Dienstag, 4. August 2020

Caravaggio in Holland.


aus Badische Zeitung, 24. 4. 2019                             Caravaggio,  Grablegung Christi (ohne Jahresangabe)
"Utrecht, Caravaggio und Europa" in der Münchner Alten Pinakothek
So spannend kann Kunstgeschichte sein: Die Münchner Alten Pinakothek zeigt, wie Caravaggios Werk die Maler Hendrick ter Brugghen, Dirck van Baburen und Gerard van Honthorst in seinen Bann zog. 

Von Volker Bauermeister   

Die Ausstrahlung Roms war immens. Im Heiligen Jahr 1600 zog es unzählige Pilger an. Auch für Europas Künstler war Rom eine Pilgerstätte. Dort fanden sich kanonische Werke der Antike, Raffaels und Michelangelos. Und in der Ewigen Stadt tat sich gerade sensationell Neues. Der niederländische Maler und Kunsthistoriograph Carel van Mander sprach es in seinem 1604 erschienenen "Maler-Buch" an. Da sei "auch ein Michael Agnolo aus Caravaggio", der "wundersame Dinge" tue. Sein Standpunkt sei, "der Natur zu folgen"; die Kunst solle strikt "nach dem Leben getan" sein. Zwar sei dieser Caravaggio ein zwielichtiger, streitsüchtiger Geselle, doch seiner "wunderbar schönen" Art der Gestaltung sollten junge Maler unbedingt folgen. 


Caravaggio, Marientod,

In der Tat wirkt Caravaggio magnetisch. Die Ausstellung in der Münchner Alten Pinakothek, die zuvor schon in Utrecht war, fasst die famose Wirkungsgeschichte materialreich zusammen. Sie vereint Künstler aus Italien, Frankreich und Spanien. Im Mittelpunkt aber stehen drei Holländer, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts in Rom in den Bann Caravaggios gerieten. Hendrick ter Brugghen, Dirck van Baburen und Gerard van Honthorst kamen aus Utrecht, nachdem Caravaggio schon aus Rom geflohen war – er hatte im Streit einen Mann getötet: Sie fanden, was er ihnen zu sagen hatte, in den Kirchen und Palazzi der Stadt. Seinen provokanten Naturalismus eigneten sie sich auf je unterschiedliche Weise an. Von ihrer Eigenart, nicht von Abhängigkeit handelt die Ausstellung. Das Spektrum nicht nur des Utrechter Caravaggismus illustriert sie auf der Basis von Bildvergleichen.


Gerard van Honthorst, Die Enthauptung von Johannes dem Täufer, 1617

Den Anfang macht eine Tuschzeichnung Gerard van Honthorsts, die 1616 nach Caravaggios "Kreuzigung Petri" in der Kirche Santa Maria del Popolo entstand. Sie folgt dem Vorbild – und weicht doch auch signifikant davon ab. Das dramatische Hell/Dunkel Caravaggios ignoriert sie. Honthorst zieht dann eine eher lyrisch pittoreske Beleuchtung vor. In Rom ist er bald der "Gherardo delle Notti", der beliebte Arrangeur nächtlicher Kunstlichteffekte. Caravaggio ist stets darauf aus, mit seinem Schlaglicht etwas bedeutsam hervorzukehren. Der Holländer findet Gefallen an der stimmungs- vollen Beschreibung. Als er für Santa Maria della Scala eine "Enthauptung Johannes des Täufers" malt, kennt er gewiss die Skandalgeschichte um Caravaggios "Marientod" am selben Ort. Die mit roher Wirklichkeit durchtränkte Leinwand wurde von den Ordensleuten am Ende abgelehnt. Der "Gherardo delle Notti" malt ihnen nun 1617/18 eine Hinrichtung eher wie eine stille Andacht.

