Freitag, 28. Februar 2020

Vorstellen und begreifen.

ruhrnachrichten                                                   aus Philosophierungen
 

Die ganze Wissenschaftslehre steht unter dem doppelten Vorzeichen, dass erstens Begriffe ohne Anschauung leer und zweitens Anschauungen ohne Begriffe blind sind.

Fichte will nun nicht aus (von wem?) vorgegebenen Begriffen ein System konstruieren, sondern uns veranlassen, in der Vorstellung fortschreitend vom Bestimmbaren zum Bestimmten überzugehen: Das Bestimmte ist ein Be- griff, nur was bestimmt wurde, kann begriffen werden; doch ohne Anschauung - das Bestimmbare - ist nichts da, was zu bestimmen wäre.

Die ganze Wissenschaftslehre ist ein ewiges (sic) Hin und Her zwischen beiden Polen. Es soll aus einer Vorstel- lung die daraus folgende entwickelt werden, doch dazu muss sie erst bestimmt und begriffen werden; nun wird die zum Begriff bestimmte Vostellung fortbestimmt: durch Entgegensetzen. Und so ins Unendliche fort. Und auf jeder Etappe bleibt ein toter Begriff zurück als das Bild von der lebendigen Vorstellung, die in ihm gefasst wurde.

30. 4. 17

Die Wissenschaftslehre muss, wie jede Rede, diskursiv verfahren, weil wir Menschen nun eben in der Zeit leben. Das macht ihre Darstellung unvermeidlich schief. Sie will zeigen, dass, um zu dieser Vorstellung zu kommen, ich mir jene Vorstellung zuvor schon gemacht haben muss. Was als eine logische Dependenz gemeint ist, wird erzählt wie eine zeitliche Folge. 

Die Wissenschaftslehre ist jedoch ein Modell, ein Schema, in dem alles zugleich geschieht. Ganz irreführend, je- doch kaum vermeidbar ist die Vorstellung von einer wirklichen, lebendigen Intelligenz, die sich erst dieses, dann jenes vorstellt. Dann sähe es so aus, als ob beim Fortschreiten des Vorstellens und Bestimmens etappenweise im- mer mal wieder Begriffe abfallen, in denen einzelne Vorstellungsakte isoliert und eingefroren wurden, die aber... im Fortgang des vorstellenden Bestimmung zu gar nichts weiter gebraucht wurden.

Tatsächlich ist aber das System der sich wechselseitig bestimenden Begriffe nichts anderes als das, was im Ver- kehr der Reihe vernünftiger Wesen zu einer intelligiblen Welt gebildet wird. Und dies allerdings - in der Zeit. In der Zeit bleiben vom tätigen Vorstellen nur die Gedächtnisspuren im Speicher. Von dort können sie aufgerufen werden als die mehr oder minder vollständigen und mehr oder minder anschaulichen Erinnerungen an die ein- mal lebendig vorgestellten Bilder. Kein Wunder, dass es in der Reihe vernünftiger Wesen immer wieder Streit über ihre Genauigkeit gibt.
 
Man kann dann in den Bücher nachschlagen, wie die Alten die Begriffe verwendet haben, oder bei Google, wie's heute üblich ist. Man kann sich in zuverlässiger Runde einstweilen auf diesen oder jenen Gebrauch einigen. Wo die Kritik allerdings radikal sein will, wird sie zu den Vorstellungen selbst zurückgehen müssen.
17. 6. 19 

Starke und noch stärkere Wechselwirkung.

Atomkern Die starke Kernkraft hält die Kernbausteine zusammen
aus scinexx                                                                                                                                         zu Jochen Ebmeiers Realien
                   
Starke Kernkraft überrascht Physiker 
Unter extremem Druck verändert die Grundkraft ihre Wirkung auf die Kernbausteine 

Erstaunlicher Wandel: Unter extremem Druck verändert die starke Kernkraft offenbar ihre Natur, wie nun ein Experiment aufgedeckt hat. Statt nur Neutronen und Protonen zusammenzuhalten, wirkt sie dann auch zwischen gleichartigen Kernbausteinen – und erzeugt dabei eine Abstoßung zwischen Neutronen. Diese erstmals nachgewiesene Transformation der starken Kernkraft könnte unter anderem erklären, warum Neutronensterne nicht kollabieren, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
 

Die starke Kernkraft ist eine der vier Grundkräfte der Physik. Über ihre Kraftteilchen, die Gluonen, bindet sie die Quarks im Inneren der Protonen und Neutronen aneinander und hält auch die Kernbausteine im Atomkern zusammen. Experimente belegen zudem, dass die starke Kernkraft auch auf Antimaterie wirkt und dass sie bei Nukleonen im Inneren von Atomkernen möglicherweise eine etwas andere Unterstruktur von Quarks und Gluonen erzeugt als bei freien Neutronen oder Protonen.

