Dienstag, 2. Februar 2021

Die Darm-Hirn-Achse.

praxisvita                                                                           zuJochen Ebmeiers Realien 

 aus derStandard.at, 29. Jänner 2021

Wie der Darm das Gedächtnis beeinflussen kann
Ein gestörtes Mikrobiom kann nicht nur Depressionen verursachen, sondern auch kognitive Fähigkeiten einschränken
 
von Karin Krichmayr
 
Dass eine gestörte Darmflora alles andere als angenehm ist, ist hinlänglich bekannt. Dass sich dadurch auch die Wahrscheinlichkeit für Depressionen und Angststörungen erhöht, ist eine Folge der starken Wechselwirkungen, die zwischen dem Mikrobiom im Darm und dem Gehirn bestehen. Noch am Anfang steht jedoch die Frage, inwieweit die Vielzahl der Mikroorganismen im Darm die kognitiven Fähigkeiten, etwa das Gedächtnis, beeinflusst.

Isabella Wagner, Neurowissenschafterin an der SCAN (Social, Cognitive and Affective Neuroscience)-Unit an der Universität Wien, beschäftigt sich schon länger damit, wie Gedächtnis im Gehirn verankert ist. Nun will sie den Verbindungen von Gehirn und Darm experimentell auf den Grund gehen.

Wirkung von Stress und Antibiotika

"Bisher wurde die meiste Forschung auf dem Gebiet anhand von Tieren betrieben", sagt Wagner. "Um die Zusammenhänge auch am Menschen zu erforschen, versuche ich, neue Ansätze zu finden." Grundsätzlich kommunizieren Verdauungstrakt und Gehirn mit biochemischen Signalen über eine direkte neuronale Verbindung, den Vagus-Nerv.

Aber auch das Immunsystem spielt eine große Rolle. Entzündungsmarker, die im Blut zirkulieren, können die neuronale Funktion im Gehirn beeinflussen, erklärt Wagner. Aber auch Botenstoffe wie Serotonin, die unter anderem durch das Mikrobiom gesteuert werden, haben Einfluss auf die Gedächtnisleistung.

Um mehr darüber herauszufinden, will Wagner zunächst testen, wie sich Stress auf das Gedächtnis von Versuchspersonen auswirkt. In einem weiteren Schritt sollen Personen, deren Darmflora durch Antibiotika beeinträchtigt ist, mit gesunden Personen hinsichtlich ihrer Gedächtnisleistung verglichen werden. "Letztlich geht es auch darum, zu zeigen, ob Probiotika und Veränderungen in der Ernährung positiv auf das Gedächtnis wirken", sagt Wagner.

Frühgeborenen-Studie

Einen anderen Zugang zur Erforschung der Darm-Hirn-Achse hat das Projekt "PreMiBrain" gewählt, eine Kooperation zwischen Uni Wien und Med-Uni Wien. Forschende rund um David Berry vom Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung der Uni Wien untersuchen, wie das Mikrobiom im Darm die Gehirnentwicklung von Frühgeborenen beeinflusst. Bei ihnen sind sowohl das Mikrobiom als auch das Immunsystem noch nicht voll entwickelt, was sie anfälliger für Infektionen macht und wiederum Schädigungen im Gehirn verursachen könnte.

Berry und sein Team haben daher 60 frühgeborene Babys, die bei der Geburt weniger als 28 Wochen alt waren und weniger als ein Kilo wogen, eingehend untersucht – per MRT, EEG und Blut- sowie Stuhlproben. Nach zweieinhalb Jahren Forschung gibt es erste Ergebnisse:

"Es gibt ein kritisches Zeitfenster im Entwicklungsprozess eines Babys, in dem das Immunsystem aufgebaut wird", sagt Berry. "Wenn man in diesem Fenster nicht die richtige Prägung bekommt, kann das System für das ganze Leben in einem ungesunden Zustand eingestellt sein." Die Forscher hoffen, durch Langzeitstudien mehr darüber herausfinden zu können.