Gerrit van Honthorst, Fröhlicher Geiger mit Weinglas, 1623,


Caravaggio und seinn penetrantes Auge

Dirck van Baburen ist ein schrofferer Charakter. In seiner "Grablegung Christi" für die Kirche San Pietro in Montorio greift er Caravaggios viel gerühmte "Grablegung" [s. Kopfbild] auf. Sein Nikodemus stellt sich dabei gewaltsam verzerrt, der Leib Christi mit schonungsloser Offensichtlichkeit als leblos dar. Das Licht flackert bedenklich, wie eine Kerzenflamme in Zugluft. Dieser Akt der Grablegung ist ein qualvolles Stück Arbeit. Caravaggio dagegen war der Auftritt zur grandiosen Schaustellung geraten. Zu standbildhafter Prägnanz bindet der die Handlung. Die aus dem Raumdunkel heraustretenden Handlungsträger vereint er zu einem gewaltigen Figuren-Fächer. Die Grabplatte lässt er die Grenze zwischen Bildraum und realem Raum illusionistisch durchstoßen. Die Szene drängt sich unmittelbar auf. In ihrer unglaublichen Gegenwart kommt das Mirakel des Christenglaubens zur Geltung. Dass dies Exempel der Malereigeschichte aus den Vatikanischen Museen jetzt in die Ausstellung kam, ist schon allein ein Ereignis! (Vorzeitig, am 19. Mai, hat es allerdings ein Ende.)

Dirck van Baburen, Grablegung Christi

Caravaggio realisiert die großen sakralen Themen mit seinem Wissen um die profane Wirklichkeit. Und es will immer scheinen, als lege sein penetrantes Auge es darauf an, Glaubenszweifel durch Anschauung anzugreifen. Bilder wie "Der ungläubige Thomas" entfalten eine beispiellose Macht der Überzeugung. Die Italiener Bartolomeo Manfredi und Orazio Gentileschi sieht man etwa beim Thema der "Dornenkrönung" seinem Regiestil folgen: die Figuren quasi freistellen und skulptural fixieren. Dirck van Baburen zieht die Szene der Passion Christi viel eher in die Breite einer Erzählung. Mit sinnlicher Gegenwart und vielstimmigen Farben zieht Hendrick ter Brugghen an. Er ist der Kolorist, der der Program- matiker des Hell/Dunkel, Caravaggio, nicht sein wollte. Hendricks Mut zur Hässlichkeit schockiert. Seine Sicht des Schönen kommt ohne Floskeln aus. Scheinbar Nebensächliches wiegt schwer, allein durch die eindringliche Optik. Der gebauschte, von Helligkeit erfüllte Ärmel eines Querflötenspielers taugt zum Bildnis eines lichten Augenblicks. Das nahsichtige Musikerporträt klingt in den Augen.

Hendrick Terbrugghen, Boy Playing a Fife, 1621

Zum bildnerischen Funktionsplan des erklärten Naturalisten Caravaggio gehört unverkennbar eine artifizielle, an der Kunstgeschichte geschliffene figürliche Gestik. Diesen Widerspruch baut Hendrick ter Brugghen noch sozusagen aus. Er operiert künstlerisch retrospektiv, bedient sich altniederländischer und altdeutscher Figurentypen und Handlungsmuster. Einem altertümlichen Christus am Kreuz verleiht er mit seinem durch Caravaggio geschärften Blick eine überraschend neue Wirklichkeit. Die Alten Meister – Dürer oder Lucas van Leyden – funktionalisiert er für sich frei und souverän, wie er es mit dem Zeitgenossen Caravaggio tut. Der von Pfeilen durchbohrte, halbtote Heilige Sebastian gelingt ihm so eindrucksvoll und die ihn hegende Irene, weil er die Geschichte christlicher Kunst verinnerlicht hat – und weil er das reale Leben in Betracht zieht, mit der Brutalität der Straße und der Tavernen und den intimen, unsagbar liebevollen Momenten der Begegnung.

Alte Pinakothek, München. Bis 21 Juli, Di, Mi 10 – 21, Do bis So 10 -18 Uhr.

Hendrick ter Bruggen, Kreuzigung mit Maria und Johannes dem Evangelisten,




Caravaggio, Kartenspieler













Jan van Steen, Die Zeichenstunde




Jacob van Ruisdael, View of Haarlem with Bleaching Grounds, c. 1670–75
27. 4. 19

A priori und a posteriori kann zweierlei heißen.

eckental                      zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

A priori und a posteriori kann zweierlei heißen: A) Entweder es ist vom ganzen System des Bewusstseins die Rede; dies kann betrachtet werden als gegeben, wie es im gemeinen Bewusstseint vorkommt, und dann heißt es a poste-riori; wird es vom Philosophen abgeleitet, heißt es a priori in der weitesten Bedeutung. 

