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Donnerstag, 11. Februar 2021

Wahrheit ist Wahrhaftigkeit.

                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Ich muss das Objekt so oder so vorstellen, wenn ich es richtig vorstellen will: Indem ich das sage, meine ich, ich könnte es auch nicht-richtig vorstellen wollen, und die Notwendigkeit meines Denkens ist nur bedingt und hängt ab von meiner Freiheit. Was ist dies für eine Freiheit und wo kommt sie vor?

Ich bin beschränkt in A; die ideale Tätigkeit, die aus dieser Beschränktheit hervorgeht, ist auch beschränkt. Diese beschränkte ideale Tätigkeit ist die Anschauung Y. Diese ist aber hier der Strenge nach nichts als eine von uns vorausgesetzte Idee, denn sie ist ja nicht für das Ich. Soll sie für das Ich etwas sein, so muss von neuem dar- auf reflektiert werden, das Ich muss von neuem sie setzen.

Man nehme an, diese neue Reflexion soll mit Freiheit geschehen.

Die praktische Tätigkeit lässt sich ganz unterdrücken, so dass gar keine mehr übrig wäre, sondern nur ein Stre- ben nach ihr. Aber der Charakter der idealen Teäigkeit ist, dass sie mir bleibe und nicht aufgehoben werden könne. Sie soll nur in //98// Y beschränkt sein, aber sie kann nicht aufgehoben werden; sie ist sonach nur zum Teil beschränkt und kann sich von dieser Beschränktheit losreißen; in der Anschauung Y ist die ideale Tätigkeit nur zum Teil beschränkt, sie kann sich losreißen mit Freiheit. Ob sie sich unbedingt losreißen müsse oder nicht, oder falls das letzte stattfinden sollte, unter welchen Bedingungen, werden wir sehen.

Das Ich soll gesetzt werden als das Anschauende, aber das Ich ist nur das Tätige und nichts anderes. Sonach muss die Anschauung als Produkt der freien Tätigkeit gesetzt werden, und nur dadurch wird sie es. Aber Tätig- keit lässt sich nach dem allgemeinen Gesetz der An-schauung nur setzen als ein Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Ich soll mich tätig setzen heißt, ich soll meiner Tätigkeit zusehen. Dies ist aber ein Übergehen vom Unbe-stimmten zum Bestimmten. Soll die Anschauung also als frei gedacht werden, so muss sie auch in demselben Moment gebunden gesetzt werden. Freiheit ist nichts ohne Gebunden-heit et vice versa. Das Losreißen ist nicht möglich ohne etwas, wovon gerissen wird. Nur durch Gegensatz entsteht Bestimmtheit des Gesetz- ten.

Wie kann nun Freiheit und Beschränktheit der idealen Tätigkeit beisammen sein? So: Wird auf die Bestimmtheit des praktischen (realen) Ich reflektiert, so muss auch Y notwendig so gesetzt werden, also nur die Synthesis ist notwendig. Oder: Soll die Vorstellung wahr sein, so muss ich den Gegenstand so vorstellen, ob aber diese Synthesis vorgenommen werde, dies hängt von der Freiheit des Vorstellenden ab, welches [sic] in sofern keinem Zwange un-terworfen ist. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97f.



Nota. - Der Eintrag schließt unmittelbar an den gestrigen an. Es ging darum, wie 'das Ding außer uns der Wahrheit gemäß dargestellt' werden kann. Ist nun etwa doch die Rede davon, was das Ding "an sich" sei? Wahrheit bezieht sich hier offenbar nicht auf das Ding, sondern auf die Vorstellung vom Ding. Es geht darum, dass in der Vorstellung sich schließlich nichts vorfindet, als was im Verlauf der vorstellenden Tätigkeit wirklich gesetzt und bestimmt wor-den ist; es geht um die Wahrhaftigkeit des Vorstellenden. Eine andere Wahrheit kann es für die Transzendentalphilosophie nicht geben. 



Als vernünftig soll gelten ein Denken, das dem Schema der Wissenschaftslehre folgt. Nach ihm konstituiert sich die Reihe vernünftiger Wesen. Jene ist die Vernunft in ihrer Wirklich-keit. So weit sie dem Schema folgen - so weit sie vernünftig denken -, müssen sie alle in der Darstellung der Dinge außer uns übereinstimmen: Das bedeutet Wahrheit. 

Sie müssen, sofern sie die Eingangsbedingung gewählt haben und ihr treu geblieben sind: Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - reale Tätigkeit - und be-stimmt sich, indem es sich sich-selbst entgegensetzt - ideale Tätigkeit; daraus folgt alles. Die Notwendigkeit dieses oder jenes Denkens, der Denkzwang tritt ein lediglich unter dieser Bedingung; sie wurde durch Freiheit gewählt und wird durch Freiheit erhalten. Jeder, der spinnen will, mag spinnen.
JE, 26. 10. 18



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Freitag, 12. Februar 2021

Das Gefühl der Gewissheit.

                              zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wahrheit ist Gewißheit: und woher glauben die Philosophen der entgegengesetzten Schule zu wissen, was gewiß ist? Etwa durch die theoretische Einsicht, daß ihr Denken mit den lo-gischen Gesetzen übereinstimmt? Aber woher wissen sie denn, daß sie sich in diesem Urtei-le über die Übereinstimmung nicht wieder irren? Etwa wieder durch theoretische Einsicht? Aber wie denn hier? – Kurz, da werden sie ins Unendliche getrieben, und ein Wissen ist schlechthin unmöglich. – Überdies, ist denn Gewißheit ein Objektives, oder ist es ein sub-jektiver Zustand? Und wie kann ich einen solchen wahrnehmen, außer durch das Gefühl? /

Es ist klar, daß dieses Gefühl nur mein Denken begleitet und nicht eintritt ohne dieses. – Daß das Gefühl eine Wahrheit geben solle, ist unmöglich und würde keinen Sinn haben. Es, dieses Gefühl der Gewißheit und Wahrheit, begleitet nur ein gewisses Denken. 