 

Nota. - Eigentlich zu dürftig, um es auf diesem Blog unter dieser Überschrift wiederzu-geben. Es soll nur ein Auftakt sein, ich werde darauf zurückkommen müssen.

JE

Montag, 1. Februar 2021

Renoir ganz ohne Manier.

Renoir, Ein Windstoß, 1872                                                                                                                                               zu Geschmackssachen

Mit Renoir hatte ich meine liebe Not. Die dicken Frauen und Mädchen, für die der Knödel der Firma Pfanni Modell gesessen hat, die fürchterlichen anatomischen und perspektivi-schen Verzerrungen, die immergleichen Farben und die immergleiche kreisende Pinselfüh-rung - mein Gott, wie langweilig und ja, wie hässlich! Er scheint ganz aus der Geschmacks-welt der Impressionisten herausgefallen, schon mit der Wahl seiner Sujets: Kein Plein-air, kein flimmerndes Licht, kein Lüftchen regt sich, von der Flüchtigkeit des Augenblicks ist nichts zu spüren. Und dabei alles so gefällig, dass es einem den Hals zuschnürt!

Aber es hat mich gewurmt. Über seine Person liest man nur Gutes, ein freundlicher, stiller und großzügiger Mann, der es als allerletzter noch mit Degas ausgehalten hatte, der ein Scheusal gewesen sein muss; "bis es nicht mehr ging!" Künstlerisch finde ich an Degas gar nichts auszusetzen, er hat sich eifrig mit der Landschaft auseinandergesetzt und dabei ganz von seiner Manier abgesehen. Aber nur privat, unters Publikum scheint er die Sachen nicht gebracht zu haben.

Sowas musste es von Renoir doch auch geben, er war, anders als Degas, ein Freigeist, er kann doch unmöglich ein Leben lang Sklave seiner Masche geblieben sein! Ein paar Land-schaften von ihm kannte ich, haben mich nicht vom Hocker gerissen, doch seit es das In-ternet gibt, lernt man von den Künstlern ja die geheimsten Seiten kennen.

Und so fand ich, dass Renoir fast soviele Landschaften gemalt haben dürfte, wie seine bekannten mondänen und städtisch-bürgerlichen Motive. Und - er hat, wie es sich gehört, an der Landschaft seinen Personalstil aufgegeben. Nicht angestrengt, nicht gewaltsam, sondern so, wie es sich am Gegenstand eben ergab. Inzwischen habe ich auf meiner Fest-platte eine ansehnliche Sammlung angelegt.






















Das reicht für heute.





Wissenschaftliche Philosophie.

 magicpen / pixelio.de                                                                       aus  Philosophierungen
            
Philosophie ist wissenschaftlich nur als Kritik. Und nur als Kritik sollte sie sich zu einem System ordnen lassen. Negativ zwar, sofern ihr letzter Grund darin aufgefunden wird, dass ein realer Urgrund des Wissens sich nicht nachweisen lässt. Sie ist Wissen des Wissens und endet in der Einsicht, dass das Wahre als beabsichtigter Gegenstand des Wissens nicht auf-gefunden, sondern postuliert wird. Ein solches Wissen vom Wissen ist in seiner Negativität rein formal und hat keinen Inhalt.

Das war aber nicht die Absicht, aus der heraus die Philosophie entstanden ist. Sie wollte im Gegenteil ein positives Wissen, das als Wegweiser zur richtigen Lebensführung taugt. Die Kritik zeigt nun: Mit theoretischen Mitteln ist das nicht zu haben. Die richtige Lebensfüh-rung lässt sich nicht ergründen, sondern kann nur entworfen werden. Sie muss frei erfun-den werden, und ihr einziger Maßstab ist Schönheit – nämlich ob sie vor allem Interesse gefällt. Da kann die theoretische, wissenschaftliche, kritische Philosophie allerdings sekun-där behilflich werden: indem sie die Interessen ans Licht zieht - und abweist.