Doch eine Frage blieb bislang noch offen: Wie wirkt die starke Kernkraft unter Extrembedingungen, wie sie beispielsweise in Neutronensternen herrschen? In diesen extrem dichten Sternenresten sind die Kernbausteine so stark komprimiert, dass der normale Abstand zwischen ihnen unterschritten wird und sie sich sogar teilweise überlappen. „Dies ist der erste Blick darauf, was mit der starken Kernkraft bei sehr kurzen Distanzen passiert“, erklärt Or Hen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Atomkerne unter Beschuss

Das Problem: Atomkerne so stark zu komprimieren wie in Neutronensternen ist experimentell schwierig. „Um diese Experimente durchzuführen, benötigt man Teilchenbeschleuniger mit unglaublich dichten Teilchenströmen“, erklärt Hen. Genau dies lieferte der Elektronenbeschleuniger CLAS am Jefferson National Laboratory in den USA. Dort wurden Elektronen in hoher Dichte auf Ziele aus verschiedenen Kohlenstoff-, Aluminium- und Eisen-Isotopen geschossen.

Unter Billionen von Kollisionen der Elektronen mit den Atomkernen waren einige, bei denen die Kerne so getroffen wurden, dass durch die Energie des Zusammenpralls Paare von Kernbausteinen ausgeschleudert wurden. Hen vergleicht diese hochenergetischen Paare mit „Neutronenstern-Tröpfchen“. Aus ihren Eigenschaften konnten die Forscher dann Rückschlüsse über den Abstand der Kernbausteine zueinander und den Effekt der starken Kernkraft ziehen.

Aus Anziehung wird Abstoßung

Das Ergebnis: Bei normalen Distanzen der Kernbausteine zueinander sorgt die starke Kernkraft primär für die Bildung von Paaren aus je einem Neutron und einem Proton. Werden die Abstände jedoch kürzer, kommt es zu einem Wandel. Nun bewirkt die Kernkraft auch, dass sich Paare aus gleichen Kernbausteinen bilden, Neutron-Neutron oder Proton-Proton, wie die Forscher berichten. Gleichzeitig aber erzeugt die Kernkraft in diesen Paarungen einen Abstoßungseffekt – sie versucht gleichsam, die durch die Kollision eng aneinander gedrängten Kernbausteine auf Abstand zu halten.

„Die Vorstellung einer abstoßenden Komponente in der starken Kernkraft wird schon länger als fast mystische Möglichkeit diskutiert“, sagt Erstautor Axel Schmidt vom MIT. Doch zuvor konnte diese abstoßende Seite der starken Kernkraft nie experimentell nachgewiesen werden. „Erst jetzt haben wir Daten, die uns diese Transformation vor Augen führen – das war wirklich überraschend“, so Schmidt.

Neuer Blick auf das Innenleben von Neutronensternen

Spannend ist die Entdeckung dieser neuen Seite der starken Kernkraft aber nicht nur für die Teilchen- und Kernphysik. Sie könnte auch neue Erkenntnisse darüber liefern, wie die Materie im Inneren der Neutronensterne beschaffen ist. „Bisher nahm man an, dass diese Systeme so dicht sind, dass sie als Suppe aus Quarks und Gluonen anzusehen sind“, erklärt Hen. Unter dem enormen Druck lösen sich demnach die Kernbausteine auf und die Materie nimmt einen Zustand an, wie er auch kurz nach dem Urknall im Universum herrschte.

„Doch wir haben nun festgestellt, dass die Protonen und Neutronen selbst bei den höchsten Dichten ihre Identitäten behalten und nicht zu diesem Sack voller Quarks werden“, so Hen. „Die Kerne von Neutronensternen könnten demnach weit einfacher sein als bisher gedacht. Das ist eine riesige Überraschung.“ Gleichzeitig könnte die unter diesen Extrembedingungen wirksam werdende abstoßende Seite der Kernkraft dafür sorgen, dass die Neutronen einen Mindestabstand behalten und der Neutronenstern damit nicht unter seiner eigenen Schwerkraft kollabiert. (Nature, 2020; doi: 10.1038/s41586-020-2021-6)

Quelle: Massachusetts Institute of Technology, DOE/Thomas Jefferson National Accelerator Facility


Donnerstag, 27. Februar 2020

Der mich durch mein Gedächtnis führt.