B) Oder a posteriori heißt, was zufolge eines Gefühls der reinen* Anschauung vorkommt, und dann heißt a priori das, was durch denken in das Mannigfaltige der Gefühle hineingetragen wird, um das Mannigfaltige zu vereini-gen. Kant hat die Form des Denkens in diesem Verfahren richtig geschildert, aber das Materiale, woher es kommt, fehlt.
*) [kann auch heißen: innern]  
_________________________________________________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 137


Nota. - Das "ganze System des Bewusstseins" ist nichts anderes als die vernünftige - rationale - Weltauffassung. Sie liegt all unserem alltäglichen Verkehr miteinander als eine selbtverständliche und darum unausgesprochene Erfah-rungstatsache zugrunde.

A priori heißt darum für den buchstabengelehrten Kantianer "vor der Erfahrung". Wo es herkommt, weiß er nicht und muss er nicht wissen, denn dazu hat sich sein Meister nicht ausgesprochen. Fichte leitet es dagegen aus dem sich-selbst-setzenden Ich ab: Es geht aller Erfahrung voraus.

Für den Buchstabengelehrten - Fichte nennt ihn spöttisch einen "orthodoxen Kantianer" - ist A postriori ein be-stimmtes abgeschlossens Reich: alles, was in der wirklichen Welt von unsern Sinnen bemerkt werden kann und also erfahrbar ist. 

So weit, als von den Dingen die Rede ist.

In der Transzendentalphilosophie ist aber nicht von Dingen, sondern von Vorstellungen die Rede. Hier heißt a posteriori dasjenige in der Vorstellung, was von einem Sinnesdatum - 'Gefühl' - ausgeht; a priori ist hier das, was das Denken - die Reflexion! - aus Freiheit hinzutut. Das ist fast dasselbe wie bei den Orthodoxen, nur aus anderer Perspektive betrachtet. Und mit dem bemerkenswerten Kuriosum, dass die Re flexion, die nach aller intelligiblen Wortbedeutung hinter her kommt, als a priori auftritt.
JE


Montag, 3. August 2020

Neue Zweifel am Standardmodell.

Structure of the Universe
aus scinexx.de                                                                                                                                 zu

Das Universum ist homogener als gedacht
Messung der Materieverteilung ergibt gut acht Prozent Abweichung zum Standardmodell

„Verbotene“ Diskrepanz: Einer neuen Messung zufolge könnte die Materie im Kosmos gleichmäßi-ger verteilt sein als sie dürfte. Sie ist um gut acht Prozent homogener als es das kosmologische Stan-dardmodell und Messungen der Hintergrundstrahlung besagen. Das könnte auf eine „neue Physik“ jenseits des Standardmodells hindeuten – aber auch auf einen systematischen Fehler, so die Astrono-men. Weitere Messungen sollen die Antwort liefern.

Ob Galaxien, Dunkle Materie oder auch gigantische leere Räume: Die Materieverteilung im heutigen Kosmos geht gängiger Theorie nach auf winzige Dichtefluktuationen im frühen Universum zurück, die dann durch die kosmische Expansion verstärkt und vergrößert wurden. In welchem Maße dadurch die Verteilung der Materie homogen oder inhomogen wurde, beschreibt das kosmologische Standardmodell. Doch diese Vorhersagen zu überprüfen, ist nicht einfach – und sorgt in den letzten Jahren zunehmend für Widersprüche.

Mysteriöse Abweichungen

Das Problem: Ähnlich wie schon bei der Expansion weichen die Werte für die Materieverteilung erheblich voneinander ab – abhängig davon, ob man sie im heutigen oder frühen Kosmos misst. An einem Ende der Spanne stehen die Dichtefluktuationen, die in der kosmischen Hintergrundstrahlung konserviert sind. Sie wurden unter anderem durch Messungen des Planck-Satelliten bestimmt.

Das andere Extrem sind Messungen der Materieverteilung im heutigen Kosmos anhand des Gravitationslin-seneffekts. Dabei verursacht die Schwerkraft von Massen im Vordergrund subtile Verzerrungen im Licht ferner Galaxien. Das Ausmaß dieser kosmischen Scherung – unter anderem in Form des sogenannten S8-Parameters – erlaubt dann Rückschlüsse auf die Dichte und Verteilung von sichtbarer und Dunkler Materie in diesem Raumgebiet.