Die Kritik fügt dem Wissen sachlich nichts hinzu. Sie macht aber durch ihre Distinktionen das Wissen selbst – nicht erst das Gewusste – zu einem möglichen Gegenstand des Urteils: Was ist vor-, was ist nachgeordnet? Sie prüft den Wert des Wissens und ist also selber prak-tisch.

Daraus erhellt aber zugleich, dass der Maßstab zur Beurteilung des Wissens nicht in ihm selber aufzufinden ist, sondern ihm 'vor'-, d. h. übergeordnet war. Die 'Begründung' des Wissens geschieht actu im 'metaphilosophischen' Raum – und hat sich in der praktischen oder Lebensphilosophie zu bewähren. Sie ist eine pragmatische Fiktion, und insofern eben doch: 'Hypothese', genauer: Hypostase. Ist nicht proiectio, sondern proiectum. Und dies ist das einzige 'Interesse', das der Kritik standhält.

vor 2009
 
 

Science fictions.

Il ciarlatano venditore di antidoti                            zuJochen Ebmeiers Realien

aus FAZ.NET, 1.02.2021

Wissenschaft oder Fiktion? 
Vielen ökonomischen Forschungsergebnissen fehlt die Replizierbarkeit. Das ist ein Problem. Doch es gibt Grund zu vorsichtigem Optimismus. Ein Gastbeitrag. 
 
Von Jörg Peters

Das neue Buch „Science Fictions“ des schottischen Psychologen Stuart Ritchie vom King’s College London zeichnet ein düsteres Bild der Wissenschaft. Es ist eine Polemik, doch auch Ökonomen sollten es ernst nehmen. Denn es liefert nicht nur viel Evidenz für systemati-sche Irrtümer in der Wissenschaft, sondern es beschreibt auch treffend die dahinter liegen-den Anreizprobleme im System, die auch in den Wirtschaftswissenschaften wirken.

Ritchie stellt gleich zu Beginn klar, dass er antritt, „um die Wissenschaft zu lobpreisen, nicht um sie zu beerdigen“. Das ist wichtig in Zeiten, da konsolidierte wissenschaftliche Erkennt-nisse die Politik zu Recht leiten und zugleich von Leuten mit einer gefährlichen politischen Agenda angezweifelt werden. In Ritchies Kritik geht es eigentlich um eben dieses Wort „konsolidiert“. Denn ein empirisches Ergebnis gilt nur dann als konsolidiert und nicht zufällig ausgelöst, wenn es replizierbar ist. Es darf also nicht nur einmalig zu beobachten sein, sondern muss in mehreren Studien und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen nachgewiesen werden können. Werden politische Entscheidungen auf nicht replizierbaren Forschungsergebnissen basiert, laufen diese in die Irre. Das kostet Steuergelder oder, noch schlimmer, Menschenleben.

 

 

Ritchie setzt bei der Beobachtung an, dass die Replizierbarkeit einflussreicher wissenschaft-licher Ergebnisse erschreckend gering ist. Unter Fachleuten ist das bekannt. Kritiker werfen ihm vor, er spiele mit Blick auf Klimaskeptiker mit dem Feuer. Das ist kurzsichtig, denn der anthropogene Klimawandel ist eben genau das, was laut Ritchie große andere Teile der em-pirischen Wissenschaft nicht sind: konsolidiert. Wie groß die in „Science Fictions“ geschil-derten Probleme disziplinübergreifend wirklich sind, ist offen. Doch gerade in den Wirt-schaftswissenschaften zeichnet sich eine Replikationskrise deutlich ab.