Es ist klar, daß, wenn ein solches Denken die Bedingung der Vernünftigkeit selbst ist und das Gefühl der Gewißheit unabtrennlich einfaßt, alle Menschen über dieses Gefühl überein-kommen müssen und es jedem anzumuten ist, wenn es ihm auch nicht anzudemonstrieren wäre, welches in Absicht des Unmittelbaren überhaupt nirgends stattfindet. 

Es ist dieses Gefühl ein intellektuelles Gefühl.

Es ist dies der Grund aller Gewißheit, aller Realität, aller Objektivität.

Das Objekt ist ja nicht durch die sinnlichen Gefühle: denn auch diese sind nur Prädikate desselben, die schon ein Objekt, schon eine Erfassung dessen, was eigentlich nur subjective [sic] ist, voraussetzen. Es ist durch das Denken. – Drum ist dieses nicht ein bloßes Denken. Woher das in ihm entsprechende [sic]? Aus dem intellektuellen Gefühle.
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J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 146f.]  



Nota I. - Gewiss ist ein Denken, das sich seiner gewiss ist - das ist ja wohl eine Tautologie. Wie auch anders? Ausdrücklich sagt er: Wahrheit verbürgt es nicht. Es bezeugt lediglich die Wahrhaftigkeit dessen, der so oder so meint. Die Gründe für sein Someinen wird er vertei-digen müsse gegen jeden andern aus der Reihe vernünftiger Wesen, dessen Gefühl der Ge-wissheit einer andern Meinung gilt. Und sie werden streiten. Dass sie sich einigen, setzt vor-aus, dass das Gefühl der Gewissheit des Einen schließlich derselben Meinung gilt wie das Gefühl der Gewissheit des Andern. Doch ob oder ob nicht, steht nirgends geschrieben. 

Wenn es über dem Gefühl meiner Wahrhaftigkeit, d. h. dem Gefühl der Übereinstimmung meines Denkens mit sich selbst, ein Gefühl für die Wahrheit geben sollte, wäre es das Ge-fühl der Übereinstimmung meines Meinens mit einem Sein-an-sich. Nicht nur ist die Idee eines Gefühls für ein Ansich Unfug; Unfug ist die Vorstellung von einem Ansich.

Mit andern Worten: Durch kein wie immer geartetes Gefühl wird Streit überflüssig. Die ge-prüften Gründe werden bestehen, die mangelhaften Gründe müssen weichen. Einer mag trotzig auf seiner widerlegten Meinung behar- ren, und wenn er reich nud stark ist, kommt er im Leben damit eine Weile durch. Doch auf die Dauer - und im Kreise der Gelehrten recht bald - werden die bewährten Gründe aufgehoben und die widerlegten verworfen. Es werden mit der Zeit Gesichtspunkte auftreten, die für eine Revision sprechen; dann beginnt derselbe Prozess aufs neue. Mehr Wahrheit gibt es nicht. Und wozu könnte sie gut sein?

Nota II. - Von einer Stimmungslage - "mir ist grad so" - ist natürlich nicht die Rede. Son-dern von einer denkpraktischen Erfahrung: 'Wie immer ich es anstelle: Anders geht es nicht.' Wenn ich mich nicht selbst für beschränkt halten wollte - was ich nicht könnte, wenn ich es wäre -, müsste ich annehmen: Ein anderer kann es auch nicht. Wenn er mich eines bessern belehrt, bin ich betreten und sage erstmal ein Weile nichts.
JE, 22. 8. 18




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Sonntag, 9. Februar 2020

Alle Philosophie ist Sprachkritik.

birgitH, pixelio.de                                   aus  Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem
 
Alle Philosophie ist 'Sprachkritik'. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.
Wittgenstein, Tractatus N° 4.0031

Wenn sie Kritik sein soll und nicht bloß Krittelei, dann muss sie einen Gesichtspunkt wählen, unter dem sie kriti- siert; ein Kriterium, an dem sie prüft. Bei der Sprache könnte das ihre kommunikative Leistung sein oder ihre Aussagekraft: nennen wir es: Wahrheitsfunktion; wohl wissend, dass es sich nur um subjektive Wahrhaftigkeit handeln kann. Zum einen: Kann, und unter welchen Bedingungen kann die Sprache mitteilen, was gemeint ist? Das betrifft ihre technische Leistung, nämlich für die Gemeinschaft, deren Zusammenhang durch die Sprache vermittelt ist. Zum andern: Kann die Sprache aussagen, was gemeint ist? Das ist eine Performanz, die über das Technische hinausgeht, denn ihr Prius ist das, was gemeint ist; und was gemeint werden könnte unabhängig von seiner sprachlichen Form.

Wittgenstein beginnt als Logiker, und auch als Sprachkritiker geht es ihm um die Genauigkeit dessen, was mit- geteilt wird, nicht aber um das, was mitgeteilt wird. Das war stattdessen das Thema Mauthners. Wenn die Spra- che gar nicht fassen kann, was 'eigentlich' ausgesagt werden soll, kann sie es schon gar nicht mitteilen; darüber muss man sich dann nicht mehr den Kopf zerbrechen. Dass in der Realität des Sprachverkehrs eine Menge von Ungefähr den diskursiven Fortgang und daher Mitteilung überhaupt erst möglich  macht, verweist darauf, dass das Gemeinte zuerst bildhaft angeschaut werden musste, bevor es in das konventionelle Rezeptakel des Begriffs gefügt werden konnte. Vom Standpunkt der Mitteilung wäre die präzise Fassung des Rezeptakels wohl wünschens- wert. Aber nicht vom Standpunkt dessen, was mitgeteilt werden soll. Dem passt die bildhafte Form besser. 

