Fragonard, Der Philosoph
aus nzz.ch, 26.02.2020 zu öffentliche Angelegenheiten
Warum der kritische Gestus der Intellektuellen passé ist
Gerade
Intellektuelle bilden sich viel darauf ein, Machtverhältnisse zu
hinterfragen. Doch wer betont kritisch ist, ist oftmals vor allem eins:
moralistisch. Die heutigen Ideologiekritiker erinnern in manchem an die
gegnerischen Rechtspopulisten.
Am
vertracktesten jedoch sind jene Fälle, wo sich eine ursprüngliche
Wortbedeutung ins Gegenteil verkehrt hat, ohne dass ihre Anhänger
irgendwelche Konsequenzen ziehen wollen. Dazu gehört der Begriff
«Kritik», der vor zweieinhalb Jahrhunderten für den höchsten
Erkenntnisanspruch des aktiven Geistes stand und der in einer
erfolgreich vergessenen Verfallsgeschichte mittlerweile zur Parodie
seines Ausgangs geworden ist.
Die Kunst des Urteilens
Meist
entstehen solche Verschiebungen und ihre ärgerlichen Konsequenzen aus
Wörtern, die mit einer Vielzahl überlappender Bedeutungen assoziiert
werden. Was «Kritik» angeht, so hätte sich das Schlimmste vielleicht
verhindern lassen, wenn im Deutschen eine Unterscheidung zur Verfügung
stünde, die zum Vokabular der englischen Sprache gehört.
«Critique»
nimmt dort Bezug auf philosophisches Nachdenken über die
Leistungsfähigkeit der mensch- lichen Intelligenz, während «criticism» vor
allem für abwertende Äusserungen gebraucht wird und daneben auch für
bestimmte Diskurse, die den Gebrauch der Urteilskraft voraussetzen (vor
allem in der Literatur- und Kunstkritik). Selbst diese eher harmlose
Unschärfe macht zuweilen klärende Nachfragen notwendig, doch die aus ihr
hervorgehenden Unsicherheiten stehen in keinem Verhältnis zu den Folgen
eines spezi- fischen Kurzschlusses zwischen
philosophisch-wissenschaftlichen Höchst-Ansprüchen und habituellen
Vorurteilen des Alltags, wie er sich im deutschen Wort «Kritik» seit dem
neunzehnten Jahrhundert etabliert hat.
Dabei
scheint die Bedeutung der griechisch-antiken Wurzel von «Kritik»
unmissverständlich gewesen zu sein. Es ging um die Praxis des Urteilens
in Kontexten, deren Relevanz die Grenzen individueller Inter- essen
überschritt. Urteilen wurde – und wird immer noch – notwendig in der
Reaktion auf Phänomene, Ereignisse oder Fragen, die einen Rückgriff auf
Standardwissen nicht zulassen. Kompakter gesagt: Mangel an Evidenz ist
die Voraussetzung des Urteilens. Deshalb gehören urteilende Antworten
eher zur Ebene des Richtigen, zur Ebene dessen, was weiterhilft, als zur
Sphäre übergreifender oder gar ewiger Wahrheiten.
Zuerst Kant, dann Marx
Jene
Praxisnähe des Urteils als Vorläufer des neuzeitlichen Begriffs von
Kritik blieb für die philosophi- schen Gespräche der Antike, vor allem für
Plato und Aristoteles, immer in Reichweite – und könnte als
Orientierung dienen, wenn ein Prozess intellektueller Hygiene je wieder
die Möglichkeit eines neuen Wortgebrauchs eröffnete. Seine moderne
Geschichte hingegen setzte, zumal für die deutsche Sprache, auf höchster
Stufe ein, in Immanuel Kants «kritischen» Schriften und ihrem Vorhaben,
«nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des
Vernunftvermögens überhaupt» zu unternehmen. Ebendiese Bedeutung einer
allgemein gültigen Prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens, mit der
die Aufklärung ihren Höhepunkt und Abschluss erreichte, hat der
englische Begriff von «critique» bewahrt.
