Freitag, 4. Februar 2022

»Wir überschätzen die Rolle des Bewusstseins systematisch«

aus spektrum.de, 4. 2. 2022                                                                                     zuJochen Ebmeiers Realien; zu Philosophierungen

Was wissen wir über das Bewusstsein?
Ein Gespräch über Geist, Gehirn und ihre Beziehung zueinander mit der Neuro-wissenschaftlerin Melanie Wilke und dem Philosophen Michael Pauen.

Interview von Steve Ayan

In den vergangenen 20 Jahren haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieles über das Bewusstsein gelernt. Einer der größten Fortschritte: Das Bewusstsein ist inzwischen ein etablierter Gegenstand der empirischen Forschung, sagen die Neuro-wissenschaftlerin
Melanie Wilke und der Philosoph Michael Pauen. Im Interview erklären sie, vor welchen Hürden Forscherinnen und Forscher immer noch stehen und wie sie die »harte Nuss« des Leib-Seele-Problems endlich knacken wollen.


Frau Wilke, Herr Pauen, Bewusstsein ist ein ziemlich abstraktes Thema für ein Interview. Ich würde daher gern mit einem Spiel beginnen. Beantworten Sie die folgenden Fragen bitte möglichst kurz. Bereit? Die erste Frage lautet: Sind Sie Ihr Gehirn?

Melanie Wilke: Ja – und noch etwas mehr. Mein restlicher Körper gehört auch dazu.

Michael Pauen: Ich würde aus dem gleichen Grund eher Nein sagen. Ich kann zum Beispiel Rad fahren, mein Gehirn allein kann das nicht.

Bringt Hirnaktivität Bewusstsein hervor?

Pauen: Sie bringt es nicht hervor, sondern bestimmte neuronale Aktivitätsmuster sind mit bestimmten Bewusstseinszuständen identisch.

Wilke: Bewusstseinszustände und -inhalte korrelieren mit messbaren Mustern der Hirnaktivität, auf mehr würde ich mich nicht festlegen.
 

3/2022 Dieser Artikel ist enthalten in Gehirn&Geist 3/2022



 

 

 

 

Ist Bewusstsein ein Zustand oder ein Kontinuum?

Pauen: Letzteres, es gibt zahlreiche Abstufungen.

Wilke: Das Bewusstsein gibt es nicht, sondern man muss nach verschiedenen Formen und Inhalten differenzieren. So unterschieden wir unter anderem den Zustand der Wachheit, bewusste Wahrnehmungsinhalte, Metakognition und Ich-Bewusstsein.

 

Melanie Wilke | (geboren 1976 in Eilenburg) ist Direktorin des Instituts für Kognitive Neurologie an der Universitätsmedizin Göttingen. Sie studierte Psycholinguistik, Neuropsychologie und Neurobiologie in München und promovierte am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen zu elektro-physiologischen Korrelaten visuellen Bewusstseins. Nach Forschungsstationen an den National Institutes of Health in Bethesda sowie am Caltech in Pasadena (beides USA) wurde sie 2011 auf eine Schilling-Professur nach Göttingen berufen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den neuronalen Mechanismen, die normalen und gestörten Bewusstseinsprozessen zu Grunde liegen.

 

Denken und handeln wir weniger bewusst, als wir glauben?

Wilke: Phänomene wie die »inattentional blindness« (siehe »Kurz erklärt«, Anm. d. Red.) zeigen: Wir nehmen Objekte in unserer Umgebung oft weniger bewusst wahr, als es uns scheint – insofern ja.

Pauen: Ja, wir überschätzen die Rolle des Bewusstseins systematisch, weil all das, was uns nicht bewusst ist, in unseren Erklärungen für das eigene Handeln gar nicht auftaucht.

Wird es jemals bewusste Maschinen geben?

Wilke: Das halte ich nicht für ausgeschlossen. Allerdings wissen wir bislang noch gar nicht, was die physikalische Grundlage von Bewusstsein ist. Folglich kann man auch nicht sagen, ob sich das in technischen Systemen realisieren lässt. Dennoch wird diese Frage gerade heiß diskutiert, und einige Forscher, die Bewusstsein über das Verhalten definieren, würden sie klar mit Ja beantworten.

Pauen: Ich glaube, es wird eines Tages Maschinen mit Bewusstsein geben, aber diese Maschinen werden nur sehr wenig mit denen zu tun haben, die wir heute kennen. Im Übrigen sind Philosophen traditionell sehr schlechte Prognostiker. 


 

Gibt es einen freien Willen, oder sind alle unsere Entscheidungen neurophysiologisch determiniert?

Wilke: Da enthalte ich mich, weil ich nicht genau weiß, was »frei« bedeutet. Das kann der Philosoph besser beurteilen.

Pauen: Zumindest gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass Determination und Willensfreiheit sich nicht gegenseitig ausschließen, auch wenn uns das intuitiv so erscheint.

Letzte Frage in dieser Blitzrunde: Ist Bewusstsein wissenschaftlich erklärbar?

Pauen: Ja, aber wir sind noch weit davon entfernt.

Wilke: Wir arbeiten daran.

 

Michael Pauen | (geboren 1956 in Krefeld) ist Professor für Philosophie des Geistes an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach dem Studium in Marburg, Frankfurt am Main und Hamburg war er Research Fellow unter anderem an der Cornell University sowie am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst. Pauen ist Gründungsdirektor der Berlin School of Mind and Brain. In der allerersten Ausgabe von »Gehirn&Geist« 2002 schrieb er einen Überblicksartikel zu den größten Problemen der Bewusstseinstheorie. Zum 20. Geburtstag des Magazins wollten wir wissen, was seitdem erreicht wurde.

Bleiben wir beim letzten Punkt: Was hieße es eigentlich, Bewusstsein zu erklären? Wann könnte man sagen: »So, jetzt haben wir es verstanden!«?

