Mittwoch, 29. Juli 2020

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

  A. Goloborodko                                                                       aus Philosophierungen

Mit der Kritischen alias Transzendentalphilosophie wurde die schöpferische Potenz toto coelo ins Subjekt verlegt.

Hinter diese Kopernikanische Wende führe kein Weg zurück, hat man gemeint.

Der Schlaukopf Schelling kam auf den Einfall, man müsse das Subjekt zugleich auch als Substanz auffassen.

Der naseweise Kopist Hegel vollendete die Drehung: Man müsse die Substanz "auch als Subjekt" auffassen.

Dreifache Rolle rückwärts; Christian Wolff wurde um ein Vielfaches überboten, indem man ihm den Spinoza unterschob.











Banksy in Öl auf Leinwand.

 Banksy, aus dem Triptychon Mediterranean Sea View 2017                                                                                    zu Geschmackssachen

Gelegentlich schrieb ich, wenn Banksy seine Sachen in Öl auf Leinwände malte statt auf Hauswände, wäre es Kitsch. Da wusste ich gar nicht, dass er auch das tut. Er hätte es aber nicht an die Öffentlichkeit tragen sollen, es ist schlimmer als ich dachte.

desgl.

desgl.


Dienstag, 28. Juli 2020

Stefan Johansson.




 Stefan Johansson; Swedish, 1876 - 1955                                                                                                                     zu Geschmackssachen

Würde man mich fragen, welcher Stilepoche man das zuordnen kann, käme ich in Verlegenheit, doch dann schaue ich auf die Lebensdaten und sage zögernd: Art déco.

Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, wie merkwürdig unproduktiv das Art déco, so fruchtbar es in den Hausfassa-den und Autokarosserien war, in der bildenden Kunst gewesen ist? Da sind die eine, einzige* Tamara de Lempicka, von der ein Bild aussieht wie das andere, und die abscheulich plumpen Statuen und Reliefs am Pariser Palais Chaillot, die genausogut an einem von Mussolinis Protzbauten hängen könnten; und das eine oder andere Stück von Stalins Sozialistischem Realismus mag man wohl auch dazuzählen wollen.

Das war eine Geschmacksrichtung, die jahrzehntelang allgegenwärtig war, die ihren Namen aber eigentlich erst in den fünfziger Jahren bekommen hat, als sie eben zuende ging. So spöttisch er eigentlich gemeint war, so treffend ist er. Das waren keine Künstler, die ästhetische Problem lösen wollten und gar zu neuen Ufern strebten, son-dern Dekorateure, die nützliche Dinge im Geist ihrer Zeit zu schmücken hatte. So nützlich die Dinge sind, sollen sie dem Publikum doch auch gefallen, das ist in den Preisen inbegriffen. 

Die bildende Kunst war zu dieser Zeit im Westen auf totalitäre Art ungegenständlich geworden, das war für einen kurzen Moment mit Willi Baumeister sogar populär. Doch waren die Mittel im Nachkriegseuropa knapp, und so siegte postum Adolf Loos: Ornament wurde Verbrechen, weil zu teuer. Dem breiten Publikum blieb der Kitsch im Öldruck, und die zeitgenössische Kunst wurde zum esoterischen Luxus einer hochmütigen Elite. Aller-dings kommt kaum noch was zustande, was nicht irgendwann in ähnlicher Form schonmal dagewesen ist. Auch Art déco hat mittlerweile unter dem Namen Postmoderne ein Leben nach dem Tod geführt. 

Zu Stefan Johansson: So manieriert wie die obigen Stücke war alles, was er machte, aber nicht alles so dekorativ.

*) Ich habe bei anderer Gelegenheit geschrieben, "fast das einzige Stück Bildende Kunst des Art Déco, das ästhetisch Bestand hat", seien die Bilder von Edward Hopper; und mit dem Gedanken gespielt, den späten Kandinsky könne man auch zu Art Déco zählen. Das ist aber ein anderes Kaliber als die Lempicka. 3. 8. 20


Langeweile und Einbildungskraft.

aus spektrum.de, 28. Juli 2020                                                                                                                 zu Jochen Ebmeiers Realien
Produktive Langeweile
Selbst wenn wir nichts tun, ist unser Gehirn aktiv. Dabei werden vor allem Hirnregionen hochgefahren, die dann eine zentrale Rolle spielen, wenn wir neue, originelle Ideen entwickeln. Kann Langeweile so unsere Kreativität beflügeln?