Unter
den Denkern des Idealismus, vor allem bei Fichte, Schelling und Hegel,
verlor das Wort «Kritik» dann einerseits jene dominante Stellung, die es
in Kants Schriften besetzt hatte, und geriet andererseits auf den Weg
zu einem veränderten Gebrauch. Er ergab sich aus einer wachsenden Nähe
zum damals neuen Begriff der Wissenschaft, wie er nach 1800 schnell –
und im Gegensatz zu dem von Kant untersuchten allgemeinen
Erkenntnisvermögen – eine Aura intellektueller Überlegenheit gewann.
Doch
erst unter den sogenannten «Linkshegelianern», die Hegels Denken
benutzten, ohne seine Schlie- ßung im eigenen philosophischen System
mitzuvollziehen, vor allem bei Karl Marx, nahm «Kritik» die bis heute
anhaltende Zentralstellung und grundsätzlich problematische Bedeutung
an. Sie ergaben sich aus einer Koppelung des Prestiges
wissenschaftlicher Sprachgesten (auf die sich Marx zum Beispiel in
seiner «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie» von 1844 verliess) mit
der Zurückweisung von Zuständen im zeitgenössischen Staat wie seiner
kapitalistischen Wirtschaft (etwa in der «Kritik der politischen
Ökono- mie» von 1859). Diese Angleichung machte Kritik zu einem
vermeintlichen politischen Instrument, das zur Einlösung des
Versprechens von der «klassenlosen» Gesellschaft beitragen sollte.
Ein folgenreicher Kurzschluss
Über
die singuläre Wirkung der Schriften von Marx und Engels wurde der
Kurzschluss zwischen Wissenschafts-Aura und politischer Polemik zu einer
dominanten Erfahrungsvoraussetzung des späten neunzehnten und frühen
zwanzigsten Jahrhunderts. Wer sich an der Gegenwart stiess, brauchte
seine Reaktion kaum mehr zu begründen, weil sie im Licht geistiger
Überlegenheit stand.
Damit
war zugleich die seit der ursprünglichen Praxis des Urteilens
prinzipiell vorgegebene Möglichkeit einer positiven Bewertung von
Erlebnissen blockiert. Wer sich also je lobend äusserte, der fiel unter
den Verdacht, durch seine «Affirmation» Teil einer Verschwörung von
Ausbeutern gegen die arbeitenden Klassen zu sein.
Die
Einseitigkeit des Urteilens als Ablehnung setzte sich auch in der seit
den zwanziger Jahren entste- henden «Kritischen Theorie» durch, einer
anspruchsvollen akademischen Praxis der Analyse von Kunst, Literatur und
Musik auf marxistischer Grundlage, für die bis heute vor allem das Werk
von Theodor W. Adorno emblematisch geblieben ist. Die politische Chance
ästhetischer Erfahrung, behauptete Adorno, ergebe sich aus der
Verdichtung und Vergegenwärtigung von Klassenkonflikten durch die Formen
der Werke.
Texte
von Hölderlin oder Beckett, die aus Unzufriedenheit über die eigene
Zeit entstanden sind, können die These gewiss illustrieren. Alle
gegenteilig gepolten Weltsichten in Literatur und Kunst aber haben es
seither und bis heute schwer, sich angesichts des generellen
Affirmationsvorbehalts durchzusetzen. Dieser simple Schematismus dürfte
mehr zur Wirkungsmacht der «Kritischen Theorie» beigetragen haben als
eine Reihe analytischer Meisterwerke.
Der Mangel an Selbstkritik
Zu
ihren grossen Leistungen zählen auch die Reflexionen von Jürgen
Habermas über strukturelle Situationen der Ungerechtigkeit in den
Gesellschaften des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Doch sosehr Habermas
als weithin gelesener Intellektueller zur späten Etablierung eines
demokratischen Alltags in Deutschland beigetragen hat, so deutlich
setzte sich auch in seiner Polemik die Überlegenheits-Aura der
Wissenschaft durch. Während er mit dem französischen Generationsgenossen
Michel Foucault im Blick auf soziale Missstände und ihre Alternativen
weitgehend übereinstimmte, trieben die Anhänger der «Kritischen Theorie»
ihre Vorbehalte gegen das Ausbleiben einer marxistischen Grundlage in
Foucaults Arbeiten bis hin zum – absurden – Vorwurf des
Neokonservatismus.