Datenverfügbarkeit enorm gewachsen

Das Buch ist eine wortgewandte, teilweise ins Sarkastische abdriftende, doch stets analyti-sche Beschreibung des Wissenschaftsprozesses. Die Vergabe von Forschungsmitteln und wissenschaftlichen Posten, der Publikationsprozess mitsamt „Peer Review“, aber auch die Wissenschaftskommunikation werden schonungslos beschrieben als das, was sie sind: ein von Menschen gemachtes und deshalb fehleranfälliges System. Die Wissenschaft ist ein soziales Konstrukt – und so spielen die Menschen und ihre Eitelkeiten, ihr Überlebens- und Aufstiegswille, ihre Hybris und ihre Beziehungen zueinander eine wichtige Rolle. Dies mit-zudenken ist angesichts eines wachsenden gesellschaftlichen Einflusses der Wissenschaft wichtiger denn je.

Die Wirtschaftswissenschaften sind in den letzten Jahrzehnten immer empirischer, also da-tenbasierter geworden. Empirische Ergebnisse werden medial oft als Fakten interpretiert und auch von Wissenschaftlern selbst als solche präsentiert. Tatsächlich entspringen sie aber dem oben geschilderten sozialen Konstrukt, das sie viel fehleranfälliger macht als meist dargestellt. Diese Fehler passieren systematisch. Weil Menschen, so auch Forschende, Spek-takuläres gegenüber dem Unspektakulären bevorzugen. Untersuche ich beispielsweise die Auswirkungen von Luftverschmutzung auf Atemwegserkrankungen, so ist es interessanter, einen Effekt zu finden, als ihn nicht zu finden. Über das sogenannte „p-hacking“ und den „Publication Bias“ führt diese Suche nach dem Spektakulären zu systematischen Verzer-rungen. Publication Bias und p-hacking führen, kurz gesagt, dazu, dass die statistischen Methoden, auf die die quantitative Forschung so stolz ist, ad absurdum geführt werden. Um das zu verstehen, müssen wir die empirische Arbeit und den Publikationsprozess etwas genauer betrachten.

Die Datenverfügbarkeit ist über die letzten Jahrzehnte enorm gewachsen. Nicht nur durch Big Data bei Google und Amazon, sondern auch in sozioökonomischen Datensätzen von nie dagewesenem Ausmaß. Das ist deshalb wichtig, weil statistische Methoden einen Zu-sammenhang, den man in solchen Datensätzen findet, nur mit einer gewissen Wahrschein-lichkeit sichern. Das heißt, es gibt immer eine Restwahrscheinlichkeit, dass man ein be-stimmtes Ergebnis fälschlicherweise für statistisch gesichert erachtet. Ein solches Ergebnis wäre nicht replizierbar und damit wertlos.

Publish or perish

Diese Restwahrscheinlichkeit wird per Konvention meist bei 5 Prozent angesetzt. Wenn also nun nicht nur ich meine Luftverschmutzungs-Hypothese in einem Datensatz teste, sondern es parallel noch 99 weitere Forscher in 99 anderen Datensätzen ausprobieren, werden fünf davon einen signifikanten Zusammenhang finden – auch wenn es ihn in Wahrheit nicht gibt. Würden nun alle 100 Versuche publiziert, wäre es unproblematisch. Andere Wissenschaftler könnten dann richtigerweise erkennen, dass die fünf erfolgreichen Studien dem Zufall geschuldet sind. Allerdings werden nicht alle Ergebnisse publiziert. Peer Reviewer und Herausgeber der Fachzeitschriften befinden die fünf signifikanten Studien für interessanter und werden tendenziell eher diese publizieren und die nichtsignifikanten Stu-dien ablehnen. Die so entstehende veröffentlichte Literatur zeigt dann ein falsches Bild der Wirklichkeit.