Jede sprachliche Mitteilung grenzt irgendwo an Kunst. Künstlich wirkt sie in den exakten Wissenschaften oft darum, weil sie das Künstlerische absichtlich unterdrücken - und gerade sein Fehlen hervorheben, was dasselbe hintenrum ist. Indes, in den exakten Wissenschaften kommt es gerade darauf an, dass ein Glied so perfekt wie möglich an das andere anschließt: Wo das den Sinngehalt einschränkt, wird man eben ein paar Zwischenglieder einfügen, weil auf Schönheit kein Wert gelegt wird. Die kommt eventuell wieder in Frage, wo es um die Anschau- ung (sic) des im Diskurs auseinandergelegten Ganzen geht.

Das aber ist eine wissenschaftstechnische Frage und keine philosophische. Sie betrifft die Mitteilung und nicht den Gehalt.

Das philosophische Problem liegt ganz woanders: Wie kann man von dem reden, was vor und unterhalb der sprachlichen Form liegt, ohne sich selber der sprachlichen Form zu bedienen? Das war das meta-logische Pro- blem, dem Fichte die Wissenschaftslehre gewidmet hat. Die gegebene Sprache - das Sprachspiel, sagte einer - hat in ihren Begriffen ein allerfassendes Instrumentarium geschaffen, die einander alle wechselseitig bedeuten. Justie- rungen sind da nur immanent möglich. Doch die Frage Was? und Woher? müsste in den bildhaften Urgrund des Vorstellens selbst hinabtauchen. Den Punkt, von dem aus sie die Rekonstruktion dann in Angriff nimmt, kann sie sich nicht frei aussuchen. Sie muss ihn auf suchen nach Regeln, die sie rechtfertigen kann. 

Die Wissenschaftslehre hat das unternommen. Ob und wieweit es ihr gelungen ist, ist ein anderes Thema. Aber Wittgenstein hat es nicht einmal versucht. Er blieb meilenweit davon entfernt.
16. 8. 18

Mittwoch, 25. November 2020

Wahrheit im Denkzwang?

                             aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Aber bin ich gezwungen, die Dinge so zu denken?

Ich kann von ihnen abstrahieren oder ich kann sie auch anders denken, also findet kein Denkzwang statt. Aber dann stelle ich das Ding nicht der Wahrheit gemäß dar; aber soll meine Vorstellung dem Dinge gemäß sein, so findet Denkzwang statt. Aber was ist denn das für eine Wahrheit, an die meine Vorstellung gehalten werden soll?


Es ist die Frage nach der Realität, die wir der Vorstellung zu Grunde legen. Unser eigenes Sein in praktischer Hinsicht ist die Wahrheit, es ist das unmittelbar Bestimmte, wovon sich weiter kein Grund angeben lässt. Die- ses unser eigenes Sein deuten wir durch ein Ding außer uns; dieses Ding außer uns ist seiner Wahrheit gemäß dargestellt, wenn es auf ein inneres Sein deutet. Aus einem Quantum Beschränktheit in mir folgt diese oder jene Be-schränktheit außer mir.
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J. G. Fichte,Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97


Nota. -  Was ist Wahrheit? Unser eigenes Sein - und zwar in praktischer Hinsicht - ist die Wahrheit. In praktischer Hinsicht heißt: in Bestimmung zu... Wozu ist mein Sein praktisch bestimmt? Zu unendlichem Übergehen vom Unbestimmten zum Bestimmten; bestimmt zu unendlichem Bestimmen. Nicht meine Bestimmtheit ist mithin die Wahrheit meines Seins, sondern das Übergehen. Das dürfte nun wohl als Kernsatz der Wissenschaftslehre gelten - wenn nämlich einer so unklug wäre, sie lehren zu wollen.
 

In Hinblick auf das Gefühl - im folgenden Absatz kommt er darauf zurück - erhellt schon-mal dies: Ein Denkzwang und das entprechende Gefühl, genötigt zu sein, stellt sich nur ein, wenn ich den Vorsatz gefasst habe, 'wahr' zu denken. Aber den kann ich nur aus Freiheit fassen. Ein 'Leiden', ein Gefühl des Gezwungenseins kommt nur vor unter Bedingung eines vorausgegangenen Akts der Freiheit.  

Das ist nun ganz etwas anderes als das sinnliche Fühlen, von dem zuvor stets die Rede war. Er wird an Stelle der Anschauung des einzelnen Gefühls bei diesem bestimmten Denkakt den gesamten Zustand des ganzen artikulierten Organismus ins Spiel bringen müssen. Die Scheidung von sinnlich und intelligibel ginge verloren; nicht aber die von real und ideal.
JE, 25. 10. 18



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Mittwoch, 20. November 2019

Evidenz und Ästhetik.

 
Kandinsky, Angular, Juli 1931                                                                                                     zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem
 
Es gibt Wahrnehmungen (Vorstellungen), die eo ipso von einem Gefühl des Beifalls oder der Missbilligung begleitet sind. -

So sind die logischen Operationen: Ihre Ergebnisse sind richtig oder falsch. Dieses Urteil selbst lässt sich nicht weiter erklären oder begründen. Es ist evident.
 

Evidenz ist eine ästhetische Qualität.

aus e. Notizbuch, Ende Jan. 2009

Was sagt das aber über die Wahrheit der Ergebnisse aus? Gar nichts, wenn man unter Wahrheit die Überein- stimmung der Aussage mit dem Sachverhalt versteht, denn der eine ist ein materielles, die andere ein intellek- tuelles Datum, die einander schlechterdings inkommensurabel sind. Wahrheit kann nur bestehen in der Über- einstimmung der Vorstellung mit der Aussage; als Wahrhaftigkeit.