Pauen: Meist ergibt sich aus der richtigen Antwort ein völlig neues Verständnis der Frage. Anders gesagt: Ich glaube, Bewusstsein wird dann erklärt sein, wenn wir es auf eine ganz andere Art begreifen. Würde man uns hier und jetzt die Erklärung geben, könnten wir wahrscheinlich nichts damit anfangen. Etwas Ähnliches war etwa beim Begriff der Wärme der Fall. Jahrhundertelang glaubte man an die Existenz eines mysteriösen Wärmestoffs, der prinzipiell jeden Gegenstand durchdringe. Um unsere heutige Erklärung zu verstehen, musste sich erst eine ganz andere Vorstellung von Wärme durchsetzen: kein Stoff, sondern eine Form molekularer Bewegung. Bewusstseinsforschung besteht nicht darin, nur immer mehr Daten zu einem altbekannten Problem zu sammeln, sondern sie versucht, das Problem selbst besser und anders zu verstehen. Erstaunlicherweise lösen sich viele vermeintliche Rätsel, an denen man sich lange Zeit die Zähne ausbiss, plötzlich in Luft auf.

Wilke: Aus meiner Erfahrung würde ich auch sagen, wir müssen vor allem die richtigen Fragen stellen. Wie bei jedem naturwissenschaftlichen Phänomen können wir nur das Wie beantworten – wie kommt es zu diesem oder jenem Phänomen –, aber nicht, warum etwas so ist. Wenn wir zu allgemein nach dem Bewusstsein fragen, können wir darüber nicht viel Sinnvolles aussagen.

Aber in welche Richtung könnte so eine neuartige Formulierung des Bewusstseinsproblems gehen?

Pauen: Wenn man sich die Wissenschaftsgeschichte ansieht, so ging man bei sehr vielen Dingen zunächst davon aus, es müsse eine Substanz dahinterstecken. Man hatte also ein naiv-materialistisches, dinghaftes Verständnis. Schon in der Steinzeit glaubten die Menschen vermutlich, die Seele sei eine Art Stoff, der beim Tod aus dem Körper entweicht. Und selbst noch bei Descartes begegnen wir der »res cogitans«, der »denkenden Sache«. Zuerst müssen wir besser differenzieren, was wir mit dem großen Wort Bewusstsein genau meinen – und dann zeigen, was neurophysiologisch dahintersteckt.

Frau Wilke, bleibt bei alledem nicht die Kluft zwischen subjektivem Erleben und physiologischen Vorgängen bestehen? Das, was der Philosoph David Chalmers einst das »harte Problem« nannte: Wie kann aus elektrochemischen Vorgängen Denken und Fühlen werden?

Wilke: In der Hirnforschung geht es zunächst einmal darum, Dinge verlässlich zu beschreiben, zu operationalisieren und zu messen. Man nutzte dafür beispielsweise experimentelle Methoden, bei denen Probanden mehrdeutige visuelle Reize betrachten – also Bilder, die mal so und mal so gesehen werden. Ein bekanntes Beispiel sind Kippfiguren. Diese können, obwohl der physikalische Input jeweils identisch ist, auf verschiedene Weise wahrgenommen werden. Was dabei im Gehirn geschieht, betrachtete man als das neuronale Korrelat von Bewusstsein. Später zeigte sich jedoch, dass die Korrelate ganz anders aussehen, wenn die Probanden keine Auskunft darüber geben, was sie sehen, sondern wenn man ihre Wahrnehmung durch gewisse experimentelle Bedingungen steuert (siehe »Das No-Report-Paradigma«). Wir müssen also zwischen einer bewussten Wahrnehmung und dem Bericht über diese Wahrnehmung unterscheiden. So verfeinern wir einerseits unser Instrumentarium, andererseits aber auch das, was wir eigentlich untersuchen. Eine Theorie von Bewusstsein ist immer nur so gut wie die Vorannahmen und Methoden, auf denen sie fußt. Übrigens betrifft das die gesamte kognitive Neurowissenschaft. Die eine Sache ist der Prozess, den man vielleicht mit Testverfahren und Fragebogen beschreiben kann und der klinisch-therapeutisch sinnvoll ist; doch die Neurobiologie ist eine völlig andere Beschreibungsebene.

Das No-Report-Paradigma

Das No-Report-Paradigma | Bei Studien zur visuellen Wahrnehmung zeigte sich: Das Auskunftgeben (englisch: report) über Seheindrücke ist vom Erleben neuronal zu unterscheiden. Wissenschaftler um Stefan Frässle untersuchten dies am Beispiel der binokularen Rivalität: Präsentiert man Probanden im Labor auf jedem Auge ein anderes Streifenmuster (oben schematisch dargestellt), so wechselt das wahrgenommene Bild meist in kurzen Abständen von wenigen Sekunden zwischen beiden hin und her. An bestimmten Blickfolgebewegungen lässt sich ablesen, ob etwa gerade das nach links wandernde grün-schwarze oder das nach rechts laufende rot-schwarze Muster gesehen wird. Personen, die aktiv über ihren momentanen Eindruck berichten, zeigen großflächige Aktivierungen im präfrontalen Kortex (linkes Hirn), ohne die Mitteilung hingegen nicht (rechts). Das neuronale Korrelat hängt also von der Untersuchungsmethode ab. 

[Nota bene: Das ist der Unterschied zwischen (unmittelbarem) Erleben und (mittelbarer) Reflexion. JE]


Pauen: Noch kurz zu der vermeintlichen Kluft zwischen Geist und Materie: Seit den 1990er Jahren suchen Forscher nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins, in der Fachsprache NCC (neural correlates of consciousness) genannt. Jetzt ist ein Korrelat allein noch keine Erklärung, völlig klar. Aber solche Korrelate sind immer eingebettet in Modellannahmen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wasser. Was ist das und wie lassen sich seine unterschiedlichen Zustände erklären? Nun, gemäß dem Atommodell wissen wir, dass Wasser ein Molekül bestehend aus zwei Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom ist. Und die jeweilige Art, wie diese Atome miteinander verbunden sind, bestimmt darüber, ob das Wasser fest, flüssig oder gasförmig ist. Im übertragenen Sinn heißt das: Was uns derzeit noch fehlt, ist eine Art Atommodell für Bewusstsein.

Wenn ich Sie richtig verstehe, Frau Wilke, gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Auskunftgeben und dem bewussten Erleben selbst. Das erinnert mich an ein Gespräch, das ich einmal mit dem britischen Philosophen Peter Carruthers führte, der glaubt, bewusste Prozesse gebe es eigentlich gar nicht, sondern es würden uns nur die Resultate gewisser mentaler Prozesse bewusst. Wie sehen Sie das?