von Johanna Bergmann

Schon wenige Tage nachdem in vielen Ländern das Coronavirus zum Lockdown geführt hatte, wurde das Internet überflutet mit einfallsreichen Heimvideos, Fotosammlungen und Memes, also kleinen kreativen Grafiken oder Animationen. Manche drehten mit Bettlaken auf dem Fußboden Stop-Motion-Videos, in denen eine Bergbesteigung gemimt wurde. Andere stellten mit ihren Haustieren oder Haushaltsgegenstän-den alte Urlaubsbilder nach, auf denen die Klobrille als Vulkankrater und die Katze als wilder Tiger diente. Es wirkte, als hätte der Zwang, zu Hause zu bleiben und wenig zu tun zu haben, die Menschen kreativ gemacht. Aber führte Nichtstun wirklich zu erhöhter Kreativität? Oder hatten die Menschen jetzt einfach mehr Zeit, ihre kreativen Einfälle in die Tat umzusetzen?

Tatsächlich erscheint es dem Gehirn unmöglich, ‘nichts’ zu tun. Es ist immer aktiv. Besonders deutlich wird das, wenn wir beobachten, was passiert, wenn Menschen von Außenreizen abgeschirmt werden. Schon nach kurzer Zeit unter Reizentzug fangen sie an, zu halluzinieren und Bewusstseinsveränderungen zu erleben. Es wirkt, als würde das Gehirn die fehlende Stimulation von außen mit selbst generiertem Input ersetzen.

In einer kürzlich von uns veröffentlichten Studie haben wir festgestellt, dass Probanden sich tatsächlich genau dann Dinge bildlich besser vorstellen können, wenn der visuelle Cortex weniger aktiv ist. Das ist der Teil des Gehirns, der verarbeitet, was wir sehen. Das klingt vielleicht erst einmal kontraintuitiv. Aber: Ge-hirnareale, die Sinnesreize verarbeiten, sind am aktivsten, wenn sie durch Außenreize stimuliert werden. Fallen diese Außenreize weg, oder werden sie weniger durch sie aktiviert, ist es für interne Signale, die aus anderen Gehirnbereichen an „Sinnesareale“ wie den visuellen Cortex gesandt werden, vielleicht einfacher, „gehört“ zu werden.


Diesen Zusammenhang fanden wir sowohl bei Vergleichen zwischen Personen als auch innerhalb einer Person. Bei denjenigen, die eine stärkere bildliche Vorstellungskraft hatten, war der visuelle Cortex weni-ger aktiv und erregbar. Und wenn wir wiederum die Aktivität des visuellen Cortex mithilfe der sogenannten transkraniellen Gleichstromstimulation minderten, konnten Probanden ihre Vorstellungskraft steigern.

Eine gesteigerte Vorstellungskraft ist kreativen Einfällen sicherlich enorm zuträglich. Es gibt aber auch andere Faktoren, die beeinflussen könnten, dass Langeweile oder Reizarmut die Kreativität anregt: Eine entscheidende Rolle könnte dabei das sogenannte Default Mode Network spielen, das beim Nichtstun besonders aktiv ist.

Dieses Netzwerk erstreckt sich über viele Bereiche des Gehirns und umfasst Teile des Präfrontalhirns im Stirnbereich, des posterioren zingulären Cortex im Hirninneren, des mittleren Schläfenlappens und des oberen Scheitellappens.


MRT-Aufnahme des Default Mode Networks  
Es ist bekannt, dass die Aktivität dieses Netzwerkes einhergeht mit Tagträumerei. Und interessanterweise ist eine Person umso kreativer, je stärker dabei bestimmte Teile miteinander vernetzt sind.

Entscheidend ist dabei offenbar vor allem die Vernetzung zwischen den präfrontalen und parietalen Teilen des Netzwerks, also zwischen Stirn- und Scheitellappen. Sie spielen eine wichtige Rolle dabei, wie flexibel wir unser Denken und Verhalten steuern können.