Langzeitbelichtung; Erinnerungsexperiment in einem Cheeseboard-Labyrinth
aus derStandard.at, 27. Februar 2020                                                                                                  zu Jochen Ebmeiers Realien

Forscher identifizieren "Bibliothekar", der im Gehirn Erinnerungen findet
Gezielte Sabotage bei Ratten führt Wissenschafter vom IST Austria zu Gedächtnis-Platzanweiser

Klosterneuburg – Heimische Forscher haben einen Mechanismus entdeckt, der gleichsam als Gedächtnis-Platzanweiser im Gehirn fungiert. Gelungen ist den Wissenschaftern vom Institute of Science and Technology (IST) Austria, indem sie bei schlafenden Ratten das Wiederholen von Erinnerungen gezielt unterbanden. Die derart behandelten Tiere hatten die Information zwar im Hippocampus gespeichert, es haperte jedoch beim Abrufen selbiger.

Ratten auf dem Käsebrett

In der Untersuchung ließ das Team um Jozsef Csicsvari Ratten auf sogenannten "Cheeseboards" nach Belohnungen suchen. Dabei handelt es sich um eine Art Brett mit Löchern, dessen Name von bekannt löchrigen Emmentaler-Käse abgeleitet ist. In jeweils einer der Ausnehmungen auf den zwei Scheiben – "Cheeseboard A" und "Cheeseboard B" genannt – versteckten die Wissenschafter Futter. Die Versuchtstiere lernten daraufhin, wo sich die Belohnungen befinden.

Auf der Ebene der Nervenzellen lässt sich dieser Lernprozess an Platzzellen im Hippocampus der Ratten ablesen, also jenem Gehirnteil, der eine wichtige Rolle für das Gedächtnis spielt. Diese feuern dann eifrig, wenn sich das Tier an jenem Ort befindet, wo das Futter erfahrungsgemäß ist. Das Team um Csicsvari zeigte in früheren Studien bereits, dass die Aktivierung dieser speziellen Platzzellen-Kombinationen auch im Schlaf wiederholt wird.

Im Schlaf wiederholt

Was passiert, wenn dieser "Replay" genannte Prozess gezielt sabotiert wird, haben die Wissenschafter nun untersucht: Dazu hat der Erstautor der im Fachjournal "Neuron" erschienenen Studie, Igor Gridchyn, eine Methode entwickelt, mit der sich sehr rasch berechnen lässt, welche Nervenzellen der Ratte im Schlaf gerade aktiv sind. Das machte sich das Team zunutze, um genau zu registrieren, wann das schlafende Tier die Erinnerung an die beiden "Cheeseboards" wiederholte. Entsprach das Erregungsmuster dem Weg zur Belohnung in Versuchsaufbau A unterbanden die Forscher diesen Vorgang, in dem die beteiligten Neurone durch Lichtstrahlen am Feuern gehindert wurden.

Tatsächlich taten sich die Ratten nach dem Erwachen auf "Cheeseboard B" deutlich leichter. Auf Brett A fanden die Ratten hingegen "die Verstecke nicht so schnell, wenn wir den Replay während des Schlafs störten, sie konnten sich also schlechter an die Position der Verstecke erinnern. Mit unserer Methode konnten wir beeinflussen, welche Erinnerungen das Tier abrufen kann", so Csicsvari.




Während Ratten schlafen, festigt die Gehirnregion des Hippocampus Erinnerungen durch ein Wiederholen der neuronalen Aktivität. Durch selektives Stören dieser Wiederholung konnten die Neurowissenschafter zeigen, dass der Hippocampus als Bibliothekar fungiert.
 
Wieder auf Nervenzell-Ebene umgelegt heißt das, dass nach der Manipulation während des Schlafes beim Suchen und Finden auf Brett B jene Platzzellen-Kombination aktiv war, die dem Tier den Weg zum Futter wies. Auf "Cheeseboard A" blieben die während des Lernens ursprünglich feuernden Zellen jedoch stumm. Wurde die Ratte nach längerem Suchen wieder an gleicher Stelle wie vor dem Schlaf fündig, war auch just die gleiche Neuronen-Kombination wieder aktiv, die am Wiederholen gehindert wurde. Auf andere Gedächtnisinhalte hatte die nächtliche Intervention der Wissenschafter keine Auswirkungen.


