildung gehören zusammen, das ist in der Forschung unstrittig. Mit einem solidarischen, unterstützenden Gegenüber lernen wir motivierter, leichter und nachhaltiger. Hat ein Schüler Probleme, oft unverschuldet, weil er aus einem bildungsfernen Elternhaus stammt, wird er vom Lehrer aber meist abgelehnt. So gerät der Schüler in eine negative Schleife, wird verhaltensauffällig, die Konflikte schaukeln sich hoch. Die Lehrer spielen sich als Richter über gute und schlechte Leistungen auf. Vielen ist es egal, ob ihre Schüler erfolgreich sind. Das spüren die Kinder und Jugendlichen. Geraten sie aber an einen Lehrer, der ihnen signalisiert, dass ihr Erfolg ihnen am Herzen liegt, entsteht eine fruchtbare Lernbeziehung. Ein Umdenken ist erforderlich, und das ist ein langer Prozess, der von der Öffentlichkeit intensiv begleitet werden muss. Von selbst nehmen nur wenige Lehrer die Notwendigkeit dieses Rollenwechsels ernst. Die meisten meinen noch, es reiche aus, mit den immergleichen kopierten Aufgabenzetteln in die Klasse zu marschieren, nach dem Motto: "Friss, Vogel, oder stirb".
....
STANDARD: Was meinen Sie mit "Bindung"? Sind Sie sicher, dass sich Lehrer "binden" wollen?
Eichel: Viele Lehrer halten das für eine Zumutung, habe ich bei meinen Lesereisen erfahren. Sie fühlen sich schlicht überfordert. Wenn ich erzähle, wie an der ehemals chaotischen, gewaltgebeutelten Rütli-Schule in Berlin das Ethos einer Beziehungskultur gelebt wird, sind sie baff. Diese Schule hat sich eklatant zum Positiven verändert, seit die Lehrer sich als Bindungspersonen verstehen, sie besuchen jeden Schüler vor dem neuen Schuljahr zu Hause, sprechen mit den Eltern, machen sich ein Bild vom Umfeld. Die Lehrer veranstalten Elternfrühstücke und vieles mehr, was eine gemeinsame Zusammenarbeit begünstigt. Alle machen mit - auch Eltern aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund. Und die Lehrer versichern, dass sich die Mehrarbeit lohnt, weil sie zeit- und kräftezehrende Konflikte im Klassenzimmer verhindert. Leider ist dieses Beispiel nicht repräsentativ. Die Unwissenheit über die Relevanz eines bindungsorientierten Unterrichts ist ein Skandal.
STANDARD: Wie können Lehrerinnen und Lehrer "so etwas wie Beziehungskultur" in der Schule herstellen, wenn sie alleine in einer Klasse stehen?
Eichel: Das Missverständnis beginnt schon damit, dass viele Lehrer meinen, sie ständen einer Gruppe gegenüber. Sie sind Teil der Gruppe, natürlich mit einer spezifischen Rolle und Funktion. Das Stichwort ist Classroom-Management. Probleme wie Renitenzen und Provokationen müssen souverän gemanagt werden, indem der Lehrer dem betreffenden Schüler Aufmerksamkeit schenkt, zum Beispiel in einem Einzelgespräch. Das alte Denken, ein Lehrer müsse seine Schüler wie ein Dompteur seine Raubtiere im Griff haben, ist überholt. Jeder Mensch will geliebt und anerkannt werden. Das klingt simpel, vielleicht sogar sentimental, ist aber die Wahrheit. Wenn ein Lehrer ausstrahlt, dass er sich als Teil der Gruppe fühlt, dass ihm jeder am Herzen liegt und dass er auch als Mensch an seinen Schülern interessiert ist, erledigen sich viele Probleme.
STANDARD: Sie verlangen eine "Erneuerung von innen, nicht eine Reform von außen". Wie geht das?
Eichel: Lernforscher und renommierte Pädagogen wie John Hattie sind sich einig, dass die Lehrerpersönlichkeit eine zentrale Rolle für den Bildungserfolg der Schüler spielt. Es geht um Haltung. Die kann man nicht per Reform erzwingen. Zunächst sollten Lehrer bei sich selbst anfangen, denn alle Studien belegen, dass es ihnen nicht gutgeht - angesichts von Spitzenquoten bei Burnout, körperlichen und psychischen Erkrankungen. Sie fühlen sich überfordert und angefeindet. Und nicht nur das Klassenzimmer, auch das Lehrerzimmer ist oft vermintes Terrain. Ein kooperatives Klima unter den Lehrern wäre deshalb ein Anfang (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 24.11.2014)
Christine Eichel (55) promovierte an der Uni Hamburg in Philosophie mit einer Arbeit über Theodor W. Adorno, danach 15 Jahre Autorin, Regisseurin und Moderatorin für diverse TV-Sender, Gründungsredakteurin und Leiterin des Kulturressorts des Magazins für politische Kultur "Cicero", später bei "Focus", nun freie Autorin in Berlin.