Mittwoch, 26. August 2020

Was erzählen Träume?


aus scinexx                                                                                                                     zuJochen Ebmeiers Realien
  
Was verraten unsere Träume?
Auswertung von 24.000 Trauminhalten stützt Kontinuitäts-Hypothese

Spiegel des Alltags: Die computergestützte Auswertung von mehr als 24.000 Träumen bestätigt die Annahme, dass wir im Schlaf vor allem unsere Wachein-drücke verarbeiten – die Erfahrungen unseres alltäglichen Lebens. So waren die Trauminhalte von Männern oft negativer und stärker von aggressiven Handlungen geprägt als die von Frauen. Die Träume Heranwachsender spiegeln dagegen ihren Übergang ins Erwachsenenalter wider.

Schon seit Jahrhunderten rätseln Menschen darüber, was Träume bedeuten. Sind sie Botschaften unseres Unbewussten und spiegeln unsere tiefsten Wünsche wider, wie Sigmund Freud und andere Psychoanalytiker vermuten? Oder entstehen die Trauminhalte nur aus dem Leerlauf unseres Geistes – ein Nebenprodukt der Verarbeitung tagsüber gemachter Erfahrungen? Bislang sind diese Fragen nicht abschließend beantwortet – die Meinungen der Wissenschaftler gehen noch immer auseinander.

Maschinenhirn als Traumdeuter

Mehr Aufklärun000 Traumberichten auszuwerten, die in zwei internationalen Datensammlungen enthalten sind. Der Algorithmus kann anhand bestimmter Begriffe und ihrer Bedeutung und Konnotation drei Kernmerkmale der Trauminhalte erfassen und bewerten.

„Bisher waren die meisten Versuche, Trauminhalte automatisiert auszuwerten, darauf beschränkt, die im Traum transportierten Emotionen zu erfassen“, erklären die Forscher. „Andere für die Traumforschung wichtige Aspekte, wie die auftauchenden Charaktere und ihre Interaktionen, blieben dagegen unberücksichtigt.“ So nutzt eine gängige Analyseskala, Hall und Van Castle, genau diese Aspekte, um Trauminhalte einzuordnen.

Charg könnte nun eine Methode bieten, die Alessandro Fogli von der Universität Rom und seine Kollegen entwickelt haben. Sie nutzten ein lernfähiges Computerprogramm, um automatisiert die Trauminhalte von mehr als 24.aktere, Interaktionen und Emotionen

Das von Fogli und seinen Kollegen entwickelte Computersystem ging die Traumberichte Satz für Satz durch und extrahierte anhand von Wortwahl, Grammatik und Kontext zunächst, wer die Akteure waren – ob Mann oder Frau, lebender Mensch oder Geist/Fantasiewesen. Dann ermittelte der Algorithmus auf Basis der verwendeten Verben, welcher Natur die Interaktionen der Handelnden sind – freundlich, aggressiv oder sexuell.

Als letztes bewertete das Programm die in den Berichten verwendeten Wörter in Bezug auf ihren emotionalen Gehalt. Auf Basis eines speziellen Emotions-Lexikons stufte es die Trauminhalte nach den Grundgefühlen Ärger, Angst, Spannung, Vertrauen, Überraschung, Trauer, Freude und Ekel ein. Um die Zuverlässigkeit des Tools einzustufen zu können, verglichen die Forscher einen Teil seiner Analysen mit der einiger ausgebildeter Schlafforscher und Psychologen. „Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass solche Technologien wichtige Aspekte von Träumen erfassen und quantifizieren können“, sagt Fogli.

Setzen sich Unterschiede im Alltag bis in den Traum fort?

Dann folgte die eigentliche Untersuchung: Auf Basis dieser automatisierten Analyse untersuchten die Wissenschaftler, ob sich in den Trauminhalten Hinweise darauf finden, dass die „Kontinuitäts-Hypothese“ zutrifft. Sie geht davon aus, dass wir im Traum unsere alltäglichen Erfahrungen verarbeiten und weiterleben.

„Unser Alltag ist von einer Vielzahl von Faktoren geprägt, dazu gehören unser Geschlecht, die aktuelle Lebensphase, tiefgreifende Erlebnisse oder auch die Erfahrung alltäglicher Gewalt“, erklären die Forscher. Wenn die Kontinuitäts-Hypothese zutrifft, müssten sich demnach Träume von Frauen systematisch von denen der Männer unterscheiden, die von Jugendlichen von denen Erwachsener oder auch die eines Kriegsveteranen von denen eines Menschen, der nie beim Militär war. Genau das haben Fogli und sein Team mithilfe ihrer Software überprüft.

Männer träumen anders als Frauen

Das Ergebnis: Die Träume von Männern und Frauen unterscheiden sich tatsächlich in einigen grundlegenden Aspekten. „Männerträume enthalten mehr Kennzeichen der Aggression und mehr negative Emotionen“, berichten die Forscher. „Frauen dagegen berichten häufiger über positive Gefühle und freundliche Interaktionen der Traumcharaktere.“

Nach Ansicht von Fogli und seinem Team spiegelt dies durchaus die durchschnittlichen Alltagserfahrungen der beiden Geschlechter wider: „Ähnlich wie im richtigen Leben neigen Frauen dazu, freundlicher und weniger aggressiv zu sein als Männer“, erklären sie. Demgegenüber spiegeln die Trauminhalte Heranwachsender häufig ihren Übergang vom Kind zum Erwachsenen wieder: „Izzy erlebte als Teenager im Traum viele negative Emotionen, später spielten sexuelle Interaktionen eine immer größere Rolle“, schildern die Forscher ein Beispiel.