Verwandt damit ist das p-hacking. Es bezeichnet, was alle empirischen Forscher wissen: Unspektakuläre Ergebnisse können spektakulärer gemacht werden. Konkret geschieht dies durch subtile oder grobe Veränderungen der Datenanalyse, um das statistische Signifikanz-niveau, ausgedrückt im p-Wert, zu verbessern. Es geht dabei nicht unbedingt um die klassi-sche selbstgefälschte Statistik. Vielmehr umfasst jede empirische Untersuchung Dutzende, wenn nicht Hunderte Mikroentscheidungen. Diese beginnen bei sehr fundamentalen Ent-scheidungen, beispielsweise darüber, ob man den Effekt von Luftverschmutzung auf Atem-wegserkrankungen untersucht oder den von Luftverschmutzung auf kardiovaskuläre Er-krankungen. Sehe ich einen Zusammenhang bei letzterem, aber nicht bei ersterem, verfolge ich diese kardiovaskuläre Hypothese weiter, die Atemwegserkrankungen nicht.

Gibt es dort auch keinen Zusammenhang, versuche ich es mit Luftverschmutzung und Kopfschmerzen oder weiteren Krankheitsbildern. Irgendwann werde ich wegen der 5-Prozent-Irrtumswahrscheinlichkeit einen signifikanten Zusammenhang finden. Ein solches Vorgehen ist legitim, wenn alle Versuche dokumentiert und publiziert werden. Werden sie aber meist nicht, so dass wieder ein falsches Bild der Wirklichkeit entsteht. Doch die Mikroentscheidungen reichen weiter, hinein in auch für den Forscher selbst kaum spürbare Entscheidungen darüber, wie man beispielsweise Luftverschmutzung überhaupt misst oder wie man den verwendeten Rohdatensatz bereinigt. Es gibt dabei nicht immer die eine richtige Entscheidung, so dass sie Spielraum bieten, die Ergebnisse zu beeinflussen. Der Druck, dies in Richtung interessanterer Ergebnisse zu tun, ist hoch.

Eine Replikationskultur gibt es in der Ökonomie nicht

Denn zugleich hängen von Publikationen in Fachzeitschriften ganze Karrieren ab. Gerade in frühen Karrierephasen gilt: Publish or perish. Wer gut publiziert, wird etwas. Wer das nicht tut, verschwindet. Die Anreize sind also klar. In den Wirtschaftswissenschaften ist dieser Selektionsprozess besonders harsch, indem die wissenschaftliche Leistung anhand eines Journal-Rankings bewertet wird, das bereits zwischen den sogenannten Top 5 Journals und den dann folgenden Top Field Journals, vor allem aber danach steil abfällt, so dass ein großer Teil der Zeitschriften karrieremäßig faktisch belanglos ist. Zugleich ist es naiv zu erwarten, das vielzitierte Peer Review könnte p-hacking und die besagten Mikroentschei-dungen nachverfolgen und so die Qualität sichern. Durch den Publication Bias und das Faible der Gutachter für spektakuläre Ergebnisse ist das Peer Review sogar Teil des Pro-blems.

Dies alles ist keineswegs neu. Der renommierte Stanford-Statistiker und -Epidemiologe John Ioannidis veröffentlichte schon 2005 ein vielzitiertes Papier, das unter dem Titel „Why most research results are wrong“ auf Plos One erschienen ist und das Ritchies Punkte in aller Kürze zusammenfasst. Ioannidis war außerdem an unterschiedlichen Studien beteiligt, die diese Fehler im Wissenschaftssystem empirisch nachweisen – auch in den Wirtschafts-wissenschaften. Hier wird in den letzten Jahren die Kritik ebenfalls aus den eigenen Reihen immer lauter, darunter Nobelpreisträger wie Angus Deaton, James Heckman und George Akerlof, oder auch in dem vielbeachteten Blogpost „Economics is a disgrace“ von Claudia Sahm. Wohl noch wichtiger: Zahlreiche aktuelle ökonomische Studien weisen auf einen be-trächtlichen Publication Bias und auf p-hacking hin und ebenso auf systematische Fehler in einflussreichen Publikationen und die weitverbreitete Verwendung fragwürdiger For-schungspraktiken.