Nota. - Sehen Sie ins Gesicht des Lehrers (finden Sie auch, er sieht aus wie Janusz Korczak?) Es gefällt ihm, er hat Freude, ein Schüler hat ihm seinen Hampelmann mitgebracht, er dreht ihn um und lässt sich die Mechanik zeigen. Das sind die Sternstunden der 'pädagogischen Situation': wenn der eine den andern lehrt, mit seinen Augen zu sehen. Das ist gegenseitig, anders geht's auf die Dauer nicht.
 JE, 24. 11. 2014

Doch eine Krise des Standardmodells?


Die kosmische Hintergrundstrahlung ist mehr als 13 Milliarden Jahre alt und damit die älteste Strahlung im Universum. Die winzigen Temperaturunterschiede (rot und blau) lassen unter anderem Rückschlüsse auf die Form des Universums zu.
aus nzz.ch, 13.11.2019                                                                                                                           

Ist das Universum doch geschlossen? Drei Astronomen behaupten das – und ecken damit an.
Flach und unendlich ausgedehnt soll er sein, der Kosmos. Das stimme nicht, behaupten nun drei Forscher und beschwören eine Krise der Kosmologie herauf. Mit ihrer Meinung stehen sie allerdings ziemlich allein auf weiter Flur.

von Christian Speicher 

Die Kosmologie wurde lange Zeit belächelt. Mangels präziser Beobachtungsdaten stand sie im Ruf, keine echte Wissenschaft zu sein. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Kosmologische Parameter wie das Alter oder die Expansionsrate des Universums lassen sich inzwischen mit einer Genauigkeit von wenigen Prozent messen. Dadurch ist es möglich geworden, das neue Bild vom Kosmos an der Realität zu messen.

Im Grossen und Ganzen kommt das Standardmodell der Kosmologie bei diesem Realitätstest gut weg. Zwar können sich Kosmologen keinen Reim darauf machen, warum sich das heutige Universum schneller auszudehnen scheint, als es präzise Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung nahelegen. Abgesehen von diesem Krisensymptom steht das Modell jedoch mit ganz verschiedenen kosmologischen Beobachtungen im Einklang. Jetzt behaupten drei Forscher allerdings, die Krise der Kosmologie gehe viel tiefer und werde lediglich durch die dem Standardmodell zugrunde liegende Annahme kaschiert, das Universum sei flach. Tatsächlich spreche einiges dafür, dass das Universum gekrümmt und in sich geschlossen sei wie die Oberfläche einer Kugel in zwei Dimensionen. 

Keime späterer Galaxien 

Eleonora di Valentino, Alessandro Melchiorri und Joseph Silk stützen sich bei ihrer Analyse auf Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung mit dem europäischen Planck-Satelliten. Diese Strahlung entstand, als das Universum 380 000 Jahre alt war. Mit der Ausdehnung des Weltalls wurde auch die Wellenlänge der Strahlung gedehnt, so dass sie heute als Mikrowellenstrahlung wahrgenommen wird, die überall annähernd die gleiche Temperatur hat. Schaut man jedoch ganz genau hin, so offenbaren sich auf kleinen Skalen winzige Temperaturunterschiede. Sie rühren daher, dass die Materie schon kurz nach dem Urknall kleinste Dichteunterschiede aufwies, die sich später zu Galaxien und Galaxienhaufen auswachsen sollten.

Misst man die Stärke dieser Temperaturschwankungen in Abhängigkeit von ihrer Ausdehnung, so lassen sich aus der Hintergrundstrahlung diverse kosmologische Parameter ableiten. Einer davon ist die Krümmung des Universums. Welche Geometrie der Kosmos als Ganzes hat, hängt von seiner Materie- und Energiedichte ab. Ist diese grösser als eine kritische Dichte, so ist das Universum gekrümmt und in sich geschlossen. Ist die Materie- und Energiedichte hingegen gleich der kritischen Dichte, so reicht die Gravitation der Materie nicht, den Raum zu krümmen. Er ist flach und unendlich ausgedehnt wie ein Blatt Papier in zwei Dimensionen.


Aus der Stärke und der Ausdehnung der Temperaturschwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung können Forscher ableiten, ob das Universum offen (links), flach (Mitte) oder geschlossen (rechts) ist.

Aus theoretischen Gründen favorisieren Kosmologen ein flaches Universum. Doch schon der Planck-Arbeitsgruppe war vor einigen Jahren aufgefallen, dass die Daten ihres Satelliten nicht völlig konsistent mit dieser Annahme sind. Die Ablenkung, die die kosmische Hintergrundstrahlung im Gravitationsfeld der Materie entlang ihres Weges erfährt, sprach tendenziell dafür, dass das Universum überkritisch und mithin gekrümmt ist. Diese leichte Präferenz für ein gekrümmtes Universum verschwindet allerdings, wenn man die Planck-Daten mit anderen Beobachtungsdaten kombiniert. Damit trug der Planck-Satellit dazu bei, dass sich das gegenwärtige Standardmodell der Kosmologie etablieren konnte, in dem das Universum als flach angenommen wird.

