Donnerstag, 3. Februar 2022

Fremd und befremdlich: Als die Bergwelt ästhetisch wurde.

Wie ein fremder Stern mitten auf unserem Planeten wirkten die Berge einst auf die Betrachter. (Dolomiten, Belluno). 

aus nzz.ch, 3. 2. 2022                                           Dolomiten bei Belluno                                                             zu Geschmackssachen

Die Berge sind staunenswerte Gebilde. Am erstaunlichsten aber ist, dass wir sie heute als schön empfinden.
Harmonie und Ordnung waren in der Ästhetik lange das Mass aller Dinge. Die Wildheit der Alpen passte nicht in dieses Schema. Seit der Aufklärung hat sich das gründlich geändert – glücklicherweise: eine Liebeserklärung an die Berge.
 
von Pascal Bruckner
 
Im Jahr 1796 machte sich der junge Hegel zu einer Wanderung in den Berner Alpen auf. Es war die erste Erfahrung, die der damals 25-Jährige in den Hochalpen machte – und es sollte auch die letzte bleiben.

Hegels Route führte von Bern nach Grindelwald, danach ging es über die Scheidegg nach Meiringen, schliesslich via Furkapass nach Andermatt. Die Reise war für den späteren Philosophen eine schier endlose Enttäuschung. Hegel kannte Rousseaus mitreissende Naturbeschreibungen, sein Geist war getränkt von ihnen. Und in romantischer Manier war der junge Mann ausgezogen, um in der Landschaft den Esprit des Volkes zu entdecken.

Die Natur des Hochgebirges erwies sich in dieser Hinsicht jedoch als äusserst unergiebig: Hier war nichts von einem menschlichen Geist gestaltet worden. Die Berge sind Hegel schlicht als feindliche Felsen und absurde Eisgebilde erschienen. Sein Fazit war entsprechend vernichtend: «Der Anblick dieser ewig toten Massen gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige Vorstellung: Es ist so.»

Ein paar Jahre später, im Juli 1802, nutzte der junge William Turner eine Pause zwischen den napoleonischen Kriegen für eine Reise auf dem Kontinent. Er ging in Calais an Land, durchquerte das Burgund, fuhr über Chamonix nach Italien und langte danach in der Schweiz an, wo er Hegels Weg durchs Berner Oberland einschlug. 

 

 

Von den dortigen Landschaften hat der Maler Skizzen und Aquarelle angefertigt, die atemberaubend modern anmuteten: In der Unermesslichkeit der Gipfel hat Turner eine Herausforderung auf der Höhe seines Genies gefunden. In der Folge kehrte der Brite mehrmals in die Berge zurück, er war wie magisch angezogen von diesen unfassbaren Orten, an denen sich Endliches und Unendliches berührten. Mit Entzücken und Entsetzen gleichermassen blickte Turner wie andere Briten auf die wilden Alpen – sie erschienen ihnen als Atlantis mitten in Europa, als fremder Stern auf unserem Planeten.

Eine Erfindung der Städter

Was ist passiert in den wenigen Jahren zwischen Hegel und Turner? Wie konnte sich ein Haufen schroffer Steine zu einer Stätte des höchsten Glücks entwickeln? Auf verdichtete Weise zeigt sich in den unterschiedlichen Erfahrungen der beiden Männer, wie sich in der Aufklärung das ästhetische Gefühl veränderte.

Während Jahrhunderten hatte kein Mensch überhaupt daran gedacht, die Gipfel der Alpen zu besteigen – es sei denn, um Kristalle abzubauen, Silber zu gewinnen oder andere magere Erträge einzuholen. Begeisterung lösten die Berge nirgends aus. Im Gegenteil. Die katholische Kirche erachtete sie als verfluchte Orte, an denen die Seelen derjenigen Toten herumirrten, die die ewige Ruhe nicht gefunden hatten. Gemeinhin ging man auch davon aus, dass zurückgebliebene Völker und Viehzüchter in den Alpen hausten.

Zwar gab es schon im ausgehenden Mittelalter einige Kühne, die auf Berge stiegen – Petrarca zum Beispiel besuchte 1336 den Mont Ventoux, ein Ritter erkundete 1492 auf Geheiss des französischen Königs den Mont Aiguille. Doch es bedurfte eines grundlegenden Wandels in den Sensibilitäten, damit die schrecklichen Berge im 19. Jahrhundert allmählich zu geschätzten Orten werden konnten.

Oft führt man diese Entwicklung auf Rousseau zurück. Aber wenn es ums Zelebrieren der Alpenwelt geht, wird seine Bedeutung überschätzt. Rousseau kannte das Hochgebirge nicht. Er botanisierte in den Voralpen von Chambéry, in grünenden Landschaften, und absolvierte bloss einmal einen kurzen Aufenthalt im Wallis, allerdings ohne dabei bis in die Hochtäler zu gelangen. Der Erste, der effektiv ein Loblied auf die Alpen anstimmte, war der Schweizer Albrecht von Haller, der die Berge 1729 als grosszügig und wohlwollend präsentierte und auch die Völker, die die Gebirge bewohnten, in ein neues Licht rückte: Die guten Bergler lebten laut seiner Beschreibung abgeschirmt von der Verdorbenheit der Städte.