Eine Replikationskultur gibt es in der Ökonomie nicht. Ritchie formuliert einige Lösungs-vorschläge, die im Wesentlichen auf mehr Forschungstransparenz setzen und so einen kulturellen Wandel auslösen könnten. Auch in den Wirtschaftswissenschaften werden solche Instrumente im Ansatz diskutiert und in Teilbereichen angewendet. Es gibt also Grund zu vorsichtigem Optimismus. Daraus könnte sich eine Kultur entwickeln, in der nicht die Publikation an sich und die Zeitschrift, in der sie erscheint, Erfolgsindikatoren sind, sondern der Inhalt und – vor allem – seine Replizierbarkeit.

Dieser Selbstreinigungsprozess ist in den Wirtschaftswissenschaften aber noch ein weiter Weg. In der Zwischenzeit legt Ritchies Buch nahe, dass Politik und Öffentlichkeit einzelne wissenschaftliche Ergebnisse nicht als unumstößliche Wahrheiten ansehen sollten. Insbe-sondere die Wirtschaftswissenschaften müssen in der Öffentlichkeit nicht ständige Klarheit und Ideologiefreiheit suggerieren. Denn die Auswertung der die Welt abbildenden Daten ist komplex und fehleranfällig, und sie wird von Menschen betrieben, die eigene Standpunkte und Interessen haben. Das anzuerkennen sollte, wie in anderen Disziplinen üblich, generell Teil wissenschaftlicher Expertise sein, und es stärkt, so argumentiert auch Ritchie, letztlich die Resilienz gegenüber den perfiden Kräften der fundamentalen Wissenschaftsskepsis.

Jörg Peters ist Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Passau.

 

Nota. - Was bräuchten die Wirtschaftswissenschaften, um die allenthalben verbreiteten Zweifel an ihrer Wissenschaftlichkeit zu zerstreuen? Nicht "Klarheit und Ideologiefreiheit"; sondern den Nachweis, dass sie zu was taugen. Klipp und klar gesagt: dass sie wirtschaftli-che Entwicklungen vorhersagen können. Als bloß historische Disziplin, als 'rückwärtsge-wandte Propheten', hätten sie nur dann eine Rechtfertigung, wenn sie immerhin Lehren ziehen könnte. Dann würde sie ihren streng historischen, nämlich einzig empirischen Rah-men überschreiten müssen: Statt idiographisch zu beschreiben, "wie es war", müsste sie nomothetisch aussagen können: "Sowas kommt von sowas".

Dass sie, wie Jörg Peters anschaulich beschreibt, auch immanent den akademischen An-sprüchen nur beinahe gerecht werden, ist plausibel. Es ist aber doch die äußere Folge da-von, dass sie sich nicht darauf verständigen kann, was überhaupt ihr Gegenstand ist. Sie ist eine Disziplin, die an allerhand mehr oder minder reputierten Institutionen nun einmal be-trieben wird; die einerseits Ein- und Auskommen schafft und andererseits Drittmittel ein-wirbt. Ob sie Wissen schafft, ist davon nicht berührt.

Übrigens: Marx unterscheidet die Gesellschaftswissenschaften methodologisch von den Naturwissenschaften; da sie keine Laborexperimente machen könnten, seien sie auf das Gedankenexperiment angewiesen - nämlich auf ebenso kritisches wie gewissenhaftes Denken. 