Bibliothekar für Erinnerungen

Dass das gleiche Platzzellen-Muster reaktiviert wurde, wertet Csicsvari als Hinweis dafür, dass "die Störung des Replay nicht die Kodierung der Erinnerung selbst löscht". Vielmehr sehe es so aus, als ob das Abrufen der richtigen Erinnerung unterbunden wird. Damit dürfte die Funktion des "Replay" nicht primär darin liegen, das Gelernte selbst zu verfestigen, "stattdessen hilft es dabei, beim Abrufen einer Erinnerung jene neuronale Aktivität auszuwählen, die diese kodiert", so der Wissenschafter: "Das heißt, es existiert nicht nur ein Prozess, um die Erinnerung abzuspeichern, sondern auch ein Bibliothekar dazu, der sich merkt, wo sich die Erinnerung befindet. Der Hippocampus ist dieser Bibliothekar." (red, APA.)

Abstract 

Das kann man heute noch malen.








Henk Helmantel, *1945

Aber bemerken Sie auch, warum man sowas selbst heute noch malen kann? Weil der Künstler sich erfolgreich be- müht, besser, nämlich fotographischer und präziser zu malen, als die Vorbilder, die er zitiert. Sonst würde man sich das gar nicht erst ansehen.






Ob die Wissenschaftslehre ihr Subjekt hypostasiert?

rubikon                                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
                            
Den Neuling wird irritieren, dass in der Wissenschaftslehre das Ich 'immer alles richtig macht': Es handelt im- mer so, dass die Wette der WL aufgehen muss; nämlich immer so, als ob ihm eine innere Stimme sagen würde, 'wie es richtig ist'.

Der Eindruck entsteht deshalb, weil die Wissenschaftslehre sachlich ansetzt an der Tatsache, dass Vernunft ist. Ob oder womöglich warum sie zustande kommen konnte, ist nicht die Frage; sie ist zustande gekommen, also konnte sie zustande kommen. Die einzige Frage ist: Wie es möglich war?

Vernunft ist das freie Bestimmen von Zwecken. Problematisch ist das Bestimmen der Zwecke. Kategorisch ist, dass das Bestimmen frei geschieht - weil anders es ein Bestimmen gar nicht wäre.

Voraussetzung der Wissenschaftlehre ist also die Idee von Freiheit. Nur durch Freiheit kommt Vernunft 'zu Stande'. Der Charakter des Resultats impliziert den Charakter des Wirkens selbst. Nur wenn das Ich frei han- delt, handelt es vernünftig. Hat es vernünftig gehandelt, dann hat es aus Freiheit gehandelt.


In der Tat setzt die Wissenschaftslehre voraus das aus Freiheit handelnde Ich. Das ist keine rückwirkende Petitio principii, sondern die sinnhafte Bedingung von Allem; wenn sie auch nur rückblickend erkennbar wird.





Mein Urteil: Beifall oder Missbilligung.

Moulin, Objet trouvé à Pompéi                       zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem
 

In seiner Umwelt "erscheint" dem Tier nur das, was durch seinen Platz in der ökologischen Nische "für es bestimmt" ist: seinen Stoffwechsel und seine Fortpflanzung. Für das Tier sind Bedeutung und Erscheinung ungeschieden. Genauer gesagt, "für" das Tier ist nichts. Etwas ist "da" und damit basta.

Der Mensch hat mit seinem Ausbruch in eine fremde Welt die Vorbestimmtheit alles ihm Erscheinenden ver- loren: Ihm "erscheint" auch das, was für Stoffwechsel und Fortpflanzung (zu einem gegebenen Zeitpunkt) ohne Bedeutung ist. Er muss Dinge selbst-bestimmen. Zuerst, ob sie für Stoffwechsel und Fortpflanzung 'in Frage kommen'. Von ihm fordert jede Erscheinung ein Urteil. Das ist die Grundbedingung des Existierens in einer Welt. Das Urteilen ist: im Wahrnehmen ipso actu entscheiden zwischen Beifall und Missbilligung.

So tritt er in eine apriorischen Distanz zu allem Etwas. Was erscheint, wird zu 'etwas' erst in diesem distanzie- renden Akt. (Der lässt sich prinzipiell umkehren: So kann er zu "sich" in Distanz treten und zu "ich" werden.)