Insgesamt sind Europas Berge nicht entdeckt, sondern vielmehr erfunden worden, und zwar von hochkultivierten Städtern. In der Schweiz haben manche Humanisten schon im 16. Jahrhundert den Alpen-Enthusiasmus der Romantik antizipiert: Sie nahmen die Bergwelt als grandiose Landschaft wahr. Einem breiteren Publikum erschloss sich diese Schönheit aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts.

Das Donnern der Lawine

Damals kam der Begriff des «Erhabenen» auf, sowohl Immanuel Kant als auch Edmund Burke verwendeten ihn. Die Vorstellung davon, was wir als schön empfinden, hat dadurch einen wichtigen Wandel erfahren. Dem klassischen Geist hatte das Geordnete gefallen, er war vernarrt in Harmonien. Mit dem «Erhabenen» dagegen hat sich die Idee des Unermesslichen verbreitet: Dinge, die jede bekannte Skala sprengten und den Menschen überstiegen, lösten nunmehr Ehrfurcht und Bewunderung in einem aus. In diesem Sinne weckten die Berge beim Betrachter einen köstlichen Schauder, eine fürchterliche Freude – die man freilich nur so lange empfand, als das eigene Leben nicht in Gefahr geriet durch die erhabenen Phänomene.

Es hat also Jahrhunderte gedauert, bis die Menschen Gefallen an den Gebirgen fanden und sie nicht mehr als scheusslich wahrnahmen, sondern sich faszinieren liessen von ihnen. Inzwischen haben sich unsere Augen fast schon ans Überwältigende gewöhnt. Aber auch wenn uns die Schönheit der Berge heute normal erscheint, spürt man manchmal noch etwas von der Ergriffenheit, die am Anfang der Alpenliebe stand. Wenn eine Lawine einen Hang herunterdonnert, beobachten wir staunend ihre Wucht, wir nehmen schaudernd ihr Tosen wahr und sind glücklich, wenn niemand erwischt wird von ihr.

In den Bergen erleben wir den Übergang zwischen zwei verschiedenen Territorien: Wir gelangen vom Trivialen ins Intensive, vom Profanen ins Heilige. In der höchsten Höhe wird die Luft für den Menschen dünn, doch etwas darunter kommt man unentwegt vom Pittoresken zum Verblüffenden, vom Unfasslichen zum Gefährlichen. Zuunterst liegen die Bergtäler. Oft sind das triste Orte, in denen sich Fabriken an billige Wohnungen oder Gewerbezonen reihen. Zuweilen wirken diese Täler wie abweisende Anstandsdamen. Den Weg zu den Gipfeln machen sie jedoch nur noch spektakulärer: Beim Aufstieg, man absolviere ihn zu Fuss, im Auto oder im Bus, lässt man all das Mediokre, alles Banale und Kleine hinter sich und holt Luft in einem majestätischen Amphitheater.

Opfer des eigenen Erfolgs

Was macht die Schönheit der Berge aus? Das fragte der Maler Franz Schrader Ende des 19. Jahrhunderts bei einem Vortrag in Paris und erklärte dem Publikum: Ihre Schönheit gründet darin, dass sie dem Wirklichen die Farbe der Illusion verleihen. Das ist eine starke Antwort, man hört den Landschaftsmaler aus ihr sprechen. Für uns einfache Städter besteht die Schönheit der Alpen heute meist in einer doppelten Erfahrung: Aus der Ferne geniessen wir die Pracht ihres Anblicks, aus der Nähe das Glück ihrer Erkundung.

Wenn man beispielsweise von der Stadt her dem Montblanc entgegenfährt, packt einen der weisse Koloss unwillkürlich: Sein Funkeln, seine Anmut, in der sich Stolz und Zartheit vereinen, verschlägt dem Näherkommenden den Atem. Bewegt man sich dann oben in den Bergen, ist Kehre um Kehre ein neuer Blick zu gewinnen. Hier ein felsiger Zacken, dort ein spitzes Türmchen, mal ein schroffer Abhang, mal Seen, Schluchten, Wälder, Wasserfälle, man schafft es kaum je, alle Facetten der Berge in sich aufzunehmen.

Oft trifft man allerdings auch auf Horden anderer Menschen. Die Berge sind Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Sie haben eine enorme Faszination ausgeübt und dadurch eine Banalisierung erlebt. Längst sind sie Spielwiesen für Städter, die den Nervenkitzel suchen oder auch nur ein bisschen Ski fahren wollen. Die wilde Fremdheit, die einst ihren Reiz ausmachte, geht dadurch rasch verloren. Um unsere Bergmassive zu bewahren, wird man ihre Nutzung künftig wohl beschränken müssen. Denn die Natur ist keine Sache, die wir dank einem Menschenrecht verwüsten dürfen. Vielmehr ist es die Pflicht des Menschen, sie zu schützen – zuallererst vor seiner eigenen Gier.

Der Schriftsteller und Philosoph Pascal Bruckner lebt in Paris. Sein jüngster Essay dreht sich um die Berge: «Dans l’amitié d’une montagne» ist Anfang Januar bei Grasset erschienen. – Aus dem Französischen übersetzt von cmd.

 

Nota. - Das Selbstverständliche bleibt eher fremd als das ausgefallen-Auffällige: Denn es befremdet nicht wie jenes. Das Schöne kann lieblich und wohlvertraut sein. Doch das Er-habene muss uns ganz anders vorkommen.

JE

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