Wilke: Nach der Global-Workspace-Theorie (GWT, siehe »Die vier wichtigsten Bewusstseinstheorien«) ist es ein zentrales Kennzeichen von bewussten Inhalten, dass sie anderen kognitiven Funktionen wie Entscheiden, Urteilen und Berichten zur Verfügung stehen. Nach diesem Ansatz ist alles, was nicht berichtet werden kann, auch nicht bewusst – folglich zeigen sich bei Experimenten deutlich andere Korrelate, nämlich zum Beispiel eine stärkere Aktivierung präfrontaler Hirnbereiche. Sie könnte jedoch genauso gut ein Korrelat der Introspektion, also der höheren kognitiven Verarbeitung, sein und nicht der bewussten Wahrnehmung selbst.

 

Die vier wichtigsten Bewusstseinstheorien

In der theoretischen Bewusstseinsforschung werden heute folgende Ansätze am intensivsten diskutiert. Sie schließen sich nicht in jeder Hinsicht gegenseitig aus, stellen aber unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund.

Global-Workspace-Theorie

Bewusst sind jene mentalen Inhalte, die der Informationsverarbeitung in verschiedenen Hirnarealen zur Verfügung stehen. Eine zentral gelegene Region unterhalb der Großhirnrinde (Kortex), der Thalamus, fungiert hierbei wie eine Art Schaltstelle, als »Tor zum Bewusstsein«. Vom Thalamus generierte Signale können den Informationsstrom von einzelnen Arealen ausgehend auf weite Hirnbereiche verteilen.

Aufmerksamkeitsschema

Das Gehirn verfügt über ein Modell seiner selbst. Gemäß dieser von Michael Graziano und anderen entwickelten Idee bringen Hirnprozesse unterschiedliche Signale aus der Außenwelt sowie aus dem Körperinneren wie auf einer Art Radarschirm zusammen. Was nicht auf diesem erscheint, bleibt unbewusst.

Predictive processing

Was wir bewusst erfahren, ist laut diesem Ansatz die Diskrepanz zwischen vom Gehirn generierten Vorhersagen und dem registrierten Input. Nur was den neuronalen Prognosen widerspricht, wird durch Bewusstseinsprozesse neu angepasst. Folglich hängt die neuronale Informationsverarbeitung weit stärker davon ab, was wir erwarten, als von dem, was physikalisch gegeben ist.

Integrierte Informationsverarbeitung

Bewusste Zustände gehen mit stark erhöhter funktioneller Konnektivität einher, das heißt, verschiedene Hirnbereiche kommunizieren dann viel intensiver miteinander als bei unbewussten Wahrnehmungen. Wie sehr Signale unterschiedlicher Kanäle verknüpft werden, bestimmt über den Bewusstseinsgrad.

Können wir bewusste Wahrnehmungen haben, von denen wir nichts wissen? Ist das nicht eine Art »Bewusstsein ohne Bewusstsein«?

Pauen: Das Wort Bewusstsein entstand im 17. und 18. Jahrhundert aus dem lateinischen »con sciencia«, zu Deutsch: »mit Wissen«. Dem ursprünglichen Verständnis nach gibt es tatsächlich keine bewusste Erfahrung ohne die kognitive Komponente des Wissens über diese Erfahrung. Jetzt nehmen wir aber zum Beispiel Babys oder auch höher entwickelte Tiere. Die empfinden sicherlich Schmerzen, doch sie wissen nicht um diese eigene Erfahrung. Es gibt also Schmerz ohne ausgereiftes Ich-Konzept, ohne Reflexion. Das Wissen über eine Erfahrung ist etwas anderes als die Erfahrung selbst, nur leider setzen wir beides intuitiv gleich. Die Differenzierung ist ein entscheidender Fortschritt, wir schärfen unsere begrifflichen Werkzeuge, um Bewusstsein erfassen und untersuchen zu können. Und diese Entwicklung hat tatsächlich erst in den letzten Jahren richtig Fahrt aufgenommen.

Wilke: Wir müssen beachten, dass Bewusstsein auf unterschiedlichen Niveaus oder Komplexitätsgraden auftritt. Schmerz hat sowohl einen unmittelbaren Erfahrungsaspekt als auch eine Ebene der emotionalen Bewertung. Laut einigen Theoretikern bedarf es der neuronalen Repräsentation eines Ichs, gespeist aus Signalen des eigenen Körpers, um Schmerz bewusst zu empfinden. Ich bin ehrlich gesagt unsicher, inwieweit es sinnvoll ist, nur das eine oder das andere als Bewusstsein zu bezeichnen. Fest steht, dass wir unterschiedliche Grade unterscheiden müssen.


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Pauen: Der Witz an der Sache und eine Quelle vieler Irrtümer ist, dass wir Bewusstsein immer nur mit solchen Gelegenheiten identifizieren, wo wir etwas als bewusst erkannt haben. Das Surren eine Klimaanlage etwa kann mir erst zu einem bestimmten Zeitpunkt auffallen. Möglicherweise habe ich es aber schon längere Zeit wahrgenommen und es hat mich beeinflusst, ohne dass ich die kategoriale Zuordnung vorgenommen habe, ohne dass ich meine Erfahrung in die Schublade einsortierte »Du hörst gerade das Surren einer Klimaanlage«.

Gibt es, wie man oft von Meditationsgurus hört, »reines Bewusstsein« ohne Inhalt? Oder ist Bewusstsein stets auf einen Gegenstand bezogen?

Pauen: Knifflige Frage. Sicherlich gibt es verschiedene Grade und Intensitäten von Bewusstsein, doch wie sollte man sich so eine inhaltslose, leere Hülle von Bewusstsein vorstellen? Ich glaube, es handelt sich dabei eher um Flow-Zustände, in denen wir unsere Aufmerksamkeit nicht aktiv steuern und die wir mit einer Metapher wie »geistige Leere« beschreiben. Wir sollten besser gar nicht von dem Bewusstsein sprechen, sondern von Erfahrungen, Schmerzerfahrungen etwa. Die übliche Verdinglichung von Bewusstsein ist meines Erachtens irreführend.