Doch schon vor einigen Jahren ergaben solche Scherungsmessungen Diskrepanzen zu den Planck-Werten: Die Dunkle Materie war gleichmäßiger verteilt, als sie es nach den Dichtefluktuationen der Hintergrund-strahlung sein dürfte.

8,3 Prozent homogener als vorhergesagt

Diese Abweichung wird nun durch eine neue Messung bestätigt. Im Rahmen des Kilo-Degree Survey haben Astronomen mithilfe des Very large Telescope (VLT) in Chile den Scherungseffekt an 31 Millionen Galaxien untersucht. Die Durchmusterung deckt fünf Prozent des extragalaktischen Himmels ab und reicht bis in zehn Milliarden Lichtjahre Entfernung. Damit sind in dieser Probe auch Galaxien aus der Jugendzeit des Kosmos enthalten.

Das Ergebnis: In der grundsätzlichen Materiedichte stimmen die neuen Daten zwar mit den Planck-Messungen überein, nicht aber im Scherungswert S8, der angibt wie stark die Materiedichte bei einer bestimmten Durchschnittsdichte schwankt. Der Kilo-Degree-Survey kommt auf einen S8-Wert von 0,766 – und liegt damit um 8,3 Prozent unter den Planck-Werten. Demnach ist die Materie der aktuellen Messung zufolge um knapp zehn Prozent homogener verteilt, als sie es nach dem Standardmodell und den Planck-Daten sein dürfte.

Wird die Dunkle Energie stärker?

Damit vertieft sich die Diskrepanz zu den aus der Hintergrundstrahlung abgeleiteten Werten. „Dafür kann es mehrere Gründe geben“, erklärt Koautor Hendrik Hildebrandt von der Ruhr-Universität Bochum. „Entweder wir oder eines der anderen Forschungskonsortien hat einen systematischen Fehler bei der Datenauswertung gemacht – oder es stimmt etwas nicht mit dem Standardmodell der Kosmologie.“

Tatsächlich gibt es eine alternative Theorie, die die Abweichungen erklären könnte. In diesem Modell ist Einsteins kosmologische Konstante nicht konstant, sondern verändert sich im Laufe der Zeit. Konkret wäre dies beispielsweise der Fall, wenn die ausdehnende Kraft der Dunklen Energie seit der Frühzeit des Universums zugenommen hat oder aber ihre Dichte steigt. Erste Hinweise darauf haben Astronomen 2019 bei der Vermessung von fernen Quasaren gefunden.

Noch sei es aber zu früh, um das Standardmodell der Kosmologie zu verwerfen, sagt Hildebrandt. Statistisch gibt es eine etwa einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass der Datensatz des Kilo-Degree-Survey doch mit den Planck-Daten überlappt.

Drei künftige Messungen könnten das Rätsel lösen

Ob sich die Abweichungen geben oder aber bestätigen, könnte sich in den nächsten Jahren zeigen. Zum einen wird in ein bis zwei Jahren die finale Karte des Kilo-Degree-Survey vorliegen, die einen 30 Prozent größeren Himmelsausschnitt umfasst als die aktuellen Daten. Zusätzlich werden in naher Zukunft zwei weitere Messungen die kosmische Scherung durch Gravitationslinsen messen – der Euclid-Satellit der ESA und das Rubin-Teleskop in Chile.

„Diese Observatorien werden den ersten Weak-Lensing-Survey des gesamten Himmels durchführen und sich in Bezug auf ihre Tiefenschärfe und räumliche Auflösung ergänzen“, erklären die Forscher des Kilo-Degree-Projekts. Die Ergebnisse aller drei Durchmusterungen könnten dann zeigen, ob das kosmologische Standardmodell Recht behält oder ob sich das Universum doch anders verhält, als Einstein und seine Nachfolger postuliert haben. „Eins ist klar, wir leben in spannenden Zeiten!“, sagt Hildebrandt. (Astronomy and Astrophysics, Preprints)

Quelle: Ruhr-Universität Bochum


Wissenschaft ist der Weg zur Erkenntnis. Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu hundert Prozent sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. Wissenschaft bedeutet auch, dass sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert; sie ist keine Heilslehre, kei-ne Religion, die absolute Wahrheiten verkündet. Wer ständig ruft ,Folgt der Wissenschaft!‘, hat das offen-sichtlich nicht begriffen.

