Mittwoch, 26. Februar 2020

Wo sind die kritischen Intellektuellen geblieben?

Fragonard, Der Philosoph
aus nzz.ch, 26.02.2020                                                                                                           zu öffentliche Angelegenheiten

Warum der kritische Gestus der Intellektuellen passé ist
Gerade Intellektuelle bilden sich viel darauf ein, Machtverhältnisse zu hinterfragen. Doch wer betont kritisch ist, ist oftmals vor allem eins: moralistisch. Die heutigen Ideologiekritiker erinnern in manchem an die gegnerischen Rechtspopulisten.

von Hans Ulrich Gumbrecht 

Viel zu oft macht sich ein neuer Gebrauch von Wörtern breit, auf deren Verbot Preise ausgesetzt werden sollten. Besonders nervig finde ich die in allen Varianten der deutschen Sprache zur Regel gewordene Ersetzung des Adjektivs «interessant» durch das Partizip «spannend», einfach aus Geschmacksgründen. Ähnlich irritierend wirkt die Inflation von «Nachhaltigkeits»-Mahnungen, deren Moralingeruch uns mit allzu gut gemeinten Empfehlungen von Hotels im Handtuch nach der Morgendusche erwartet.

Am vertracktesten jedoch sind jene Fälle, wo sich eine ursprüngliche Wortbedeutung ins Gegenteil verkehrt hat, ohne dass ihre Anhänger irgendwelche Konsequenzen ziehen wollen. Dazu gehört der Begriff «Kritik», der vor zweieinhalb Jahrhunderten für den höchsten Erkenntnisanspruch des aktiven Geistes stand und der in einer erfolgreich vergessenen Verfallsgeschichte mittlerweile zur Parodie seines Ausgangs geworden ist. 

Die Kunst des Urteilens

Meist entstehen solche Verschiebungen und ihre ärgerlichen Konsequenzen aus Wörtern, die mit einer Vielzahl überlappender Bedeutungen assoziiert werden. Was «Kritik» angeht, so hätte sich das Schlimmste vielleicht verhindern lassen, wenn im Deutschen eine Unterscheidung zur Verfügung stünde, die zum Vokabular der englischen Sprache gehört.

«Critique» nimmt dort Bezug auf philosophisches Nachdenken über die Leistungsfähigkeit der mensch- lichen Intelligenz, während «criticism» vor allem für abwertende Äusserungen gebraucht wird und daneben auch für bestimmte Diskurse, die den Gebrauch der Urteilskraft voraussetzen (vor allem in der Literatur- und Kunstkritik). Selbst diese eher harmlose Unschärfe macht zuweilen klärende Nachfragen notwendig, doch die aus ihr hervorgehenden Unsicherheiten stehen in keinem Verhältnis zu den Folgen eines spezi- fischen Kurzschlusses zwischen philosophisch-wissenschaftlichen Höchst-Ansprüchen und habituellen Vorurteilen des Alltags, wie er sich im deutschen Wort «Kritik» seit dem neunzehnten Jahrhundert etabliert hat.

Dabei scheint die Bedeutung der griechisch-antiken Wurzel von «Kritik» unmissverständlich gewesen zu sein. Es ging um die Praxis des Urteilens in Kontexten, deren Relevanz die Grenzen individueller Inter- essen überschritt. Urteilen wurde – und wird immer noch – notwendig in der Reaktion auf Phänomene, Ereignisse oder Fragen, die einen Rückgriff auf Standardwissen nicht zulassen. Kompakter gesagt: Mangel an Evidenz ist die Voraussetzung des Urteilens. Deshalb gehören urteilende Antworten eher zur Ebene des Richtigen, zur Ebene dessen, was weiterhilft, als zur Sphäre übergreifender oder gar ewiger Wahrheiten. 