Resultate spreche für die Kontinuitäts-Hypothese

Während diese Tendenzen bei der Analyse nur einzelner Traumberichte oft noch nicht deutlich werden, lassen sie sich durch die Auswertung großer Mengen an Traumberichten besser vergleichen und quantifizieren. Die große Datenbasis erleichtert es somit, solche Aspekte zu erkennen, wie die Wissenschaftler erklären. Sie schließen aus ihren Ergebnissen, dass die Hypothese einer Fortsetzung der Alltagserfahrungen bis in den Traum hinein zutrifft.

„Unsere Resultate stützen die Idee, dass es eine Kontinuität zwischen dem gibt, was eine Person tagsüber im echten Leben erfährt und was sie träumt“, so Fogli und seine Kollegen. (Royal Society Open Science, 2020; doi: 10.1098/rsos.192080)

Quelle: Royal Society

Montag, 7. Juni 2021

Psychologie und Philosophie scheiden sich an der Frage nach der Wahrheit.

                                                                                       aus Philosophierungen

Die kategorische Unterscheidung philosophischer und psychologischer Betrachtung ist nichtsdestoweniger nur eine operative. Es geht ja in jedem Fall um das wirkliche Wissen. 

Die Unterscheidung betrifft die Frage nach der Notwendigkeit. Die Psychologie beobachtet, wie soundsoviele Menschen unter ihren je gegebenen Lebensumständen (ggf. im Labor) tat-sächlich denken. Die philosophische Fragestellung will ergründen, ob sie mit Notwendigkeit so denken oder nur zufällig; also ob sie auch anders denken könnten, wenn... wahre Ergeb-nisse erzielt werden sollen. Die Frage nach der Wahrheit der Denkresultate und die nach der Notwendigkeit sind der Sache nach ein und dasselbe.

Nur unter der Voraussetzung, dass wahre Denkergebnisse überhaupt möglich sind, lässt sich richtiges von falschem Denken unterscheiden. Die psychologische Untersuchung kann sich allenfalls auf die Pragmatik des Denkens erstrecken: wie und wieweit aus Erfolg und Misserfolg des Denkens "im praktischen Leben" gelernt wird.


aus e. Notizbuch, 7. 12. 1994


In der Sache bin ich heute klüger. Die Notwendigkeit eines Denkens entscheidet in keiner Weise über die Wahrheit seiner Resultate. Wenn man unter Wahrheit nämlich eine Überein-stimmung zwischen der Vorstellung und ihrem Gehalt versteht; oder zwischen der Bedeu-tung eines Dings und seinem Sein. Das gibt es nicht nur nicht, sondern es hat nicht einmal Sinn. Was soll das heißen: der Geruch der Aprikose stimmt mit ihrem spezifischen Gewicht überein? Das ist einfach Quatsch.

Die Frage kann allenfalls sein, ob ich über die Schritte, durch die ich zu meinem Urteil über die Bedeutung des Dinges gekommen bin, Rechenschaft ablegen und zeigen kann, dass ich die gebotene Vorsicht habe walten lassen. Da die Bedeutung der Sache kein Objektivum ist, sondern eine Zurechnung, kann es gut sein, dass ich mich mit dem Einen oder Andern nicht über sie einigen kann. Denn die Bedeutung der Sache für mich hängt ab vom Zweck, den ich mit ihr verbinde. Verständigen sollten wir uns können, wenn wir den Zweck teilen. Andernfalls müssten wir uns um den Zweck streiten.

Der oben angesprochene Unterschied zwischen Psychologie und Philosophie ist der: In der Philosophie geht es um unter gegebenen Bedingungen notwendige Urteile. Das wären sol-che, die - unter den gegebenen Bedingungen - jeder mit jedem teilen müsste. In der Psycho-logie geht es um die Meinungen, Ansichten und Gefühle, die ein Individuum oder eine Grup-pe von Individuen zufällig haben. Das eine hat mit dem andern so viel und so wenig zu tun wie das Ding mit seiner Bedeutung.
31. 10. 18




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Sonntag, 15. Dezember 2019

Wahres Wissen ist zirkulär.

lichtkunst.73, pixelio.de                aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 
 
Der Faden der Betrachtung wird an dem hier durchgängig als Regulativ herrschenden Grundsatze: nichts kommt dem Ich zu, als das, was es in sich setzt, fortgeführt. Wir legen das oben abgeleitete Factum zum Grunde, und sehen, wie das Ich dasselbe in sich setzen möge. Dieses Setzen ist gleichfalls ein Factum, und muss durch das Ich gleichfalls in sich gesetzt werden; und so beständig fort, bis wir bei dem höchsten theoretischen Factum an- kommen; bei demjenigen, durch welches das Ich (mit Bewusstseyn) sich setzt, als bestimmt durch das Nicht-Ich. So endet die theoretische Wissenschaftslehre mit ihrem Grundsatze, geht in sich selbst zurück, und wird demnach durch sich selbst vollkommen beschlossen.
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J. G. Fichte, Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, 
SW I, S. 333.


§ 1. Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz.

Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen.

Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathand- lung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vor- kommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstel- lung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig. 

Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht – kann Thatsache des Bewusstseyns werden, was an sich keine / ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene Thathandlung, als Grundlage alles Bewusstseyns, noth- wendig denken müsse. ... 

Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel.
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J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 91f.

 

Nota. - Wenn es aber zirkulär ist, dann ist es kein Wissen. Wenn am oberen Ende genausoviel steht wie am unte- ren, dann ist nichts hinzukommen - und das Wissen folglich leer.