 

Kurz erklärt

Inattentional blindness

Fachbegriff dafür, dass uns bei erhöhter Aufmerksamkeit für einen Wahrnehmungsaspekt selbst starke Veränderungen eines Bildes oder einer Szene oft entgehen. Beispiel: Zählen Probanden die Pässe eines Basketballteams mit, fällt ein quer durchs Bild laufender Mensch im Gorillakostüm kaum auf.

Perturbational complexity index (PCI)

Neurowissenschaftliches Verfahren, bei dem man mittels elektrophysiologischer Messungen die Stärke und Dauer einer Erregungswelle im Gehirn bestimmt. Ein von außen etwa über Magnetspulen verabreichter Impuls kann so Auskunft geben über bewusste Träume oder Komazustände.

Manche Kritiker glauben, Bewusstsein könne nicht bloß im Gehirn verortet sein, weil es sonst eine Art inneren Agenten geben müsste, der die Bilder und Repräsentationen im Kopf liest oder wahrnimmt. Was halten Sie von diesem Argument?

Pauen: Das halte ich für Unsinn. Da wird die Hirnforschung zu einer Art Vogelscheuche gemacht, die man anschließend mit viel Tamtam abbrennt. Kein ernst zu nehmender Forscher glaubt mehr an einen Homunkulus im Kopf.

Wilke: Ich habe dazu auch keinen Bezug. Wir Neurowissenschaftler betrachten geistige Leistungen und Bewusstsein als dynamisch verteilte Hirnaktivität, dafür braucht es keine innere Instanz und keinen Homunkulus-Agenten.

»Gehirn&Geist« begleitet die Bewusstseinsforschung mittlerweile seit 20 Jahren. Was war für Sie in dieser Zeit der größte Fortschritt?

Wilke: Zunächst einmal, dass Bewusstsein als Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung anerkannt wurde. Es gibt inzwischen viele reproduzierbare Ergebnisse, die auch Vorhersagen erlauben. In dieser Hinsicht war die Entwicklung des »perturbational complexity index« (PCI, siehe »Kurz erklärt«) vielleicht der größte Fortschritt. Man kann einen Wert dafür berechnen, wie stabil und weiträumig sich elektrische Signale, zum Beispiel induziert durch eine Magnetspule, im Nervengewebe ausbreiten. So lässt sich beispielsweise bei Schlafenden gut unterscheiden, ob jemand gerade träumt oder nicht.

Pauen: Wir haben sowohl empirisch als auch theoretisch viele Unterscheidungen klarer fassen können. Etwa die, dass phänomenale Erfahrung und kognitiver Zugang, also Wissen, verschiedene Dinge sind. Doch ich glaube, die Vielfalt der Bewusstseinstheorien beruht darauf, dass wir diese Dinge noch nicht gut experimentell erfassen können. Viele Ansätze beschreiben lediglich unterschiedliche Aspekte, reden aber sonst aneinander vorbei.
Spektrum Kompakt:  Das Rätsel Bewusstsein Spektrum Kompakt: Das Rätsel Bewusstsein

Wilke: Das ist aus meiner Sicht auch ein ganz wesentlicher Fortschritt: Bewusstsein ist heute ein völlig etablierter Gegenstand empirischer Forschung. Es gibt gar keine Zweifel mehr daran, dass man es neurowissenschaftlich untersuchen und zumindest ansatzweise verstehen kann.

Machte die Hirnforschung vor allem deshalb Fortschritte, weil man heute mit viel größeren Datenmengen umgehen kann und so der Komplexität des Gehirns eher gerecht wird?

Wilke: Mit großen Datenmengen zu operieren, ist sicher hilfreich, aber nein, das ist nicht in erster Linie eine Frage des Berechnens oder der Verarbeitungskapazität unserer Computer. Wir müssen vielmehr die richtigen Fragen stellen. Vor allem müssen wir geeignete experimentelle Prozeduren entwickeln, die uns helfen, verschiedene Grade und Komponenten von Bewusstsein verlässlich und trennscharf zu erfassen. Dann erst können wir Hypothesen über die zu Grunde liegenden Mechanismen testen.

»Selbst wenn wir ein spezifisches, verlässliches Maß für Bewusstsein hätten, wäre damit noch nicht gesagt, was Bewusstsein ist und wie es entsteht« (Michael Pauen, Philosoph)

Lassen sich unterschiedliche Grade von Bewusstsein mit der von Ihnen erwähnten PCI-Methode unterschieden?

Wilke: Ja, man verwendet das beispielsweise zur Unterscheidung bewusster und unbewusster Schlafphasen, aber auch zur Prognose bei Komapatienten.

Pauen: Allerdings muss man sagen: Selbst wenn wir ein spezifisches, verlässliches Maß für Bewusstsein hätten, wäre damit noch nicht gesagt, was Bewusstsein ist und wie es entsteht. Beispiel: Bestimmte Atemmuster könnten einem ebenfalls Auskunft über Bewusstseinszustände geben, dennoch hat die Atmung selbst nicht direkt mit Bewusstsein zu tun.

Schrumpft die Zahl derjenigen, die der Hirnforschung »Neuroreduktionismus« vorwerfen?

Pauen: Das kann ich nicht genau sagen. Ich glaube, solange es kein tragfähiges wissenschaftliches Modell von Bewusstsein gibt, bleibt immer ein Markt für »alternative Sichtweisen« bestehen. Und wer da besonders schrill oder rhetorisch geschickt auftritt, findet eben Gehör in der Öffentlichkeit. Hier klaffen populäre Vorstellungen von Wissenschaft und das, was Wissenschaftler eigentlich tun und denken, teils weit auseinander.

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Und das »hard problem«, die Kluft zwischen Neuronen und Erleben – sehen Sie das persönlich nach wie vor als Problem an?

Pauen: Natürlich, intuitiv kommt mir das auch rätselhaft vor. Solche Intuitionen werden jahrhundertelang als unüberwindbar angesehen, doch kaum hat man einen Ansatzpunkt für Erklärungen gefunden, vergessen die Leute das einfach. Für Descartes zum Beispiel war die Sprache, die prinzipiell unerklärbar sei, ein Argument dafür, warum Geist einer immateriellen Sphäre angehöre. Und kaum hatte man die neuronalen Grundlagen der Sprachverarbeitung erkannt, war diese Intuition einfach weg. Ich bin guter Dinge, dass sich das Rätsel des Bewusstseins auf ähnliche Weise auflösen wird, vielleicht nicht in diesem Jahrhundert, aber irgendwann.