Die Distanz zu Dingen setzt ihn in einen Zustand der Freiheit. Sie erzwingt Abstraktion und eo ipso Reflexion. Diese Distanz macht ihn zu einem ideellen, seine physische Organisation (Folge und Voraussetzung des zur-Welt-Kommens) setzt ihn in den Zustand eines sachlichen Produzenten.

Die Erfahrung mögliches Überflusses setzt ihn in Lage, zu sich, das heißt zu seinem Bedürfnis, in Distanz zu treten.

aus e. Notizbuch, 13. 3. 07


"Im Wahrnehmen ipso actu entscheiden zwischen Beifall und Missbilligung" - da ist mir, ohne es recht zu be- merken, die anderwärts vergeblich gesuchte Herleitung unseres Geistes alias Einbildungskraft aus unserm ästhetischen alias 'poietischen' Vermögen unterlaufen. Beifall und Missbilligung erfolgen nämlich einstweilen versuchsweise: 'Ob es was taugt?' - Mal sehen, zu was.

Man muss nicht demonstrieren, dass es so kommen musste. Es reicht zu zeigen, weshalb es so kommen konnte.

30. 11. 14


Mittwoch, 26. Februar 2020

Wo sind die kritischen Intellektuellen geblieben?

Fragonard, Der Philosoph
aus nzz.ch, 26.02.2020                                                                                                           zu öffentliche Angelegenheiten

Warum der kritische Gestus der Intellektuellen passé ist
Gerade Intellektuelle bilden sich viel darauf ein, Machtverhältnisse zu hinterfragen. Doch wer betont kritisch ist, ist oftmals vor allem eins: moralistisch. Die heutigen Ideologiekritiker erinnern in manchem an die gegnerischen Rechtspopulisten.

von Hans Ulrich Gumbrecht 

Viel zu oft macht sich ein neuer Gebrauch von Wörtern breit, auf deren Verbot Preise ausgesetzt werden sollten. Besonders nervig finde ich die in allen Varianten der deutschen Sprache zur Regel gewordene Ersetzung des Adjektivs «interessant» durch das Partizip «spannend», einfach aus Geschmacksgründen. Ähnlich irritierend wirkt die Inflation von «Nachhaltigkeits»-Mahnungen, deren Moralingeruch uns mit allzu gut gemeinten Empfehlungen von Hotels im Handtuch nach der Morgendusche erwartet.

Am vertracktesten jedoch sind jene Fälle, wo sich eine ursprüngliche Wortbedeutung ins Gegenteil verkehrt hat, ohne dass ihre Anhänger irgendwelche Konsequenzen ziehen wollen. Dazu gehört der Begriff «Kritik», der vor zweieinhalb Jahrhunderten für den höchsten Erkenntnisanspruch des aktiven Geistes stand und der in einer erfolgreich vergessenen Verfallsgeschichte mittlerweile zur Parodie seines Ausgangs geworden ist. 

Die Kunst des Urteilens

Meist entstehen solche Verschiebungen und ihre ärgerlichen Konsequenzen aus Wörtern, die mit einer Vielzahl überlappender Bedeutungen assoziiert werden. Was «Kritik» angeht, so hätte sich das Schlimmste vielleicht verhindern lassen, wenn im Deutschen eine Unterscheidung zur Verfügung stünde, die zum Vokabular der englischen Sprache gehört.

«Critique» nimmt dort Bezug auf philosophisches Nachdenken über die Leistungsfähigkeit der mensch- lichen Intelligenz, während «criticism» vor allem für abwertende Äusserungen gebraucht wird und daneben auch für bestimmte Diskurse, die den Gebrauch der Urteilskraft voraussetzen (vor allem in der Literatur- und Kunstkritik). Selbst diese eher harmlose Unschärfe macht zuweilen klärende Nachfragen notwendig, doch die aus ihr hervorgehenden Unsicherheiten stehen in keinem Verhältnis zu den Folgen eines spezi- fischen Kurzschlusses zwischen philosophisch-wissenschaftlichen Höchst-Ansprüchen und habituellen Vorurteilen des Alltags, wie er sich im deutschen Wort «Kritik» seit dem neunzehnten Jahrhundert etabliert hat.