Das kommt Ihnen bekannt vor? Sie haben Recht, es ist nicht von mir. Aber es könnte von mir sein.
JE


 

Gibt es 'den Verismus'?

Kommentar zu einem Ausstellungsbericht 
John de Andrea Ariel II, Denver, 2011,

"Ein epochenübergreifendes Phänomen", heißt die Ausstellung im Untertitel. So ist es: Wenn man sich die Epochen nacheinander anschaut, wird einem auffallen, dass sich gewisse Merkmale - Eigenschaften, Züge, Charakteristik - in der einen und auch in den andern finden. Man wird die Phänomene herauspicken, neben einander halten und vergleichen. Und wenn man das gewohnheits- oder gar erwerbsmäßig tut, wird man gar meinen, ohne es recht zu bemerken, es gäbe im Hintergrund oder im Untergrund oder latent und stets auf dem Sprunge lauernd "die veristische Skulptur", die sich zu allen Zeiten immer wieder mal in die Er-scheinung gedrängelt hat. Dann macht man sie zum sujet - engl. subject - einer Ausstellung, und schon hat sie eigene Wirklichkeit.

spätgotisch, denke ich, aber ich konnte nichts herausfinden

Eins haben die gezeigten Bilder auf jeden Fall gemeinsam - eine Absicht der genauen Wiedergabe. Doch was meinte ein Künstler des 18. Jahrhunderts, wenn er uns die Wunden Jesu so echt "wie im wirklichen Leben" zeigen musste - war es dasselbe, was ein Künstler Mitte des 20. Jahrhunderts meinte, als er eine nackte Frau so detailgenau wie möglich in Bronze goß und mit Farbe bemalte wie die alten Griechen? Das ist kaum anzunehmen, die Jesusfigur war Gegenstand eines ritualisierten öffentlichen Kults, die pseudo-antike Venus ist offenbar nicht so ("nicht ganz so") gemeint, wie sie aussieht, sondern 'will auf etwas ver-weisen', aber auf was?

Das ist nicht dieselbe Frage wie etwa die, inwiefern sich Realismus, Verismus, Hyperrealismus, PopArt und was weiß ich noch unterscheiden oder womöglich auch nicht. Denn das sind Kategorien für den Kunsthisto-riker und mehr noch Händler und Sammler, aber sie helfen nicht, 'den Blick zu weiten' (oder auch nur zu schärfen), sondern verführen im Gegenteil zum Klassifizieren...

Michel Erhart (um 1440-45–nach 1522), Apostelbüsten, linke Predellengruppe des Hochaltars in Blaubeuren, ehemalige Benediktinerkloster-kirche, 1493-1494
27. 8. 15 

Nachtrag. Eins sei zur untersten Abbildung noch bemerkt: Veristisch hat Michel Erhart seine Apostelgruppe in Blaubeuren offenbar nicht gemeint - sonst hätte er die Gesichter individualisiert wie bei einem Porträt. Tatsächlich aber hat er fünfmal dasselbe Gesicht geschnitzt. Es ist weder anzunehmen, dass er das nicht be-merkt, noch gar, dass er es für 'wahrhaftig' gehalten haben könnte. 



 

Einfach und vermittelt.

                                                                                      aus Marxiana

Capital ist unmittelbare Einheit von Product und Geld oder besser von Production und Circulation. So ist es wieder selbst ein Unmittelbares, und / seine Entwicklung besteht darin, als diese Einheit, – die als bestimmtes und daher einfaches Verhältniß gesezt ist – sich selbst zu setzen und aufzuheben. Die Einheit erscheint zu-nächst im Capital als etwas Einfaches. 
________________________________________________
K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.1, S. 247f. MEW 42, S. 251] 


Nota I. - 'Kokettiert' er wieder nur mit der Hegel'schen Ausdrucksweise? Ein "materialistischer" oder auch bloß kritischer und nichtmetaphysischer Autor würde ja an dieser Stelle sagen: Produktion und Zirkulation sind gar keine Sachen, und für sich genommen 'gibt es' sie gar nicht. Was 'es gibt', sind produzierende und austauschen-de Menschen. Was da als eine Entwicklung von einem Begriff zum andern erscheint, sind jeweils nur unter-schiedliche Momente im praktischen Verhältnis der einen zu den andern. Und was als einfach und was als ver-mittelt erscheint, hängt ganz davon ab, auf welchen Punkt des prozessierenden Verhältnisses man blickt.
6. 2. 16 