Wilke: Ich denke, wir haben genug Probleme, die wir zumindest theoretisch neurowissenschaftlich lösen können, also konzentriere ich mich darauf.

In Bezug auf das Impfen oder den Mobilfunk existieren hartnäckige Mythen, die manchen Fortschritt hemmen. Hat die Idee, Bewusstsein könne nicht bloß im Gehirn stattfinden, ähnlich negative Folgen?

Pauen: Nein, dafür ist die Bewusstseinsforschung vermutlich einfach zu abstrakt, zu weit entfernt vom Lebensalltag der Menschen. Natürlich hält sich bei einigen der Glaube an eine unsterbliche Seele oder an ein Leben nach dem Tod. Aber die Forschung tangiert das nicht.

Wilke: Wir haben in der Forschung eher das Problem, dass Bewusstsein mit Entscheidungen und Verhalten verwechselt wird. Die Hoffnung, dass wir Bewusstsein »unsterblich« machen und unabhängig vom Gehirn irgendwo hochladen können, scheint jedoch viele junge Leute zu motivieren, dieses Problem wissenschaftlich anzupacken. Das ist gut.

 

Nota. - Das Beste daran ist Michael Pauens Antwort auf die Frage, ob er sein Gehirn und ob sein Gehirn er wäre. Nein, ist er nicht, denn er kann beispielsweise Fahrrad fahren, aber nicht sein Gehirn. Das Gehirn gehört zu einem Gesamtorganismus, ohne den es nichts vermag, und der lebt seinerseits - so hat er seine Geschichte einmal gemacht - in einer Welt, in der er - anders als die umweltgebundenen Tiere - sein Leben führen muss: Er muss im-mer wieder entscheiden, ob so oder so. Er muss seinen Willen bestimmen. Wie eng oder weit sein Entscheidungsspielraum im jeweiligen Moment auch sei - er muss ihn ausfüllen, das ist es, worauf es ankommt. Und das ist es, woher und wozu er ein Bewussstsein hat; denn ohne dies könnte er nicht reflektieren, doch das muss er, denn er muss wissen kön-nen, was er will - und das muss das Tier nicht.

Dem solllte Micharl Pauen zustimmen können; wir überschätzten die Rolle unseres Be-wusstseins ja darum, sagt er, "weil all das, was uns nicht bewusst ist, in unseren Erklärun-gen für das eigene Handeln gar nicht auftaucht". Ums Verstehen der Handlungen geht es also - das ist der harte Kern.

JE

Donnerstag, 3. Februar 2022

Dillon's Crismis.

Bücher stehen in einer Bibliothek in den Regalen. (Symbolbild)
aus Tagesspiegel.de, 3. 2. 2022                                                                                                                    zu  Levana;

Achtjähriger schmuggelt selbstgeschriebenes Buch in Bibliothek 
Nachfrage ist riesig
Ein Zweitklässler in den USA hat ein Buch geschrieben und es durch eine trickreiche Veröffentlichungsstrategie zu einer Menge Ruhm gebracht.
 
von Aljoscha Huber

Hemingway war 27 Jahre alt, als er erste größere Erfolge feierte, Ingeborg Bachmann und Erich Kästner waren 20 Jahre alt – und alle drei waren damit mit ihren literarischen Durchbrüchen noch vergleichsweise früh dran.

Der Grundschüler Dillon Helbig aus dem Bundesstaat Idaho in den USA ist ihnen trotzdem um einiges voraus. Wie die „New York Times“ zuerst berichtete, hat er seine Schriftstellerkarriere bereits mit 8 Jahren begonnen und mit seiner ersten Veröffentlichung gleich für Furore in seiner Heimatstadt Boise gesorgt.

Nicht nur, dass seine spannende Geschichte stark in der örtlichen Bibliothek nachgefragt wird, dank ihm wollen sogar andere Kinder auch Schriftsteller:innen werden.

Gerade mal vier Tage brauchte Dillon für sein 88 Seiten fassendes Erstlingswerk, ein „Crismis”-Abenteuer (es ist anzunehmen, dass der Jungautor statt „Crismis” eigentlich das englische Wort „Christmas”, also „Weihnachten” meint) welches er von Hand in ein leeres Tagebuch schrieb und mit zahlreichen Bildchen versah.

Die Geschichte und ihr Autor, in der die Hauptperson in der Zeit zurückreist, nachdem ein Stern an der Spitze des Weihnachtsbaums explodiert, entzücken die Menschen in Boise derart, dass das Buch kurz nach der „Veröffentlichung” zu einem der begehrtesten Titel der örtlichen Bibliothek wurde.

Seine Oma nahm ihn mit in die Lake Hazel Zweigstelle der Ada Community Bücherei in Boise, wo der Achtjährige das einzige Exemplar seines Buchs einfach in das Regal der Belletristik schob. „Ich musste mich an den Leuten in der Bücherei vorbeischleichen”, erzählt Dillon stolz, der „li-berry” statt „Library” (englisch für Bücherei) sagt.

Bücherei unterstützt den jungen Autor

Nachdem Dillon sein Buch in der Bücherei abgelegt hatte, erzählte er seinen Eltern von seinem genialen Marketing-Schachzug. Seine Mutter Susan Helbig rief in der Bibliothek an, um das Buch wieder abzuholen. Doch die Mitarbeiter:innen in der Bücherei waren so begeistert von Dillons Buch und seiner Veröffentlichungsstrategie, dass sie den jungen aufstrebenden Autor fortan unterstützen.

„Es verdient einen Platz in unseren Bücherregalen”, sagte Alex Hartmann, Leiter der Bibliothek in Boise am Montag der „New York Times“. Die Mitarbeiter:innen nahmen das Buch in ihr Katalogsystem auf und stellten es zu den anderen Graphic Novels, also zu den illustrierten Romanen. Die Verlagskategorie ließen sie leer, da der Zweitklässler - noch - keinen Verlag hat.