Daneben könnte aber auch eine andere Komponente des Default Mode Netzwerks für unseren Einfalls-reichtum entscheidend sein: der mittlere Schläfenlappen, auch medialer Temporalcortex genannt. Der ist von zentraler Bedeutung für unsere Fähigkeit, Wissen abzuspeichern, uns an vergangene Ereignisse zu erinnern und zukünftige vorzustellen. Stecken wir in einem kreativen Schaffensprozess, machen wir im Grunde nichts anderes, als bereits bestehendes Wissen, Erinnerungen und uns vorliegende Informationen neu miteinander zu verknüpfen – daher ist es naheliegend, dass der mediale Temporallappen auch für solche Denkprozesse von wichtiger Bedeutung ist.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie stützt diese Annahme. Darin hemmten die Forschenden mittels transkranieller Magnetstimulation die Aktivität in einem Teil des Hippocampus, der zum medialen Temporalkortex gehört. Wie erwartet, sorgte das nicht nur dafür, dass die Studienteilnehmer gedanklich weniger Details von zukünftigen Ereignissen durchspielten. Sie produzierten auch eine geringere Anzahl kreativer Ideen. Hemmten die Wissenschaftler hingegen eine andere Gegend, verschwand der Effekt.

Ein weniger aktiver visueller Cortex und ein aktiveres Default Mode Network – die unterschiedlichen Befunde scheinen die Annahme zu unterstützen, dass Langeweile und Nichtstun unsere Kreativität be-flügeln kann. Ich wäre jedoch vorsichtig, davon auszugehen, dass Langeweile generell zu erhöhtem Ide-enreichtum führt. Denn es gibt auch Faktoren, die ihn schmälern könnten: ob wir kreative Geistesblitze haben, hängt nämlich auch von unserer Laune und unserem Aktivierungszustand ab. Sind wir wütend oder glücklich, sind originelle Einfälle sehr viel wahrscheinlicher, als wenn wir traurig, melancholisch oder einfach nur ruhig und entspannt sind. Insofern würde es mich nicht verwundern, dass Leute, die während des Lockdowns wenig zu tun hatten, anfangs vielleicht noch vor Energie und somit Ideen sprühten – nach ein paar Wochen aber nur noch lustlos auf dem Sofa hingen.


Nota. - Das Gehirn ist ein Muskel wie jeder andre. Wird er nicht regelmäßig in Anspruch genommen, er-schlafft und verkümmert schließlich. Hat er nichts zu tun, entspannt er sich und wartet auf neue Heraus-forderungen. Bekommt er keine, fängt er irgendwann an, zu kribbeln und gar zu zucken. Das kann man durch Surrogate betäuben - wenn man für sowas eine Schwäche hat. Die andern müssen zappeln und hopsen und fangen irgendwann an zu tanzen. Das ist dann Kunst. 

Mit dem Gehirn ist es ebenso.
JE



Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.  JE

Vom Kopf auf die Füße.

                                                                                                  aus Marxiana

In meinen jungen Jahren war es üblich, Marx durch Hegel zu erklären: Er habe jenen "vom Kopf auf die Füße gestellt". Nach Marxens eigener (unrichtigen)* Auffassung hätte Hegel aus zwei Teilen bestanden, dem Fichte' schen Subjekt und der spinozischen Substanz. Beim bloßen Vom-Kopf-auf-die-Füße würde sich daran nichts ändern, allenfalls würden die Seiten verkehrt. Die 'Substanz' gehörte aber ganz ausgeschieden, wenn Marx, wie er doch wollte, ein revolutionärer Denker war. Sie ist der Nistplatz aller Mystifikationen und aller Reaktion. Und, was wissenschaftlich erheblicher ist, sie verhindert jedes Verständnis der Kritik der Politischen Ökonomie!

Die Kritik der Politischen Ökonomie verfährt wie alle Kritische Philosophie. Sie überprüft die überkommenen Begriffe auf ihre Herkunft und Tragfähigkeit, und was sich nicht bewährt, wird verworfen: An den verselbstän- digten Kategorien wird gezeigt, dass und wie in ihnen absichtsvoll handelnde historische Subjekte verborgen sind. Dies ist die positive Ansicht der Kritik: Sie zeigt die Menschen tätig, wo die Apologetik zeitlose Form behauptet.

Als Weihrauch der ominösen Substanz dient die mystifizierte, weil schematisierte und automatisierte Dialektik. Sie ist das Perfideste an Hegels zusammengestohlenen Galimatias. Die analytisch-synthetische Methode ist bei Fichte das Werkzeug in der Hand des Kritikers, mit dem er die verdinglichten Begriffe auseinandernimmt und die ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen freilegt. Bei Hegel ist sie "Selbstbewegung des Begriffs", die ohne tätiges Subjekt auskommt: Was als Subjekt erscheint, ist lediglich Agens der sich entfaltenden (und wieder zu- sammenfaltenden) Substanz. - Und in dieser Form konnte sie, als es soweit war, sich zum allbereiten Arkanum in Stalins "Dialektischem Materialismus" fügen. 