Nota II. - Man könnte hinzufügen: Was mir als einem Glied der bürgerlichen Gesellschaft als ein Unmittelbares begegnet, ist mitnichten ein Einfaches. Es ist tausendfach vermittelt, und das beginnt damit, dass es - mehr oder weniger präzise - durch meine Sprache bezeichnet ist: So unmittelbar es mir vorkommt, hat es in aller Regel doch immer schon eine Bedeutung. Ja und selbst, wenn seine Bedeutung einstweilen noch nicht offenkundig ist, so hat es doch schon diese 'Bedeutung', dass ihm eine Bedeutung schmerzlich fehlt und nichts dringender ist, als ihm eine anzuerfinden. 

So ist das Kapital eine unmittelbare Einheit von Produktion und Zirkulation nur auf dem aller höchsten und am weitesten vermittelten Standpunkt des gesellschaftlichen Ganzen - und "erscheint" erst im III. Band des Kapital. Im I. Band erscheint es vergleichstweise 'einfacher', ist aber einseitig nur als Produkt gefasst, ist eine Abstraktion und kommt dem Leser doch wie - ein Unmittelbares vor. - Da viele Marx-Schulungen beim Ersten Band stehen- blieben, musste das, was an Marxens Darstellungsmethode "das Dialektische" ist, also im Nebel bleiben.

PS. Zu beanstanden aber ein grober Schnitzer: Je bestimmter etwas (ein Verhältnis) ist, um so weniger einfach ist es. 'Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist; Einheit des Mannigfaltigen.' Das Konkreteste ist also das Komplexeste. Das Einfache ist möglich nur als Abstraktion.
JE, 29. 4. 18






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
 

Das Gedächtnis im Bewusstsein.

                                                                         aus Philosophierungen

Dem naiven – nein: dem kindlichen Gemüt erscheint alles, was vorkommt, 'so, wie es ist'; d. h. als wenn es ist. Dabei unterscheidet es nicht zwischen 'außen' und 'innen': Alles 'kommt vor' mit gleicher Gewissheit.

Aber nur im ersten Moment. Denn sogleich zeigt sich ein Unterschied zwischen einem, das bleibt, und einem, das wechselt. Das Bemerken eines Unterschieds zwischen Bleibendem und Wechselndem ist der erste Akt der Reflexion: Denn es bedarf des Erinnerns an das, was bleibt, und an das Wechselnde. Das Gemüt achtet auf 'sich selbst'. Indes, auch diese Unterscheidung 'kommt' ihm 'vor'. Seine Erinnerung gehört zum Vorkommenden und ist nicht ich, sondern ein Es wie Alle Andern.


Sobald das Gemüt das Gedächtnis als sein eigenes wahrnimmt, hat es Sinn, von Bewusst-sein zu reden. Ist es richtig, diese Einsicht in die Eigenheit des Erinnerns aus dem Verkehr mit den Andern her zu leiten? Das setzte voraus, dass die vorkommenden Andern als 'in gewisser Hinsicht mir gleich' erkannt und von dem toten Andern unterschieden wurden. Eine Unterscheidung, die schlechterdings nicht anders als aus dem Verkehr her zu leiten ist! Eine Unterscheidung, die allerdings nicht Menschen und Dinge 'setzt', sondern Belebtes, d. h. Handelndes, und totes Vorkommnis.

Wobei unklar ist, wo die Grenze verläuft: 'Handelt' das Wetter, handeln Sonne und Mond? Die Tiere handeln auf jeden Fall. Die erste Stufe des Bewusstseins kann nicht anders als ani-mistisch sein. 'Das Animierte' wird sodann nur geordnet nach dem, was mir im Verkehr 'nä-her', und was mir 'ferner' steht. Die fremde Menschengruppe mag, je nach Grad der Feind-seligkeit, mal als den Tieren und mal als 'uns selbst' näher wahrgenommen werden.


aus e. Notizbuch, um 2006





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