Zuerst Kant, dann Marx

Jene Praxisnähe des Urteils als Vorläufer des neuzeitlichen Begriffs von Kritik blieb für die philosophi- schen Gespräche der Antike, vor allem für Plato und Aristoteles, immer in Reichweite – und könnte als Orientierung dienen, wenn ein Prozess intellektueller Hygiene je wieder die Möglichkeit eines neuen Wortgebrauchs eröffnete. Seine moderne Geschichte hingegen setzte, zumal für die deutsche Sprache, auf höchster Stufe ein, in Immanuel Kants «kritischen» Schriften und ihrem Vorhaben, «nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt» zu unternehmen. Ebendiese Bedeutung einer allgemein gültigen Prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens, mit der die Aufklärung ihren Höhepunkt und Abschluss erreichte, hat der englische Begriff von «critique» bewahrt.

Unter den Denkern des Idealismus, vor allem bei Fichte, Schelling und Hegel, verlor das Wort «Kritik» dann einerseits jene dominante Stellung, die es in Kants Schriften besetzt hatte, und geriet andererseits auf den Weg zu einem veränderten Gebrauch. Er ergab sich aus einer wachsenden Nähe zum damals neuen Begriff der Wissenschaft, wie er nach 1800 schnell – und im Gegensatz zu dem von Kant untersuchten allgemeinen Erkenntnisvermögen – eine Aura intellektueller Überlegenheit gewann.

Doch erst unter den sogenannten «Linkshegelianern», die Hegels Denken benutzten, ohne seine Schlie- ßung im eigenen philosophischen System mitzuvollziehen, vor allem bei Karl Marx, nahm «Kritik» die bis heute anhaltende Zentralstellung und grundsätzlich problematische Bedeutung an. Sie ergaben sich aus einer Koppelung des Prestiges wissenschaftlicher Sprachgesten (auf die sich Marx zum Beispiel in seiner «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie» von 1844 verliess) mit der Zurückweisung von Zuständen im zeitgenössischen Staat wie seiner kapitalistischen Wirtschaft (etwa in der «Kritik der politischen Ökono- mie» von 1859). Diese Angleichung machte Kritik zu einem vermeintlichen politischen Instrument, das zur Einlösung des Versprechens von der «klassenlosen» Gesellschaft beitragen sollte. 

Ein folgenreicher Kurzschluss

Über die singuläre Wirkung der Schriften von Marx und Engels wurde der Kurzschluss zwischen Wissenschafts-Aura und politischer Polemik zu einer dominanten Erfahrungsvoraussetzung des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Wer sich an der Gegenwart stiess, brauchte seine Reaktion kaum mehr zu begründen, weil sie im Licht geistiger Überlegenheit stand.

Damit war zugleich die seit der ursprünglichen Praxis des Urteilens prinzipiell vorgegebene Möglichkeit einer positiven Bewertung von Erlebnissen blockiert. Wer sich also je lobend äusserte, der fiel unter den Verdacht, durch seine «Affirmation» Teil einer Verschwörung von Ausbeutern gegen die arbeitenden Klassen zu sein.

Die Einseitigkeit des Urteilens als Ablehnung setzte sich auch in der seit den zwanziger Jahren entste- henden «Kritischen Theorie» durch, einer anspruchsvollen akademischen Praxis der Analyse von Kunst, Literatur und Musik auf marxistischer Grundlage, für die bis heute vor allem das Werk von Theodor W. Adorno emblematisch geblieben ist. Die politische Chance ästhetischer Erfahrung, behauptete Adorno, ergebe sich aus der Verdichtung und Vergegenwärtigung von Klassenkonflikten durch die Formen der Werke.

Texte von Hölderlin oder Beckett, die aus Unzufriedenheit über die eigene Zeit entstanden sind, können die These gewiss illustrieren. Alle gegenteilig gepolten Weltsichten in Literatur und Kunst aber haben es seither und bis heute schwer, sich angesichts des generellen Affirmationsvorbehalts durchzusetzen. Dieser simple Schematismus dürfte mehr zur Wirkungsmacht der «Kritischen Theorie» beigetragen haben als eine Reihe analytischer Meisterwerke. 