Dies, wenn die Wissenschaftslehre eine logische Herleitung aus gegebenen Begriffen wäre - so wie die metaphy- sischen Systeme vor Kant. Die Wissenschaftslehre ist dagegen ein retroaktives Postulat. Sie ist keine Konstrukti- on der Wirklichkeit aus Prämissen, sondern eine eine experimentelle Unterschung des Gangs unserer Vorstel- lungstätigkeit. Es wird der Untersuchung eine problematische Behauptung zu Grunde gelegt - und nur, wenn nach Abschluss der Untersuchung nicht mehr und nicht weniger und schon gar nichts anderes steht als am An- fang; nur, wenn nichts hinzugekommen und der Zirkel lückenlos geschlossen ist, hat sich die problematische Eingangsbehauptung bewährt.

Was immer es tut: Das Ich 'setzt sich', indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - und zwar immer fort. Alle Tätigkeit des Ich ist Fortschreiten in der Bestimmung von Unbestimmtem. Von nicht anderem kann es wissen. Das ist - zusammenfassend - leicht gesagt. Doch um es einzusehen, war die hirnbrechende Ochsentour der Wis- senschaftslehre unumgänglich. Der sachliche Gehalt der realen Wissenschaften wird davon um keinen Deut er- weitert. Aber sie können nun ihres Wissens gewiss sein - wenn anders Wissen überhaupt möglich sein soll.

*

Die Frage Was ist Wissen? - oder: Was ist wahr? - formuliert Fichte um in: Wie kommen wir zu der Annahme, dass einigen unserer Vorstellungen Dinge außerhalb unserer Vorstellungen entsprechen? Das ist der prosaische Kern, der in der pompösen Frage nach der Warheit drinsteckt. 
JE 29. 7. 18

Dienstag, 22. März 2022

Zählt Renoir zum Rokkoko?

Pierre-Auguste Renoirs Ölgemälde „Frau mit einem Fächer“, ca. 1879 aus welt.de, 21. 3. 2022                 Pierre-Auguste Renoir, Frau mit einem Fächer, ca. 1879                               zu Geschmackssachen

Niemand hat den Fortschritt wollüstiger geleugnet
Als Impressionist wurde er viel geschmäht wegen seiner Nymphomanie. Doch feiern muss man Renoir als den Maler, der das Rokoko in die Moderne rettete und die Sehnsüchte bedient, welche die neue Zeit nicht befriedigen konnte.

Man muss nicht alle Tage im Museum herumgeschlichen sein. Man hat doch gleich eine Vorstellung, wenn man den Namen hört. „Renoir“: Sonne, davon viel, blendendes Licht, blühende Gärten, flirrende Sommer. Ein Winterbild hat der Maler nicht gemalt – anders als sein Impressionisten-Kollege Claude Monet. Und vor den vielen Nackten im Freien ist es auch nie so, dass es einen frösteln würde. Immer weht diese arkadische Wärme durch die Waldlichtungen und an den Flußufern und in den gemütlichen Stuben, in denen Gabrielle die Kleider ausgezogen und sich aufs Kanapee gelegt hat.

Welteinverständiger kann Welteinverständnis kaum sein als in diesem so populär gewordenen Werk. Und schon immer war es etwas schwierig, das vermeintliche Fortschritts-Idiom des Impressionismus mit den heiter zufriedenen, seltsam zeitenthobenen Inhalten dieser Bilder zusammenzubringen.

War „Impressionismus“ nicht doch polemische Abkehr von den Realismus-Klischees der Akademien, nicht Sezession, Aufbruch der Malerei in eine Gegenwart, die sich all der Wirklichkeitsfragmente bewusst sein wollte, aus denen Auge und Hirn die sinnliche Welt zusammensetzen? Was aber ist geleistet für eine wahrnehmungskritische Moderne, wenn sich vier Badende am Nudistenstrand mit Krabben necken und dabei ihren Spaß haben wie die Wassernixen bei Arnold Böcklin?

Es ist in Wahrheit ganz anders gewesen, sagt, zeigt eine große Frankfurter Ausstellung. Genau besehen war dieser Pierre-Auguste Renoir ein Spätgeborener, ein Zeitgenosse vielleicht auch, aber mehr noch Genosse einer verlorenen Zeit. „Ich stamme“, hat er von sich gesagt, „aus dem 18. Jahrhundert. Und ich glaube, dass nicht nur meine Kunst von Watteau, Fragonard, Hubert Robert herrührt, sondern dass ich einer von ihnen bin.“

Städel feiert Renoir-Rokoko-Revival

Und als ihn der Kunsthändler Ambroise Vollard fast bestürzt gefragt hat: „Sie leugnen jeden Fortschritt in der Malerei?“ Da gab er mit schönster Selbstverständlichkeit zurück: „Jawohl, ich leugne den Fortschritt in der Malerei! Kein Fortschritt in den Ideen, keiner in der Technik.“

Was wäre, wenn man die Fortschrittslosigkeit einmal ernst nähme und den Enkel zusammen mit den Großeltern ausstellen würde? Auf ins Städel Museum! „Renoir Rococo Revival“: Aufschlussreicher, unterhaltsamer kann kunsthistorisches Nachdenken nicht sein.

Renoir-Gemälde „Nach dem Mittagessen“, 1879Pierre-Auguste Renoir, „Nach dem Mittagessen“, 1879

Man ist schon durch eine Anzahl Kabinette spaziert – vorbei an lauter Epoche-übergreifenden Wahlverwandschaften und steht jetzt vor dem größten Bild der Ausstellung, Renoirs monumentalem „Ausritt im Bois de Boulogne“ aus dem Jahr 1873. Damals ging man noch nicht joggen, aber auch der Sport im Sattel war Sport, und die Amazone sitzt aufrecht auf dem trabenden Grauschimmel, der Junge neben ihr auf dem Pony schaut stolz zur Reiterin auf, und das alles ist derart aus der Untersicht gemalt, dass man meint, die Pferde seien mit ihren feuchten Nüstern schon über einem.