Achtjähriger erhält einen besonderen Literaturpreis

Obwohl Dillon sich in seinem Erstlingswerk gleich eine der schwierigsten Disziplinen des fiktionalen Schreibens vornimmt, schließlich bieten Zeitreisegeschichten zahlreiche Fallstricke durch die verschiedenen Zeitstränge und damit viel Potenzial für mögliche Logikfehler, sind die Rezensionen bisher durchweg positiv.

„Es ist einfach eine gute Geschichte”, lobt Alex Hartmann. Offenbar so gut, dass gerne über die Rechtschreibfehler hinweggesehen wird, die laut Hartmann „überaus zahlreich vorhanden” seien. Beispielsweise beginnt Dillon sein erstes Kapitel mit „ONE Day in wintertr it wus Crisms“. Die Bücherei verlieh dem kleinen Dillon für seinen Debütroman auch prompt einen extra geschaffenen Literaturpreis in der Kategorie „bester junger Autor”.

In seiner Geschichte mit dem Titel „The Adventures of Dillon Helbig´s Crismis” begibt sich Dillon, der Autor und Hauptprotagonist zu gleich ist, nachdem der Stern am Christbaum explodiert ist, auf ein Zeitreiseabenteuer. „Als Nächstes kommt der Weihnachtsmann”, erklärt Dillon den weiteren Verlauf der Handlung, in der der Held der Geschichte schließlich auf ein „Baumportal” trifft, welches ihn wiederum zu einem Thanksgiving-Fest ins 17. Jahrhundert katapultiert.

Warteliste zum Ausleihen ist bereits jahrelang

Zwar ist „The Adventures of Dillon Helbig´s Crismis”, nicht Dillons erstes Buch, laut seiner Mutter entwirft und malt er Geschichten seit er 5 ist, aber mit Abstand sein erfolgreichstes: Ende Januar hatte das Buch in Boison so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, dass die örtliche Zeitung und ein Lokalfernsehsender über den jungen Autor und sein Debüt berichteten.

In Folge dessen wollten so viele das Buch lesen, dass zuletzt 56 Personen auf der Warteliste der Bücherei standen. So viele, dass, wenn jede der 56 Personen das Buch die maximale Ausleihfrist von vier Wochen behalten würde, die letzte Person auf der Liste mehr als vier Jahre warten müsste, um Dillons Geschichte zu lesen – schließlich gibt es bisher erst ein Exemplar.

Verlage wollen das Buch offiziell herausbringen

Ein Umstand, der sich bald ändern könnte. Verlage hätten sich mit der Bibliothek in Verbindung gesetzt, um das Buch offiziell zu veröffentlichen, sagt Herr Hartman. Die Bibliothek plane außerdem, zusätzliche Exemplare des Buches herzustellen.

Und Dillon? Der ist sich seit seinem großen Erfolg sicher, dass er Schriftsteller von Beruf werden möchte. Allerdings nur, bis er 40 ist, denn dann „möchte ich Spiele entwickeln”, sagt er. Bleiben also noch rund 32 Jahre, in denen der Achtjährige die Literaturwelt entzücken kann – sein nächstes Werk ist schon in Planung. Es soll eine Erzählung beruhend auf wahren Begebenheiten werden, die von einem Jacken verschlingenden Kleiderschrank handeln soll.

Auch andere Kinder wurden derweil von der Lust am Geschichtenschreiben angesteckt. Nach den Fernsehberichten über Dillons literarischen Triumph haben sich zahlreiche Kinder bei Herrn Hartmann gemeldet, die selbst auch Bücher für die Bibliothek schreiben wollen. Eine lokale Autorin hat sich bereit erklärt, in der Bücherei eine Schreibwerkstatt für Kinder einzurichten.

 

 

Vernunft ist eine ebenso problematische Sache wie Wahrheit.

                                                                 aus Philosophierungen
 
Für wahr darf ich nur das halten, was ich einem (beliebigen) andern so vortragen konnte, dass er dagegen keinen vernünftigen Einwand mehr erheben kann.

Das entscheidet ja darüber, was* vernünftig ist und was nicht.
 
Mit andern Worten, man wird es ausprobieren müssen.


*) und wer

 12. 10. 14

 
 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Der Begriff bestimmt mein Begreifen.

flickr                                                 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Bestimmte, zu dem übergegangen wird, ist der Begriff eines bestimmten Dinges, aber ich selbst bin auch bestimmt in diesem Begriffe, weil das Quantum dieses Begreifens mei-nen Zustand ausmacht.
_________________________________________________________
J. G. Fichte,  Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 103


Nota I. - Nicht nur ich bestimme den Begriff. Der Begriff bestimmt auch mich, indem er das Maß meines Begreifens bestimmt.

21. 6. 15 

Nota II. - Das ist der Kerngedanke der ganzen Transzendentalphilosophie: Indem ich ein vorfindliches Anderes bestimme, bestimme ich mich selbst als das Andere dieses Andern. Anders ist ein Bestimmen von diesem, jenem und mir nicht möglich. Zur Identität gehört ihr Gegenstand.

JE

Fremd und befremdlich: Als die Bergwelt ästhetisch wurde.

Wie ein fremder Stern mitten auf unserem Planeten wirkten die Berge einst auf die Betrachter. (Dolomiten, Belluno). 

aus nzz.ch, 3. 2. 2022                                           Dolomiten bei Belluno                                                             zu Geschmackssachen

Die Berge sind staunenswerte Gebilde. Am erstaunlichsten aber ist, dass wir sie heute als schön empfinden.
Harmonie und Ordnung waren in der Ästhetik lange das Mass aller Dinge. Die Wildheit der Alpen passte nicht in dieses Schema. Seit der Aufklärung hat sich das gründlich geändert – glücklicherweise: eine Liebeserklärung an die Berge.
 
von Pascal Bruckner
 
Im Jahr 1796 machte sich der junge Hegel zu einer Wanderung in den Berner Alpen auf. Es war die erste Erfahrung, die der damals 25-Jährige in den Hochalpen machte – und es sollte auch die letzte bleiben.