*

Die Weltrevolution, um die es im Denken von Marx doch immer ging, hat nicht stattgefunden. Wenn sie ihre Zeit hatte, dann hat sie sie versäumt. Allerdings hat auch nicht die Kritik der Politischen Ökonomie sie postu- liert noch postulieren können. Die Emanzipation der Proleratiats durch die kommunistische Revolution war nicht das gedankliche Resultat der Kritik, sondern lag ihr als Motiv zu Grunde. Die Kritik der Politischen Öko- nomie endet beim tendenziellen Fall der Profitrate, und der wird kommen, doch wann, ist theoretisch nicht ab- zusehen. Es kann auch sein, dass er niemals akut wird - und doch bestimmt seine Tendenz das krisenhafte Auf und Ab der Weltwirtschaft heute so unmittelbar wie nie. 

Das Kapital ist kein Nachschlagwerk, aus dem man lesen kann, was morgen auf uns zukommt. Es ist eine Kritik, die erst mit ihrem Gegenstand hinfällig wird.
15. 9. 17

*) Diese Beschreibung träfe auf den jüngeren Schelling zu. Sie stammt auch nicht von Marx selbst, sondern von Moses Hess, dessen Kenntnisse lückenhaft waren. Marx hat sie später nie wieder aufgegriffen.




Was ist praktisch?

David
Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.
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Kant, Kritik der reinen Venunft, A 800 



Eindeutige und ungefähre Wahrnehmung.

Titi-Springaffe                                                                                                         aus Philosophierungen 

Die Auffassung der Erscheinungen der Welt als eindeutig zu Unterscheidende nennen wir die digitale, die Auf- fassung der Erscheinungen als gleitendes Kontinuum nennen wir eine analoge. Um die digitale Wahrnehmung so wiederzugeben, dass ein Anderer sie identifizieren kann, braucht man ein unmissverständliches Zeichen, ein digit, am besten ein - Wort. Eine analoge Wiedergabe bedarf eines kontinuierlichen Signalsystems.

Was war eher da - die digitale Wahrnehmungsweise des Menschen oder seine sprachliche Mitteilungsweise? Ich wage mal eine Spekulation: Es war die Wiedergabe durch spezifische Wortzeichen, die durch Äonen unser Be- wusstsein geprägt, nämlich überhaupt erst möglich gemacht hat, und diese Bewusstseinsverfassung hat ihrer- seits seine Wahrnehmung geprägt.


 
Und siehe da: Eine 'vernünftige' Weltanschauung, und darunter verstehen wir seit gut 200 Jahren eine, die die Phänomene einander als Ursachen und Wirkungen zuordnet, ist nur bei einer digitalen Unterscheidung der Wahrnehmungen möglich: Eine Erscheinung muss als diese Eine spezifiziert worden sein, um ihr 'diese eine' Ursache zuschreiben zu können. Wessen Wahrnehmung aus ineinander übergehenden Bildern besteht, muss sich mit erfahrungsmäßiger Wahrscheinlichkeit bescheiden.

Merke: Die Unterscheidung nach Ursache und Wirkung ist reflexiv, sie schaut sich um: 'Da' ist die Erscheinung, die Ursache muss als hinter ihr verborgen angenommen werden - als schon geschehene, und durch sie ist sie bestimmt. Der probabilistische Blick in die Welt sieht nach vorne, er erwartet etwas; doch das Etwas ist analog, nur ungefähr, noch unbestimmt.

3. 6. 19
 

Nachtrag.

Doch wer sich durch die digitale Verfassung seines Merksystems einmal auf die kausalistische Weltanschauung festgelegt hat, wird Schwierigkeiten bekommen, wenn er Phänomene verstehen soll, die nicht in dieses Schema passen. Da ist auf der einen Seite der kontinuierliche Verlauf systemischer Prozesse, und auf der entgegengesetzten Seite das Phänomen der Emergenz, das aus heiterm Himmel zu kommen scheint - und beide sind zwei Seiten einer Medaille.
(wann?