Ein paar Saalmeter weiter macht ein Paradegaul einen mächtigen Sprung. Auf seinem Rücken die französische Königin Marie-Antoinette. Untadelige Haltung. Adel in Bestausstattung. Louis-Auguste Brun hat das Herrscherinnenbild gemalt, exakt 90 Jahre vor Renoir. Damals hat die unglückliche Maria-Theresia-Tochter noch nicht wissen können, dass sie zehn Jahre später auf der Place de la Concorde guillotiniert werden würde. 

Porträt des Sammlers Ivan Mosorow Wird diese berühmte russische Kunstsammlung beschlagnahmt?

Ganz Paris war an dem 16. Oktober 1793 auf den Beinen. Sie soll noch einmal zum Jardin national geblickt haben, wo sie gerne ihr Prachtross bestiegen hat. Dann zeigte der Scharfrichter dem blutlüsternen Volk das abgeschnittene Königinnenhaupt. Der Chronist Thomas Carlyle vermerkt: „Lang anhaltende Rufe ‚Vive la République‘“.

Die Hurras sind bald im Terror erstickt. Es gehört zu den Wundern der französischen Geschichte, dass vom unvorstellbaren Schrecken der Revolution nur die „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“-Phrase geblieben ist, dass man sich alsbald mit Napoleon durch ganz Europa gekämpft hat und an den Bourbonen-Thronen wieder bereitwillig huldigen wollte, um schließlich unter dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe zur zivilen Erfolgsnation zu erstarken, die sich auch von der schmachvollen Niederlage gegen das preußische Deutschland die Laune nicht verderben ließ, die ihr glorioses Stadtleben morgens mit dem Ausritt im Bois de Boulogne begann und am Nachmittag im Louvre die Gemälde bestaunte, die von den Fantasien und Visionen, Erzählungen und Selbstdeutungen der vorrevolutionären Zeit geblieben waren.

Wenn man an Flauberts Romane denkt, an die Lebensbrüche, die der Schriftsteller vor dem szenischen Hintergrund des Juste Milieu seziert, dann erscheint die levitierte Gegenwärtigkeit, die der Maler Renoir vor dem szenischen Hintergrund der pudrigen Rokoko-Malerei des 18. Jahrhunderts veranstaltet, in der Tat eine bedenkenswerte Anverwandlung.

So hat man den Impressionismus noch nicht gesehen

So ganz der Fortschreibung jener hochkultivierten Gestik ergeben, mit der eine abgetane Epoche der sozialen Wirklichkeit entgegengemalt hat. Es ist wirklich überzeugend, wenn man zusammen sieht, wie die Ahnen ihre Kostümfeste auf gepflegten Park-Bühnen aufführen, und der Enkel die gleiche zeitlos theatralische Stimmung im Stadtwald und am Seineufer erreicht.

In großen Kapiteln verfolgt die Ausstellung die Nachbarschaften – immer Rokoko neben Renoir, Renoir neben Rokoko. Frauen beim Lesen und bei der Handarbeit, Frauen im Boudoir, Frauen beim Baden, Aktdarstellungen, Rollenporträts und wenn man nicht auch noch vor Landschaften und Stillleben stünde, wäre die ganze Ausstellung ein einziger malerlüsterner Blick des faszinierten Mannes auf das Weib.

Renoir-Gemälde „Weiblicher Akt in einer Landschaft“, 1883Renoir, „Weiblicher Akt in einer Landschaft“, 1883 

Gemälde von François Boucher, „Ruhendes Mädchen (Louise O ́Murphy)“, 1751 François Boucher, „Ruhendes Mädchen (Louise O ́Murphy)“, 1751

Und doch ist es eine Renoir-Ausstellung und keine Impressionisten-Ausstellung. Was für ihn gilt, gilt nicht für seine Mitstreiter. Degas imaginiert eine ferne Italianità, Manet nimmt Maß am spanischen Fach. Monet beobachtet seine Bürgersleute bei ihren familiären Lustbarkeiten und braucht dazu keine Ermunterung von Altvorderen wie Watteau, Fragonard oder Boucher. Es ist schon ein Alleinstellungsmerkmal in Renoirs Werk, wie er der kandierten Perückenwelt, die es ihm so angetan hat, bis in den schmelzenden Farbauftrag nachempfindet – und so die geschichtsvergessenen Sehnsüchte seiner zutiefst konservativ grundierten Zeit bedient.

Was gar nicht heißt, dass diese Bilder nicht auch etwas hätten, was keinem der Maler des Ancien Régime geglückt wäre. Vor dem fabelhaften Frauen-Porträt von 1874, vielleicht ist Gabrielle gemalt, das Lieblingsmodell mit Familienanschluss, mit überkreuzten Armen und versunkener Teilnahmslosigkeit, vor dieser ungemein selbstbewussten Personenzeichnung fällt einem der Kritiker Zola ein, der zu einem anderen berühmten Renoir-Bild „Lise mit Schirm“ – Lise Tréhot war die Tochter des Postmanns von Ecqueville – geschrieben hat: „Sie ist eine unserer Frauen, eine unserer Geliebten vielmehr, die mit großer Wahrhaftigkeit und einer geglückten Suche nach modernen Formen gemalt ist.“

Renoir: ein Glücksfall

Unbeschwerte Umschau in der Gegenwart unter Anleitung unbeschwerter Dystopien einer abgesunkenen Vergangenheit. Als ob nichts dazwischen gewesen wäre, kein Empire, kein napoleonischer Klassizismus, keine Romantik à la Delacroix, zehrt der Maler vom Überschwang seiner Möglichkeiten, pflegt sein problemloses Verhältnis zur Tradition, dieses wunderbare Vertrauen ins Bild.