Dabei scheint die Bedeutung der griechisch-antiken Wurzel von «Kritik» unmissverständlich gewesen zu sein. Es ging um die Praxis des Urteilens in Kontexten, deren Relevanz die Grenzen individueller Inter- essen überschritt. Urteilen wurde – und wird immer noch – notwendig in der Reaktion auf Phänomene, Ereignisse oder Fragen, die einen Rückgriff auf Standardwissen nicht zulassen. Kompakter gesagt: Mangel an Evidenz ist die Voraussetzung des Urteilens. Deshalb gehören urteilende Antworten eher zur Ebene des Richtigen, zur Ebene dessen, was weiterhilft, als zur Sphäre übergreifender oder gar ewiger Wahrheiten. 

Zuerst Kant, dann Marx

Jene Praxisnähe des Urteils als Vorläufer des neuzeitlichen Begriffs von Kritik blieb für die philosophi- schen Gespräche der Antike, vor allem für Plato und Aristoteles, immer in Reichweite – und könnte als Orientierung dienen, wenn ein Prozess intellektueller Hygiene je wieder die Möglichkeit eines neuen Wortgebrauchs eröffnete. Seine moderne Geschichte hingegen setzte, zumal für die deutsche Sprache, auf höchster Stufe ein, in Immanuel Kants «kritischen» Schriften und ihrem Vorhaben, «nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt» zu unternehmen. Ebendiese Bedeutung einer allgemein gültigen Prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens, mit der die Aufklärung ihren Höhepunkt und Abschluss erreichte, hat der englische Begriff von «critique» bewahrt.

Unter den Denkern des Idealismus, vor allem bei Fichte, Schelling und Hegel, verlor das Wort «Kritik» dann einerseits jene dominante Stellung, die es in Kants Schriften besetzt hatte, und geriet andererseits auf den Weg zu einem veränderten Gebrauch. Er ergab sich aus einer wachsenden Nähe zum damals neuen Begriff der Wissenschaft, wie er nach 1800 schnell – und im Gegensatz zu dem von Kant untersuchten allgemeinen Erkenntnisvermögen – eine Aura intellektueller Überlegenheit gewann.

Doch erst unter den sogenannten «Linkshegelianern», die Hegels Denken benutzten, ohne seine Schlie- ßung im eigenen philosophischen System mitzuvollziehen, vor allem bei Karl Marx, nahm «Kritik» die bis heute anhaltende Zentralstellung und grundsätzlich problematische Bedeutung an. Sie ergaben sich aus einer Koppelung des Prestiges wissenschaftlicher Sprachgesten (auf die sich Marx zum Beispiel in seiner «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie» von 1844 verliess) mit der Zurückweisung von Zuständen im zeitgenössischen Staat wie seiner kapitalistischen Wirtschaft (etwa in der «Kritik der politischen Ökono- mie» von 1859). Diese Angleichung machte Kritik zu einem vermeintlichen politischen Instrument, das zur Einlösung des Versprechens von der «klassenlosen» Gesellschaft beitragen sollte. 

Ein folgenreicher Kurzschluss

Über die singuläre Wirkung der Schriften von Marx und Engels wurde der Kurzschluss zwischen Wissenschafts-Aura und politischer Polemik zu einer dominanten Erfahrungsvoraussetzung des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Wer sich an der Gegenwart stiess, brauchte seine Reaktion kaum mehr zu begründen, weil sie im Licht geistiger Überlegenheit stand.

Damit war zugleich die seit der ursprünglichen Praxis des Urteilens prinzipiell vorgegebene Möglichkeit einer positiven Bewertung von Erlebnissen blockiert. Wer sich also je lobend äusserte, der fiel unter den Verdacht, durch seine «Affirmation» Teil einer Verschwörung von Ausbeutern gegen die arbeitenden Klassen zu sein.

Die Einseitigkeit des Urteilens als Ablehnung setzte sich auch in der seit den zwanziger Jahren entste- henden «Kritischen Theorie» durch, einer anspruchsvollen akademischen Praxis der Analyse von Kunst, Literatur und Musik auf marxistischer Grundlage, für die bis heute vor allem das Werk von Theodor W. Adorno emblematisch geblieben ist. Die politische Chance ästhetischer Erfahrung, behauptete Adorno, ergebe sich aus der Verdichtung und Vergegenwärtigung von Klassenkonflikten durch die Formen der Werke.

Texte von Hölderlin oder Beckett, die aus Unzufriedenheit über die eigene Zeit entstanden sind, können die These gewiss illustrieren. Alle gegenteilig gepolten Weltsichten in Literatur und Kunst aber haben es seither und bis heute schwer, sich angesichts des generellen Affirmationsvorbehalts durchzusetzen. Dieser simple Schematismus dürfte mehr zur Wirkungsmacht der «Kritischen Theorie» beigetragen haben als eine Reihe analytischer Meisterwerke. 