JE 

 

Gehirn mal Daumen.

wikipedia

aus spektrum.de, 01.02.2021                                                                                                           zuJochen Ebmeiers Realien

Wann machte der Daumen Vormenschen zu Menschen?
Als Erfolgsrezept in der Evolution des Menschen wird immer zuerst das Gehirn genannt. Dabei war der Daumen vor zwei Millionen Jahren genauso wichtig!

von Jan Osterkamp

In der Evolution zum Menschen spielen neben dem großen Gehirn auch die Anatomie der Extremitäten eine wichtige Rolle: Es hilft zunächst, nur noch auf zwei Beinen zu laufen, um die Hände frei zu haben und damit Werkzeuge benutzen zu können. Und das klappt umso besser, wenn der Daumen den anderen Fingern anatomisch gegenübergestellt wird: Erst dieser opponierbare Daumen macht aus den Klettergreifern der Affen die pinzettenartig greifenden Präzisionswerkzeuge des Menschen. Dabei war wissenschaftlich lange umstrit-ten, wann die anatomischen Umbauten genau begannen. Ein Team von um Alexandros Karakostis von der Universität Tübingen hat das nun mit einem technisch neuen Ansatz herauszufinden versucht. Das Team kommt im Fachblatt »Current Biology« zu dem Schluss, dass die Daumen unserer Vorfahren wohl vor rund zwei Millionen Jahren deutlich geschickter geworden sind – etwa mit dem Aufkommen des Homo erectus. Dieser war aber vermutlich kaum die einzige Art des Menschen mit dem nützlichen Daumenumbau.


Die Forscher haben nicht wie einige Gruppen zuvor nur die Handskelettstrukturen ver-schiedener Vor- und Frühmenschen untersucht. Stattdessen gingen sie von den Muskelan-satzstellen an den Fingerknochen aus und modellierten virtuell die Muskulatur der Hand in 3-D, um daraus dann biomechanische Schlussfolgerungen zu ziehen. So prognostizierten sie die Geschicklichkeit, mit der die Hände von anatomisch frühen modernen Menschen, dem Neandertaler, Homo naledi und älteren Australopithecinen greifen konnten.


3-D-Modell der frühmenschlichen Handanatomie 3-D-Modell der frühmenschlichen Handanatomie| Das Forscherteam modellierte am Computer die Beweglichkeit verschiedener Früh- und Vormenschenhände. Grundlage waren die Muskelansatzstellen, die den wahrscheinlichen Verlauf von Muskelsträngen und Geweben nahelegen.

Demnach finden sich die ersten Belege für eine bewegliche Rolle des Daumens bei den Homininen aus der Swartkrans-Fundstelle, die vor etwa zwei Millionen Jahren im Süden Afrikas gelebt haben – es handelt sich um frühe Vertretern der Gattung Homo oder dem Paranthropus, die beide offenbar schon Tiere jagen und geschickt zerlegen konnten. Der Daumen des älteren Australopithecus sediba ähnelte in seiner Beweglichkeit dagegen eher dem Daumen von Schimpansen, wie die Analyse zeigt. Das überrascht, weil auch Australo-pithecinen der Gebrauch von Steinwerkzeugen zugeschrieben wird. Ebenfalls nicht recht ins bisherige Bild passt der Befund der Hände von Homo naledi: In den Fundstellen dieser etwas mysteriösen, wohl vor noch 250 000 Jahren lebenden Frühmenschenart mit einem eher kleinen Gehirn hatte man bislang keine Spuren für Werkzeuggebrauch gefunden. Die Hände von H. naledi wären dafür möglicherweise geschickt genug gewesen. Vielleicht, so diskutieren die Forscher in ihrer Studie, wird hier deutlich, dass das Volumen eines Gehirns weniger als seine Komplexität darüber entscheiden könnte, zu welchen handwerklichen und kulturellen Leistungen ein Frühmensch in der Lage war.


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Insgesamt vermuten die Forscher, dass die Geschicklichkeit der Hände, die damit die höhere Effizienz bei der Jagd und die mit den so besseren Ernährungsmöglichkeiten einhergehende allmähliche Vergrößerung des Gehirn sich gegenseitig bedingten. Vielleicht ermöglichte dies einen Evolutionsschub, der dann dem Homo erectus erlaubt hat, zur ersten global verbreiteten Art des Menschen zu werden.