Wenn modernetypisch die Zweifel sind, die Bedenken am Weltwiedererschaffungsprojekt des Malens, dann kann Renoirs Moderne nicht eine sein, die am besonderen Erscheinen der Dinge im Bild zu erkennen wäre. Krisenaugenblicke? Der Maler Renoir bei hemmender Selbsterforschung: Was mache ich da, wozu und zu welchem Ende und mit welchen Mitteln? Kaum vorstellbar.

Wenn es denn überhaupt so etwas wie ein Weltverhältnis in diesem Werk gibt, dann eines der schönen theatralischen Trübung, des ästhetischen Vorbehalts, der kunstgeschichtlichen Bedingtheit. Anders als mit den historischen, den ererbten Bildern im Kopf hat das Malerauge nicht sehen können, nicht sehen wollen.

Wohl sind sie alle Zeitgenossen, die Freunde und die Freundinnen, die Bürgersfrauen und Bürgersmänner, die dem virtuosen Porträtisten Modell gesessen sind. Aber kaum einmal, dass an ihrem Middle-Class-Profil nicht auch das Kostümierte auszumachen wäre, die malerisch zudiktierte Rolle. 

Renoir-Gemälde „Der Spaziergang“, 1870Renoirs „Der Spaziergang“ von 1870

Erfunden hat Renoir nichts. Nichts, was die Bildergeschichte revolutionär vorangebracht, nichts, was sie in eine ganz neue Richtung gelenkt hätte. Er hat die Bildergeschichte fortgesetzt, er hat einfach weitergemalt. Er hat mit leichthändigem Nachdruck dafür gesorgt, dass die triumphale Geschichte der Bilder nicht zu Ende geht. Und keine moderne Bildermacher-Skepsis war laut genug, um ihn aus dem Traum der alten Bilder-Sinnlichkeit aufwecken zu können.

Zumal der Traum sich weich den Träumen seiner Generation anschmiegte, die ja Nation erst wurde, als sie begann, sich mit den Empfindungsformeln jenes fernen 18. Jahrhunderts neu zu begründen. Im literarisch künstlerischen Gedenken an den ebenso höfischen wie großbürgerlichen Widerstand gegen den Zerfall der aristokratischen Kultur mit ihren feinziselierten Lebensformen, ihrer anakreontischen Antiken-Verklärung und all den sehnsüchtigen Erzählformen, mit denen das Rokoko wie in Trance über den Einspruch der aufklärerischen Intelligenz um Rousseau, Diderot oder d‘Alembert hinweggeschwebt war.

Das macht den Eigensinn von Renoirs Werk aus, dass es sich so entschieden unzuständig erklärt zur Kritik an der bewegten Epoche, an den unaufhaltsamen Brüchen in den sozialen Bindungen. Dass es dem unglücklich modernen Bewusstsein keine Spiegelbilder nachmalt oder vorausmalt. Dass es keine anderen Bilder kennt als die Bilder, die vom Glück des gelungenen Bildes zeugen.

Und so gesehen erscheint auch die Nymphomanie des oftmals diskreditierte Spätwerks nicht einfach als Ausdruck von verirrtem Geschmack. Da verrät sich der Maler nicht als seniler Dauererotiker, sondern radikalisiert in Wahrheit seine Abstinenz von Zeit und Raum. Die dreiste Nacktkörper-Tummelei ist nichts anderes als Chiffre für das unversiegte Begehren, das der Maler im sinnlichen Akt des Malens und im sinnlichen Resultat des Bildes immer wieder neu erfährt.

„Es ist so köstlich, sich der Wollust des Malens hinzugeben“, hat Renoir seinem wohl verdutzten Kunsthändler Vollard gebeichtet. Und als er das sagte, hat Watteau, der Liebesinsel-Maler, auf seiner Liebesinsel beseligt gelächelt. Hingabe ist immer gut. An die Wollust erst recht.

„Renoir. Rococo Revival“ ist bis zum 19. Juni 2022 im Frankfurter Städel zu sehen

 

Nota. - So oft ich auch geschrieben sehe - einen anderen Berührungspunkt zwischen Renoir und dem Rokkoko als den allgegegenwärtigen rosigfarbenen Babyspeck kann ich wirklich nicht erkennen. Mancher Rokkokomaler hatte ein Faible für schwindelerregende Land-schaftsperspektiven, Renoir dagegen hat für den Raum eine hoheitliche Geringschätzung, vor geraden Linien und rechten Winkeln graut ihm regelrecht. Und die anatomischen Schnitzer, die bei ihm fast die Regel sind, wären den zünftig ausgebildeten Rokokomeistern niemals unterlaufen

Die Rokkokoleute sind aristokratisch-dekadent oder taten wenigstens so, Renoir ist gutbür-gerlich positiv - man merkts schon an den ungebrochenen Industriefarben, die er direkt aus der Tube nimmt. 

Dass er ein herzensguter Kerl gewesen sein soll, hat mit Kunst so wenig zu tun, wie dass Edgar Degas, zu dem er fast bis zum Schluss gehalten hat, ein ausgesprochenes Scheusal war. Ich glaube, das Rokkoko will man ihm nur anhängen, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass er zwar gesellschaftlich zu den Impressionisten zu zählen ist, aber künst-lerisch eigentlich nicht dazugehörte; so wie es sich für Degas ja wohl herumgesprochen hat.
JE