Hegels Route führte von Bern nach Grindelwald, danach ging es über die Scheidegg nach Meiringen, schliesslich via Furkapass nach Andermatt. Die Reise war für den späteren Philosophen eine schier endlose Enttäuschung. Hegel kannte Rousseaus mitreissende Naturbeschreibungen, sein Geist war getränkt von ihnen. Und in romantischer Manier war der junge Mann ausgezogen, um in der Landschaft den Esprit des Volkes zu entdecken.

Die Natur des Hochgebirges erwies sich in dieser Hinsicht jedoch als äusserst unergiebig: Hier war nichts von einem menschlichen Geist gestaltet worden. Die Berge sind Hegel schlicht als feindliche Felsen und absurde Eisgebilde erschienen. Sein Fazit war entsprechend vernichtend: «Der Anblick dieser ewig toten Massen gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige Vorstellung: Es ist so.»

Ein paar Jahre später, im Juli 1802, nutzte der junge William Turner eine Pause zwischen den napoleonischen Kriegen für eine Reise auf dem Kontinent. Er ging in Calais an Land, durchquerte das Burgund, fuhr über Chamonix nach Italien und langte danach in der Schweiz an, wo er Hegels Weg durchs Berner Oberland einschlug. 

 

 

Von den dortigen Landschaften hat der Maler Skizzen und Aquarelle angefertigt, die atemberaubend modern anmuteten: In der Unermesslichkeit der Gipfel hat Turner eine Herausforderung auf der Höhe seines Genies gefunden. In der Folge kehrte der Brite mehrmals in die Berge zurück, er war wie magisch angezogen von diesen unfassbaren Orten, an denen sich Endliches und Unendliches berührten. Mit Entzücken und Entsetzen gleichermassen blickte Turner wie andere Briten auf die wilden Alpen – sie erschienen ihnen als Atlantis mitten in Europa, als fremder Stern auf unserem Planeten.

Eine Erfindung der Städter

Was ist passiert in den wenigen Jahren zwischen Hegel und Turner? Wie konnte sich ein Haufen schroffer Steine zu einer Stätte des höchsten Glücks entwickeln? Auf verdichtete Weise zeigt sich in den unterschiedlichen Erfahrungen der beiden Männer, wie sich in der Aufklärung das ästhetische Gefühl veränderte.

Während Jahrhunderten hatte kein Mensch überhaupt daran gedacht, die Gipfel der Alpen zu besteigen – es sei denn, um Kristalle abzubauen, Silber zu gewinnen oder andere magere Erträge einzuholen. Begeisterung lösten die Berge nirgends aus. Im Gegenteil. Die katholische Kirche erachtete sie als verfluchte Orte, an denen die Seelen derjenigen Toten herumirrten, die die ewige Ruhe nicht gefunden hatten. Gemeinhin ging man auch davon aus, dass zurückgebliebene Völker und Viehzüchter in den Alpen hausten.

Zwar gab es schon im ausgehenden Mittelalter einige Kühne, die auf Berge stiegen – Petrarca zum Beispiel besuchte 1336 den Mont Ventoux, ein Ritter erkundete 1492 auf Geheiss des französischen Königs den Mont Aiguille. Doch es bedurfte eines grundlegenden Wandels in den Sensibilitäten, damit die schrecklichen Berge im 19. Jahrhundert allmählich zu geschätzten Orten werden konnten.

Oft führt man diese Entwicklung auf Rousseau zurück. Aber wenn es ums Zelebrieren der Alpenwelt geht, wird seine Bedeutung überschätzt. Rousseau kannte das Hochgebirge nicht. Er botanisierte in den Voralpen von Chambéry, in grünenden Landschaften, und absolvierte bloss einmal einen kurzen Aufenthalt im Wallis, allerdings ohne dabei bis in die Hochtäler zu gelangen. Der Erste, der effektiv ein Loblied auf die Alpen anstimmte, war der Schweizer Albrecht von Haller, der die Berge 1729 als grosszügig und wohlwollend präsentierte und auch die Völker, die die Gebirge bewohnten, in ein neues Licht rückte: Die guten Bergler lebten laut seiner Beschreibung abgeschirmt von der Verdorbenheit der Städte.

Insgesamt sind Europas Berge nicht entdeckt, sondern vielmehr erfunden worden, und zwar von hochkultivierten Städtern. In der Schweiz haben manche Humanisten schon im 16. Jahrhundert den Alpen-Enthusiasmus der Romantik antizipiert: Sie nahmen die Bergwelt als grandiose Landschaft wahr. Einem breiteren Publikum erschloss sich diese Schönheit aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts.

Das Donnern der Lawine

Damals kam der Begriff des «Erhabenen» auf, sowohl Immanuel Kant als auch Edmund Burke verwendeten ihn. Die Vorstellung davon, was wir als schön empfinden, hat dadurch einen wichtigen Wandel erfahren. Dem klassischen Geist hatte das Geordnete gefallen, er war vernarrt in Harmonien. Mit dem «Erhabenen» dagegen hat sich die Idee des Unermesslichen verbreitet: Dinge, die jede bekannte Skala sprengten und den Menschen überstiegen, lösten nunmehr Ehrfurcht und Bewunderung in einem aus. In diesem Sinne weckten die Berge beim Betrachter einen köstlichen Schauder, eine fürchterliche Freude – die man freilich nur so lange empfand, als das eigene Leben nicht in Gefahr geriet durch die erhabenen Phänomene.

Es hat also Jahrhunderte gedauert, bis die Menschen Gefallen an den Gebirgen fanden und sie nicht mehr als scheusslich wahrnahmen, sondern sich faszinieren liessen von ihnen. Inzwischen haben sich unsere Augen fast schon ans Überwältigende gewöhnt. Aber auch wenn uns die Schönheit der Berge heute normal erscheint, spürt man manchmal noch etwas von der Ergriffenheit, die am Anfang der Alpenliebe stand. Wenn eine Lawine einen Hang herunterdonnert, beobachten wir staunend ihre Wucht, wir nehmen schaudernd ihr Tosen wahr und sind glücklich, wenn niemand erwischt wird von ihr.