Habermas
selbst hat in einem letztes Jahr erschienenen Buch seine Konzeption von
Wissenschaft vor dem Hintergrund von Traditionen des Glaubens noch
einmal differenziert. Anders als er verschliesst sich jedoch die
Mehrzahl der unter seinem Einfluss zu akademischen und öffentlichen
Ehren aufgestiegenen Intellektuellen – ausgerechnet mit dem Anspruch,
kritisch zu bleiben – jeder selbstkritischen Revision.
Blind
gegenüber Phänomenen des fortschreitenden einundzwanzigsten
Jahrhunderts, die sich nicht auf der Achse wohlfahrtsstaatlichen
Fortschritts abbuchen lassen, wie Erderwärmung, Transformation
menschlicher Arbeit durch elektronische Technologie oder Veränderung der
Alterspyramide, halten sie an überkommenen philosophischen Lösungen und
Gewissheiten der Ethik (ein neues Lieblingswort) fest. Derart
unerschütterliche Prinzipienfestigkeit erinnert an ihre populistischen
Gegner im öffentlichen Raum, die auf inhaltsfreie Zustimmung zu Gesten
der Authentizität als einen neuen Modus der Politik setzen – und die
ehemaligen Linken als «politisch korrekte» Status-quo-Bewahrer
blosszustellen versuchen.
Die Ideologen und die Populisten
Wer
nach den Motiven dieser Versteinerung des ehemals kritischen Geistes
sucht, stösst noch einmal auf eine merkwürdige Affinität zur politischen
Gegenseite.
Man
hat – überzeugend, wie ich meine – eine Stimmung des «Abgehängt-Seins»
und des daraus folgenden Ressentiments im Hinblick auf die
technologisch-kulturelle Gegenwart als diejenige Situation
identifiziert, der etwa die gegenwärtigen Staatschefs in den Vereinigten
Staaten, Brasilien, Italien oder Ungarn ihre stabile Wählerbasis
verdanken. Aber lässt sich ein strukturell ähnliches Ressentiment nicht
auch bei den «kritischen Linken» von früher – und heute – beobachten,
deren traditionelle Bilder vom sozialen Fortschritt (etwa: drastisch
verkürzte Arbeitszeiten) ihre Attraktivität für andere Zeitgenossen in
dem Mass verloren haben, wie sie realisierbar geworden sind?
Der
Habitus des Kritischseins ist zur letzten Affirmation einer vergangenen
Sozialutopie geworden – und zur grotesken Selbstfeier des Ressentiments
als Wissenschaftlichkeit. Vom Bannkreis dieser End-Station sollten sich
neugierige Intellektuelle durch eine Praxis polemischer Interventionen
in der Alltagssprache befreien, selbst wenn darin eine letzte
«Affirmation» des «Kritik»-Syndroms läge.
Wer
auf die erstarrten Implikationen in der kritischen Praxis der Linken
hinweist, muss sich eine Verballhornung als «affirmativ», «rechts» oder
«neoliberal» heute nicht mehr bieten lassen. Schon immer ist die
obligatorische Einschwörung der Intellektuellen auf ein verengtes
Spektrum politischer Positionen das Erbe eines amputierten Begriffs von
«Kritik» gewesen, mithin ein grosses Selbstmissverständnis.
Der
Impuls einer Kritik am überkommenen «Kritik»-Begriff könnte dagegen
unsere Lust an unabhängigen, nie vorhersehbaren Urteilen als die
ursprüngliche kritische Praxis wieder wecken.
Hans Ulrich Gumbrecht
ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und
Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und
Reaktionen» (Reclam, 2019) erschienen.
Nota. - En gros hat er Recht, aber en détail vergreift er sich, und das bleibt für das große Ganze nicht ohne Folgen.