Die drei Forscher halten das Vorgehen der Planck-Arbeitsgruppe allerdings für falsch. Man dürfe verschiedene Datensätze nur dann kombinieren, wenn sie konsistent miteinander seien, sagt Alessandro Melchiorri von der Universität La Sapienza in Rom. Sonst verschleiere man die Widersprüche zwischen verschiedenen kosmologischen Beobachtungen. Melchiorri ist einer der drei Autoren. Pikanterweise ist er auch Mitglied der Planck-Arbeitsgruppe.

In ihrer Publikation haben die drei Forscher untersucht, welche Konsequenzen es hat, wenn man die Präferenz für ein gekrümmtes Universum ernst nimmt. Zunächst einmal zeigen sie, dass ein geschlossenes Universum 41-mal wahrscheinlicher ist als ein flaches, wenn man sich alleine auf die Planck-Daten stützt. In einer Arbeit, die bisher nur als Preprint vorliegt, kommt Will Handley von der Cambridge University zu einem ähnlichen Ergebnis.

Bestärkt sehen sich die Forscher dadurch, dass die Annahme eines gekrümmten Universums bekannte Widersprüche in den Planck-Daten zum Verschwinden bringt. Geht man vom Modell eines flachen Universums aus, so liefert die Analyse der Temperaturschwankungen auf kleinen und grossen Skalen leicht unterschiedliche Werte für einige kosmologische Parameter. Das ist nicht der Fall, wenn man das Standardmodell der Kosmologie erweitert und eine Krümmung des Raumes zulässt. 

Der Preis der Krümmung

Allerdings hat die Annahme eines gekrümmten Universums einen Preis. Sie führt zum Beispiel dazu, dass der aus den Planck-Daten abgeleitete Wert für die Hubble-Konstante – diese gibt an, wie schnell sich das Universum heute ausdehnt – kleiner wird. Dadurch würde die Diskrepanz mit der direkt gemessenen Expansionsrate noch grösser, als sie es jetzt schon ist. Zudem würden sich auch die Spannungen mit anderen kosmologischen Beobachtungsdaten verschärfen. Melchiorri und seine Mitarbeiter ficht das aber nicht an. Sie sehen darin ein Indiz, dass man die Probleme des Standardmodells bisher unterschätzt hat und die Krise der Kosmologie schwerwiegender ist als gedacht.

Martin Kunz von der Universität Genf, wie Melchiorri ein Mitglied der Planck-Arbeitsgruppe, teilt diese Ansicht nicht. An der Analyse von Melchiorri und seinen Mitarbeitern hat er nichts auszusetzen. Was ihn stört, ist die Interpretation der Planck-Daten. Dass es in diesen Daten kleinere Unstimmigkeiten gebe, sei seit längerem bekannt. Andere Mitglieder der Planck-Arbeitsgruppe hätten diese kürzlich ausführlich diskutiert. Die in der Gruppe vorherrschende Meinung sei, dass die Unstimmigkeiten auf moderate statistische Fluktuationen zurückzuführen seien. Deshalb vom Modell eines flachen Universums abzurücken, sei nicht gerechtfertigt, so Kunz. Dazu seien die Unstimmigkeiten nicht gravierend genug.

Vor allem aber stört sich Kunz daran, dass ein gekrümmtes und in sich geschlossenes Universum das Problem mit der Hubble-Konstante verschärft. Wenn die Situation nicht besser, sondern schlimmer werde, sei das ein schlechtes Argument für eine Erweiterung des Standardmodells der Kosmologie.



Das theoretische Modell. 

Das theoretische Modell ist dazu da, in einer Sache ihren Sinn freizulegen. Wenn man sieht, wie sie funktioniert und welche Resultate sie erbringt, wenn man Kontingenz ausscheidet und sie auf sich selbst reduziert, so mag man darin einen Zweck erkennen, der sich mit den Zwecken vergleichen lässt, die man selber verfolgt: Danach wird man die Sache bewerten.

Wenn dies nicht die Absicht ist, wenn man nicht bewerten und verwerten will, und sei es zu Erkenntniszwek- ken, kann man kein Modell entwerfen.

Merke: Ohne eine solche Absicht lässt sich eine Sache gar nicht als 'sie selbst' bestimmen; nicht unterscheiden, was dazu gehört und was kontingent ist.


26. 10. 16 


Nota. - Das ist das erkenntnislogische Problem: Wer vom Kosmos ein stimmiges Modell darstellen, nämlich Alles "auf einen Nenner" bringen kann, scheint einen Zweck desselben aussagen zu wollen. Das ist auch nicht ganz falsch. Denn um eine sinnvolle Ordnung hineinzubringen, muss er sie beabsichtigen. Von alleine kommt sie nicht zustande. Doch nur dann müsste er sie nicht selber verantworten. Wenn es sich aber rechnerisch von ganz allein ergäbe, wär' er fein rus. Darum versuchen sie es immer und immer wieder.
JE