In den Bergen erleben wir den Übergang zwischen zwei verschiedenen Territorien: Wir gelangen vom Trivialen ins Intensive, vom Profanen ins Heilige. In der höchsten Höhe wird die Luft für den Menschen dünn, doch etwas darunter kommt man unentwegt vom Pittoresken zum Verblüffenden, vom Unfasslichen zum Gefährlichen. Zuunterst liegen die Bergtäler. Oft sind das triste Orte, in denen sich Fabriken an billige Wohnungen oder Gewerbezonen reihen. Zuweilen wirken diese Täler wie abweisende Anstandsdamen. Den Weg zu den Gipfeln machen sie jedoch nur noch spektakulärer: Beim Aufstieg, man absolviere ihn zu Fuss, im Auto oder im Bus, lässt man all das Mediokre, alles Banale und Kleine hinter sich und holt Luft in einem majestätischen Amphitheater.

Opfer des eigenen Erfolgs

Was macht die Schönheit der Berge aus? Das fragte der Maler Franz Schrader Ende des 19. Jahrhunderts bei einem Vortrag in Paris und erklärte dem Publikum: Ihre Schönheit gründet darin, dass sie dem Wirklichen die Farbe der Illusion verleihen. Das ist eine starke Antwort, man hört den Landschaftsmaler aus ihr sprechen. Für uns einfache Städter besteht die Schönheit der Alpen heute meist in einer doppelten Erfahrung: Aus der Ferne geniessen wir die Pracht ihres Anblicks, aus der Nähe das Glück ihrer Erkundung.

Wenn man beispielsweise von der Stadt her dem Montblanc entgegenfährt, packt einen der weisse Koloss unwillkürlich: Sein Funkeln, seine Anmut, in der sich Stolz und Zartheit vereinen, verschlägt dem Näherkommenden den Atem. Bewegt man sich dann oben in den Bergen, ist Kehre um Kehre ein neuer Blick zu gewinnen. Hier ein felsiger Zacken, dort ein spitzes Türmchen, mal ein schroffer Abhang, mal Seen, Schluchten, Wälder, Wasserfälle, man schafft es kaum je, alle Facetten der Berge in sich aufzunehmen.

Oft trifft man allerdings auch auf Horden anderer Menschen. Die Berge sind Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Sie haben eine enorme Faszination ausgeübt und dadurch eine Banalisierung erlebt. Längst sind sie Spielwiesen für Städter, die den Nervenkitzel suchen oder auch nur ein bisschen Ski fahren wollen. Die wilde Fremdheit, die einst ihren Reiz ausmachte, geht dadurch rasch verloren. Um unsere Bergmassive zu bewahren, wird man ihre Nutzung künftig wohl beschränken müssen. Denn die Natur ist keine Sache, die wir dank einem Menschenrecht verwüsten dürfen. Vielmehr ist es die Pflicht des Menschen, sie zu schützen – zuallererst vor seiner eigenen Gier.

Der Schriftsteller und Philosoph Pascal Bruckner lebt in Paris. Sein jüngster Essay dreht sich um die Berge: «Dans l’amitié d’une montagne» ist Anfang Januar bei Grasset erschienen. – Aus dem Französischen übersetzt von cmd.

 

Nota. - Das Selbstverständliche bleibt eher fremd als das ausgefallen-Auffällige: Denn es befremdet nicht wie jenes. Das Schöne kann lieblich und wohlvertraut sein. Doch das Er-habene muss uns ganz anders vorkommen.

JE

Mittwoch, 2. Februar 2022

Denkgesetze sind keine Naturgesetze.

f.punkt                                   zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wir können nur nach unseren Denkgesetzen erklären, und nach diesen muss die Antwort auf unsere Frage ausfallen. Unsere / Erklärung ist demnach auch nicht an sich gültig; ...
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J. G Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 166 


Nota I. - Das ist bei Kant nicht in dieser Bestimmtheit ausgesprochen: dass die Gesetze un-seres Denkens nicht zugleich die Gesetze sind, nach denen die Welt sich dreht. Es wäre ja nur möglich, wenn ein gemeinsamer Schöpfer es so eingerichtet hätte. Das ist allerdings der Grund-Satz des Rationalismus. Da man aber nichts darüber wissen kann, müsste man es glauben. 

Descartes hat aus dieser dogmatischen Prämisse seiner Philosophie kein Hehl gemacht. Kant hat daraus ein Hehl gemacht, und eben darum können wir darüber nichts wissen; ich glaube es aber.
 
24. 6. 16  

 

Nota II. - Herr E., das Problem liegt doch tiefer, als du hier leichthin vermutest. Es betrifft auch das, was F. den Denkzwang und ein intellektuelles Gefühl nennt. Es betrifft sogar den Grund der Transzendentalphilosophie selbst: nämlich Vernunftkritik.

Das System der Vernunft, das Kant zu seiner Zeit vorfand, war das Weltbild von Isaac Newton. Wenn auch die Kosmologie seither große Sprünge gemacht hat: Hier in unserer mesophysischen Lebenswelt gilt Newtons System en gros noch immer. Doch dass es sich in gewiser Hinsicht bis heute 'praktisch', nämlich eigentlich theoretisch bewährt hat, könnte ja auf einem Zufall beruhen. 

Nicht wahrscheinlich? Darum geht es nicht. Es darf, wenn Vernunft Vernunft sein und man mit ihr mehr als bloß sachlichen Vorteil herausfinden soll, nicht möglich sein. Ein solcher Zufall wäre es aber, wenn sich unsere Vorstellungswelt durch natürliche Selektion so an unsere materielle Umgebung angepasst hätte, dass wir uns eben immer schlecht und recht in ihr zurechtfänden - ohne dass doch ein Wort oder sonst ein Symbol, das wir verwenden, wahr  wäre. Und wir hätten dann nicht einmal den Wunsch entwickeln können, etwas Wah-res, was immer das sei, herauszufinden.

Die Tiere benutzen ja keine Symbole und kommen in ihren Umwelten doch zurecht. Was könnte der Unterscheid von wahr und unwahr für das Tier dann bedeuten? Was er für uns bedeutet, ist nicht etwa unklar, sondern viel mehr als das: Es ist strittig. Darum wollen wir herausfinden, ob die Vernunft durch Zufall auf uns gekommen ist oder mit Notwendigkeit. Das wäre ein Prüfsein für Wahr und Unwahr. Was wir davon haben, werden wir dann se-hen.

JE