Ich fange an - Sie ahnen es schon - bei Fichte und dem "Idealismus". Fichte war Idealist im philosophisch spezifischen Sinn, er führte das Erkennen auf die Agilität des Subjekts zurück und nicht auf die Eindrücke, die uns die Objekte machen, und insofern war er wie Kant ein kritischer Philosoph. Er selbst verstand sich als sein Radikalisierer und Vollender.Vernunftkritik, Philosophie und Tranzendentalphilosophie bedeuteten für ihn dasselbe.
Dass man ihn später unter dem Etikett Deutscher Idealismus den im Grunde ideenrealistischen Spekulatio- nen der Schelling und Hegel zugeschlagen hat, ist zu erklären durch seinen Bruch mit der Transzendental- philosophie im Gefolge des Atheismusstreits, ist aber falsch in Hinblick auf seine originäre denkerische Leistung, die ursprüngliche Wissenschaftslehre.
Das ist keine philologische Randnotiz, denn Gumbrechts Missgriff setzt sich fort in den beiläufigen Sätzen über Marx. Dass Marx bei dem Metaphysiker Hegel begonnen hat, für den Kritik nur noch eine rhetorische Floskel war, ist wohl wahr, und noch in den zeitweilig populären Frühschriften zeigt er sich als dogmatisch verkündender Rhetor. Aber als es ihm ernst wurde mit der Wissenschaft von Geschichte und Ökonomie, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich aus der dogmatischen Hegel'schen Begriffsdialektik zu befreien und das im eminenten Sinne kritische Verfahren 'neu zu erfinden'. Charakteristischer Weise steht sein Gebrauch des Wortes Kritik auch nicht am Anfang seiner Beschäftigung mit der Politischen Ökonomie; vielmehr ist ihm der wesentlich kritische Charakter seines Vorhabens erst aufgegangen, als er schon mittendrin war, als er in den Grundrissen nämlich auf die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" gestoßen ist; erst ab da redet er von Kritik der Politischen Ökonomie. Gumbrecht ist Literturwissenschaftler, da muss er sich damit nicht auseinandersetzen. Aber empfehlen würde ich es ihm doch.
Zumal, als er mit Adorno und Habermas fortfährt. Das Unglück des Marxismus als wissenschaftliches Cor- pus - in der Wirklichkeit waren seine Unglücke freilich erheblicher - beruhen darauf, dass auch die 'westliche' Marx-Rezeption sich nie aus ihren hegelianisierenden Mystifikationen befreien wollte* - weil sie erstens mit dem Stalinismus nie ins Reine gekommen ist und weil ihr ein tiefes Eindringen in die Kritik der Politischen Ökonomie stets zu mühselig war. In tiefstem Herzen blieben sie daher alle Ideologen und Dogmatiker - schon um ihrer Identität willen.
Identität ist das Wort, das bei Gumbrecht fehlt. 'Kritisch' passt dazu wie die Faust aufs Auge. In diesen Zu- sammenhängen muss es nicht einmal die Nähe zu 'authentisch' scheuen. Und das macht im Grunde ihre Ver- wandtschaft zu den pp. "Rechtspopulisten" aus. Denen haben sie den Boden bereitet, indem sie nach und nach im Laufe eines halben Jahrhunderts an die Stelle der Schärfe des vernünftigen Arguments das inbrün- stige Bekenntnis zu setzten.
Ich habe anderswo gezeigt, dass es nicht durch Zufall so gekommen ist, sondern weil mit dem schließlichen Scheitern der Weltrevolution das Ende der Geschichte gekommen schien, wo alles möglich, aber auch alles gleich gültig war. Gab es noch ein Hauptproblem der Epoche, an dem alle Länder und alle Völker sich begegneten und wo über die Schicksale der Menschheit zu entscheiden war?
Nach dreißig Jahren sehen wir jetzt klarer. Globalisierung und Digitale Revolution sind Vor- und Rückansicht der gegenwärtigen Epoche. Das ist ein Maßstab, an dem nun alle wieder zu messen sind. An die Stelle der affirmierten Identitäten dürfen - ach was sag ich: müssen! - wieder Sachurteile treten; mit kritischer Schärfe und ohne selbstische Dumpfheit.
*) Den einen, einzigen Paul Mattick zähle ich nicht zur 'westlichen Marxrzeption'.
JE