Montag, 29. März 2021

Anschauung, Vorstellung, Begriff.

                                                                       aus Philosophierungen

Mit Vorstellung meine ich die Re-Präsentation eines zuvor schon angeschauten Bildes; wo-bei es unerheblich ist, ob das Bild 'wahr-genommen'* oder 'ein-gebildet' wurde. Entschei-dend ist die Anschaulichkeit.

Das Re-Präsentieren geschieht, indem das Bild mit einem Symbol ausgezeichnet und in ein-em Speicher abgelegt werden. Dort werden sie durch das Aufrufen des Zeichens 'vergegen-wärtigt'.**

Vorstellungen, die durch ein Symbol bezeichnet sind, lassen sich ipso facto zu einem System fügen; und werden zu Begriffen. 


Juli 21, 2009

**) Wir sagen erinnern, aber meinen eräußern.


*) Nota. - Nachzutragen ist: Das sinnlich-Gegebene - mit den Augen Gesehene, mit den Ohren Gehörte, mit der Nase Gerochene - ist kein 'Ding'; sondern immer nur dieses oder jenes Gefühl. 'Wahrgenommen' wird nur dies. Zu einem Bild werden Gefühle erst durch ihre zusammenfassende Bestimmung als Dieses (dieses Eine als ein Ganzes Mannigfaltiger). Dieses erst wird als Bild  angeschaut; bildend ist die Anschauung nicht rezeptiv, sondern tä-tig.

JE

 
 
 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Transzendentalphilosophie handelt von Wirklichem.

Daniel Stricker, pixelio.de;               zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

"Glaubt der Mann, in Anthropologie und Humanbiologie Evidenzen für die Richtigkeit der Transzendentalphilosophie zu finden?" schrieb einmal ein kritischer Geist. 

 Der Mann war ich.


Allerdings ist die Klärung des Verhältnisses von Wissenschaftslehre und Anthropologie mein treibendes Thema. Und natürlich, wie könnte es anders sein, geht es um das Ich. Das transzendentale oder absolute Ich – das gedachte Subjekt der Tathandlung – als positive Größe in die Anthropologie einbauen wollen wäre allerdings sinnlos; denn dann bliebe es nicht transzendental, und die ganze Übung wäre für die Katz.

Aber mit dem Ich 'als Idee' sieht es schon anders aus. Denn das stammt nicht aus der Trans-zendentalphilosophie, sondern aus der Realgeschichte der Mentalitäten. Es war da vor der Wissenschaftslehre. Es ist das autonome Subjekt der bürgerlichen Welt in idealer Gestalt. 

Genetisch geht die Wissenschaftslehre von der Tathandlung zum Ich als Idee. Aber histo-risch ist das Ich als Idee das Motiv der ganzen Transzendentalphilosophie. Die Wissen-schaftslehre "soll sein die pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" – nicht eine Nacherzählung, 'wie es gewesen ist', sondern eine Darstellung, aus der man etwas begreift; nämlich einen Sinn.

Die Frage nach dem Sinn stammt (logisch) allerdings aus der Anthropologie. Nicht Anthro-pologie und Humanmedizin bieten Evidenzen für die Richtigkeit der Transzendentalphilo-sophie – richtig in Hinsicht worauf? , sondern die Transzendentalphilosophie gibt der An-thropologie den festen, weil kritisch bereinigten Boden, auf dem sie bauen kann.

Und ehrlich muss ich auch sagen – anders wäre mir die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Transzendentalphilosophie ganz gleichgültig.  

NB. Falls es jemand wissen will: Transzendentalphilosophie und Wissenschaftslehre [und üb-rigens auch Vernunftkritik] bedeuten bei mir dasselbe.

2. November 2013

Sonntag, 28. März 2021

Schweben und übergehen.