Der Mangel an Selbstkritik

Zu ihren grossen Leistungen zählen auch die Reflexionen von Jürgen Habermas über strukturelle Situationen der Ungerechtigkeit in den Gesellschaften des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Doch sosehr Habermas als weithin gelesener Intellektueller zur späten Etablierung eines demokratischen Alltags in Deutschland beigetragen hat, so deutlich setzte sich auch in seiner Polemik die Überlegenheits-Aura der Wissenschaft durch. Während er mit dem französischen Generationsgenossen Michel Foucault im Blick auf soziale Missstände und ihre Alternativen weitgehend übereinstimmte, trieben die Anhänger der «Kritischen Theorie» ihre Vorbehalte gegen das Ausbleiben einer marxistischen Grundlage in Foucaults Arbeiten bis hin zum – absurden – Vorwurf des Neokonservatismus.

Habermas selbst hat in einem letztes Jahr erschienenen Buch seine Konzeption von Wissenschaft vor dem Hintergrund von Traditionen des Glaubens noch einmal differenziert. Anders als er verschliesst sich jedoch die Mehrzahl der unter seinem Einfluss zu akademischen und öffentlichen Ehren aufgestiegenen Intellektuellen – ausgerechnet mit dem Anspruch, kritisch zu bleiben – jeder selbstkritischen Revision.

Blind gegenüber Phänomenen des fortschreitenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, die sich nicht auf der Achse wohlfahrtsstaatlichen Fortschritts abbuchen lassen, wie Erderwärmung, Transformation menschlicher Arbeit durch elektronische Technologie oder Veränderung der Alterspyramide, halten sie an überkommenen philosophischen Lösungen und Gewissheiten der Ethik (ein neues Lieblingswort) fest. Derart unerschütterliche Prinzipienfestigkeit erinnert an ihre populistischen Gegner im öffentlichen Raum, die auf inhaltsfreie Zustimmung zu Gesten der Authentizität als einen neuen Modus der Politik setzen – und die ehemaligen Linken als «politisch korrekte» Status-quo-Bewahrer blosszustellen versuchen. 

Die Ideologen und die Populisten

Wer nach den Motiven dieser Versteinerung des ehemals kritischen Geistes sucht, stösst noch einmal auf eine merkwürdige Affinität zur politischen Gegenseite.

Man hat – überzeugend, wie ich meine – eine Stimmung des «Abgehängt-Seins» und des daraus folgenden Ressentiments im Hinblick auf die technologisch-kulturelle Gegenwart als diejenige Situation identifiziert, der etwa die gegenwärtigen Staatschefs in den Vereinigten Staaten, Brasilien, Italien oder Ungarn ihre stabile Wählerbasis verdanken. Aber lässt sich ein strukturell ähnliches Ressentiment nicht auch bei den «kritischen Linken» von früher – und heute – beobachten, deren traditionelle Bilder vom sozialen Fortschritt (etwa: drastisch verkürzte Arbeitszeiten) ihre Attraktivität für andere Zeitgenossen in dem Mass verloren haben, wie sie realisierbar geworden sind?

Der Habitus des Kritischseins ist zur letzten Affirmation einer vergangenen Sozialutopie geworden – und zur grotesken Selbstfeier des Ressentiments als Wissenschaftlichkeit. Vom Bannkreis dieser End-Station sollten sich neugierige Intellektuelle durch eine Praxis polemischer Interventionen in der Alltagssprache befreien, selbst wenn darin eine letzte «Affirmation» des «Kritik»-Syndroms läge.

Wer auf die erstarrten Implikationen in der kritischen Praxis der Linken hinweist, muss sich eine Verballhornung als «affirmativ», «rechts» oder «neoliberal» heute nicht mehr bieten lassen. Schon immer ist die obligatorische Einschwörung der Intellektuellen auf ein verengtes Spektrum politischer Positionen das Erbe eines amputierten Begriffs von «Kritik» gewesen, mithin ein grosses Selbstmissverständnis.

Der Impuls einer Kritik am überkommenen «Kritik»-Begriff könnte dagegen unsere Lust an unabhängigen, nie vorhersehbaren Urteilen als die ursprüngliche kritische Praxis wieder wecken.

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und Reaktionen» (Reclam, 2019) erschienen.


Nota. - En gros hat er Recht, aber en détail vergreift er sich, und das bleibt für das große Ganze nicht ohne Folgen. 