Der Mangel an Selbstkritik

Zu ihren grossen Leistungen zählen auch die Reflexionen von Jürgen Habermas über strukturelle Situationen der Ungerechtigkeit in den Gesellschaften des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Doch sosehr Habermas als weithin gelesener Intellektueller zur späten Etablierung eines demokratischen Alltags in Deutschland beigetragen hat, so deutlich setzte sich auch in seiner Polemik die Überlegenheits-Aura der Wissenschaft durch. Während er mit dem französischen Generationsgenossen Michel Foucault im Blick auf soziale Missstände und ihre Alternativen weitgehend übereinstimmte, trieben die Anhänger der «Kritischen Theorie» ihre Vorbehalte gegen das Ausbleiben einer marxistischen Grundlage in Foucaults Arbeiten bis hin zum – absurden – Vorwurf des Neokonservatismus.

Habermas selbst hat in einem letztes Jahr erschienenen Buch seine Konzeption von Wissenschaft vor dem Hintergrund von Traditionen des Glaubens noch einmal differenziert. Anders als er verschliesst sich jedoch die Mehrzahl der unter seinem Einfluss zu akademischen und öffentlichen Ehren aufgestiegenen Intellektuellen – ausgerechnet mit dem Anspruch, kritisch zu bleiben – jeder selbstkritischen Revision.

Blind gegenüber Phänomenen des fortschreitenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, die sich nicht auf der Achse wohlfahrtsstaatlichen Fortschritts abbuchen lassen, wie Erderwärmung, Transformation menschlicher Arbeit durch elektronische Technologie oder Veränderung der Alterspyramide, halten sie an überkommenen philosophischen Lösungen und Gewissheiten der Ethik (ein neues Lieblingswort) fest. Derart unerschütterliche Prinzipienfestigkeit erinnert an ihre populistischen Gegner im öffentlichen Raum, die auf inhaltsfreie Zustimmung zu Gesten der Authentizität als einen neuen Modus der Politik setzen – und die ehemaligen Linken als «politisch korrekte» Status-quo-Bewahrer blosszustellen versuchen. 

Die Ideologen und die Populisten

Wer nach den Motiven dieser Versteinerung des ehemals kritischen Geistes sucht, stösst noch einmal auf eine merkwürdige Affinität zur politischen Gegenseite.

Man hat – überzeugend, wie ich meine – eine Stimmung des «Abgehängt-Seins» und des daraus folgenden Ressentiments im Hinblick auf die technologisch-kulturelle Gegenwart als diejenige Situation identifiziert, der etwa die gegenwärtigen Staatschefs in den Vereinigten Staaten, Brasilien, Italien oder Ungarn ihre stabile Wählerbasis verdanken. Aber lässt sich ein strukturell ähnliches Ressentiment nicht auch bei den «kritischen Linken» von früher – und heute – beobachten, deren traditionelle Bilder vom sozialen Fortschritt (etwa: drastisch verkürzte Arbeitszeiten) ihre Attraktivität für andere Zeitgenossen in dem Mass verloren haben, wie sie realisierbar geworden sind?

Der Habitus des Kritischseins ist zur letzten Affirmation einer vergangenen Sozialutopie geworden – und zur grotesken Selbstfeier des Ressentiments als Wissenschaftlichkeit. Vom Bannkreis dieser End-Station sollten sich neugierige Intellektuelle durch eine Praxis polemischer Interventionen in der Alltagssprache befreien, selbst wenn darin eine letzte «Affirmation» des «Kritik»-Syndroms läge.

Wer auf die erstarrten Implikationen in der kritischen Praxis der Linken hinweist, muss sich eine Verballhornung als «affirmativ», «rechts» oder «neoliberal» heute nicht mehr bieten lassen. Schon immer ist die obligatorische Einschwörung der Intellektuellen auf ein verengtes Spektrum politischer Positionen das Erbe eines amputierten Begriffs von «Kritik» gewesen, mithin ein grosses Selbstmissverständnis.

Der Impuls einer Kritik am überkommenen «Kritik»-Begriff könnte dagegen unsere Lust an unabhängigen, nie vorhersehbaren Urteilen als die ursprüngliche kritische Praxis wieder wecken.

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und Reaktionen» (Reclam, 2019) erschienen.