Ich fange an - Sie ahnen es schon - bei Fichte und dem "Idealismus". Fichte war Idealist im philosophisch spezifischen Sinn, er führte das Erkennen auf die Agilität des Subjekts zurück und nicht auf die Eindrücke, die uns die Objekte machen, und insofern war er wie Kant ein kritischer Philosoph. Er selbst verstand sich als sein Radikalisierer und Vollender.Vernunftkritik, Philosophie und Tranzendentalphilosophie bedeuteten für ihn dasselbe.

Dass man ihn später unter dem Etikett Deutscher Idealismus den im Grunde ideenrealistischen Spekulatio- nen der Schelling und Hegel zugeschlagen hat, ist zu erklären durch seinen Bruch mit der Transzendental- philosophie im Gefolge des Atheismusstreits, ist aber falsch in Hinblick auf seine originäre denkerische Leistung, die ursprüngliche Wissenschaftslehre.

Das ist keine philologische Randnotiz, denn Gumbrechts Missgriff setzt sich fort in den beiläufigen Sätzen über Marx. Dass Marx bei dem Metaphysiker Hegel begonnen hat, für den Kritik nur noch eine rhetorische Floskel war, ist wohl wahr, und noch in den zeitweilig populären Frühschriften zeigt er sich als dogmatisch verkündender Rhetor. Aber als es ihm ernst wurde mit der Wissenschaft von Geschichte und Ökonomie, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich aus der dogmatischen Hegel'schen Begriffsdialektik zu befreien und das im eminenten Sinne kritische Verfahren 'neu zu erfinden'. Charakteristischer Weise steht sein Gebrauch des Wortes Kritik auch nicht am Anfang seiner Beschäftigung mit der Politischen Ökonomie; vielmehr ist ihm der wesentlich kritische Charakter seines Vorhabens erst aufgegangen, als er schon mittendrin war, als er in den Grundrissen nämlich auf die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" gestoßen ist; erst ab da redet er von Kritik der Politischen Ökonomie. Gumbrecht ist Literturwissenschaftler, da muss er sich damit nicht auseinandersetzen. Aber empfehlen würde ich es ihm doch.

Zumal, als er mit Adorno und Habermas fortfährt. Das Unglück des Marxismus als wissenschaftliches Cor- pus - in der Wirklichkeit waren seine Unglücke freilich erheblicher - beruhen darauf, dass auch die 'westliche' Marx-Rezeption sich nie aus ihren hegelianisierenden Mystifikationen befreien wollte* - weil sie erstens mit dem Stalinismus nie ins Reine gekommen ist und weil ihr ein tiefes Eindringen in die Kritik der Politischen Ökonomie stets zu mühselig war. In tiefstem Herzen blieben sie daher alle Ideologen und Dogmatiker - schon um ihrer Identität willen.

Identität ist das Wort, das bei Gumbrecht fehlt. 'Kritisch' passt dazu wie die Faust aufs Auge. In diesen Zu- sammenhängen muss es nicht einmal die Nähe zu 'authentisch' scheuen. Und das macht im Grunde ihre Ver- wandtschaft zu den pp. "Rechtspopulisten" aus. Denen haben sie den Boden bereitet, indem sie nach und nach im Laufe eines halben Jahrhunderts an die Stelle der Schärfe des vernünftigen Arguments das inbrün- stige Bekenntnis zu setzten.

Ich habe anderswo gezeigt, dass es nicht durch Zufall so gekommen ist, sondern weil mit dem schließlichen Scheitern der Weltrevolution das Ende der Geschichte gekommen schien, wo alles möglich, aber auch alles gleich gültig war. Gab es noch ein Hauptproblem der Epoche, an dem alle Länder und alle Völker sich begegneten und wo über die Schicksale der Menschheit zu entscheiden war?

Nach dreißig Jahren sehen wir jetzt klarer. Globalisierung und Digitale Revolution sind Vor- und Rückansicht der gegenwärtigen Epoche. Das ist ein Maßstab, an dem nun alle wieder zu messen sind. An die Stelle der affirmierten Identitäten dürfen - ach was sag ich: müssen! - wieder Sachurteile treten; mit kritischer Schärfe und ohne selbstische Dumpfheit.

*) Den einen, einzigen Paul Mattick zähle ich nicht zur 'westlichen Marxrzeption'. 
JE 

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