Nota. - En gros hat er Recht, aber en détail vergreift er sich, und das bleibt für das große Ganze nicht ohne Folgen. 

Ich fange an - Sie ahnen es schon - bei Fichte und dem "Idealismus". Fichte war Idealist im philosophisch spezifischen Sinn, er führte das Erkennen auf die Agilität des Subjekts zurück und nicht auf die Eindrücke, die uns die Objekte machen, und insofern war er wie Kant ein kritischer Philosoph. Er selbst verstand sich als sein Radikalisierer und Vollender.Vernunftkritik, Philosophie und Tranzendentalphilosophie bedeuteten für ihn dasselbe.

Dass man ihn später unter dem Etikett Deutscher Idealismus den im Grunde ideenrealistischen Spekulatio- nen der Schelling und Hegel zugeschlagen hat, ist zu erklären durch seinen Bruch mit der Transzendental- philosophie im Gefolge des Atheismusstreits, ist aber falsch in Hinblick auf seine originäre denkerische Leistung, die ursprüngliche Wissenschaftslehre.

Das ist keine philologische Randnotiz, denn Gumbrechts Missgriff setzt sich fort in den beiläufigen Sätzen über Marx. Dass Marx bei dem Metaphysiker Hegel begonnen hat, für den Kritik nur noch eine rhetorische Floskel war, ist wohl wahr, und noch in den zeitweilig populären Frühschriften zeigt er sich als dogmatisch verkündender Rhetor. Aber als es ihm ernst wurde mit der Wissenschaft von Geschichte und Ökonomie, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich aus der dogmatischen Hegel'schen Begriffsdialektik zu befreien und das im eminenten Sinne kritische Verfahren 'neu zu erfinden'. Charakteristischer Weise steht sein Gebrauch des Wortes Kritik auch nicht am Anfang seiner Beschäftigung mit der Politischen Ökonomie; vielmehr ist ihm der wesentlich kritische Charakter seines Vorhabens erst aufgegangen, als er schon mittendrin war, als er in den Grundrissen nämlich auf die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" gestoßen ist; erst ab da redet er von Kritik der Politischen Ökonomie. Gumbrecht ist Literturwissenschaftler, da muss er sich damit nicht auseinandersetzen. Aber empfehlen würde ich es ihm doch.

Zumal, als er mit Adorno und Habermas fortfährt. Das Unglück des Marxismus als wissenschaftliches Cor- pus - in der Wirklichkeit waren seine Unglücke freilich erheblicher - beruhen darauf, dass auch die 'westliche' Marx-Rezeption sich nie aus ihren hegelianisierenden Mystifikationen befreien wollte* - weil sie erstens mit dem Stalinismus nie ins Reine gekommen ist und weil ihr ein tiefes Eindringen in die Kritik der Politischen Ökonomie stets zu mühselig war. In tiefstem Herzen blieben sie daher alle Ideologen und Dogmatiker - schon um ihrer Identität willen.

Identität ist das Wort, das bei Gumbrecht fehlt. 'Kritisch' passt dazu wie die Faust aufs Auge. In diesen Zu- sammenhängen muss es nicht einmal die Nähe zu 'authentisch' scheuen. Und das macht im Grunde ihre Ver- wandtschaft zu den pp. "Rechtspopulisten" aus. Denen haben sie den Boden bereitet, indem sie nach und nach im Laufe eines halben Jahrhunderts an die Stelle der Schärfe des vernünftigen Arguments das inbrün- stige Bekenntnis zu setzten.

Ich habe anderswo gezeigt, dass es nicht durch Zufall so gekommen ist, sondern weil mit dem schließlichen Scheitern der Weltrevolution das Ende der Geschichte gekommen schien, wo alles möglich, aber auch alles gleich gültig war. Gab es noch ein Hauptproblem der Epoche, an dem alle Länder und alle Völker sich begegneten und wo über die Schicksale der Menschheit zu entscheiden war?

Nach dreißig Jahren sehen wir jetzt klarer. Globalisierung und Digitale Revolution sind Vor- und Rückansicht der gegenwärtigen Epoche. Das ist ein Maßstab, an dem nun alle wieder zu messen sind. An die Stelle der affirmierten Identitäten dürfen - ach was sag ich: müssen! - wieder Sachurteile treten; mit kritischer Schärfe und ohne selbstische Dumpfheit.

*) Den einen, einzigen Paul Mattick zähle ich nicht zur 'westlichen Marxrzeption'. 
JE