                                                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Einbildungskraft setzt überhaupt keine feste Grenze; denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt; nur die Vernunft setzt etwas Festes, dadurch, daß sie erst selbst die Einbil-dungskraft fixiert. Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt. ... Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt: sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch dieses Schweben hervor. _________________________________________________________

J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, S. 217


Man werde ferner finden, wird behauptet, dass man sich im Entwerfen des Begriffs vom Ich nicht tätig setzen könne, ohne diese Tätigkeit als eine durch sich selbst bestimmte, und diese nicht ohne ein Übergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmbarkeit zu setzen, welches Übergehen eben die bemerkte Tätigkeit ist.
______________________________________________________ 
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 43



Die Wissenschaftslehre inventarisiert nicht - man kann es nicht oft genug wiederholen - das fertige Reich der Vernunft mit all seinen Begriffen und erwiesenen Schlussregeln, um sie einer nachträglichen Kritik zu unterziehen; sondern will erhellen, wie es zu Stande gekom-men ist. Zu Stande gekommen ist es aus dem aktiven Vorstellen, welches eine Agilität ist, die sich als Einbildungs- und Urteilkraft zugleich erweist. Den einbildenden Teil nennt Fichte die reale, den urteilenden Teil die ideale Tätigkeit. Die charakteristische Bewegungs-weise der einen ist das Übergehen, die charakteristische Bewegungsweise der andern ist das Schweben.

Schweben und Übergehen sind sozusagen die Meta-Vorstellungen, die der Wissenschafts-lehre zu Grunde liegen. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich; so dass man sich gar nicht entscheiden mag, welche zu welcher gehört.
11. 12. 18



 
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Ist Transzendentalphilosophie Anthropologie?

                                                                                                    aus Philosophierungen

Die Anthropologie sucht, mal empirisch, mal spekulativ, Antworten auf die Fragen: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen – mit andern Worten: Was ist der Mensch? Insofern liegt sie aller Wissenschaft – nicht historisch, sondern logisch-genetisch – zu Grunde. 

Sache der kritischen alias Transzendentalphilosophie ist es, aus den Erörterungen dieser Frage den dialektischen Schein auszuscheiden: die Neigung der Begriffe, sich zu Substan-zialisieren und ein Eigenleben zu führen. Sie ist eine ständige Begleiterin und treibende Kraft der Anthropologie. 

21. 9. 13

 

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Samstag, 27. März 2021

Vom absoluten Ich zur realen Person.

                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das vernünftige Wesen setzt, nach dem oben geführten Beweise, sich als vernünftiges In-dividuum, statt welches Ausdrucks wir uns, von nun an, des der Person bedienen werden, dadurch, dass es sich ausschließend zuschreibt eine Sphäre für seine Freiheit. Sie ist dieje-nige Person, die ausschließend in dieser Sphäre wählt, und keine mögliche andere Person, die in einer anderen Sphäre wähle; so ist keine andere sie selbst, d. h. keine andere kann in dieser nur ihr zugeteilten Sphäre wählen. Dies macht ihren individuellen Charkter aus: Durch diese Bestimmung ist sie derjenige, der sie ist, dieser oder jener, der sich so oder anders nennt.
____________________________________________________________________
J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 56



Nota I. - Das sich selbst-gesetzt habende Ich findet sich schließlich vor als eines in einer Reihe vernünftiger Wesen, die es zur Vernünftigkeit aufgefordert haben. Wie weit immer es sich schon bestimmt habe - jene anderen ver- nünftigen Wesen haben es ebenfalls. Sie sind eines so bestimmt wie jedes andere. Zu Diesem-Einen muss es er- neut sich-selbst-bestim-men. Es unterscheidet sich, indem es sich einen besondern Raum aneignet, in dem nur es selbst die Freiheit hat, unter allen möglichen Zwecken diesen oder jenen zu wählen.

I nnerhalb dieses Raumes muss es sich mit den andren folglich nicht verständigen. Doch wo der Rand seines exklusiven Raums verläuft und wo Räume von Anderen beginnen, versteht sich nicht von selbst. Da wird ein Vertrag nötig werden.

Doch nie vergessen: Hier wird von keiner Geschichte erzählt, die sich zugetragen hat, son-dern die Genesis von Sinnbestimmungen vorgeführt.


14. 12. 18


Nota II. - Ich vergaß, darauf hinzuweisen: In der Wissenschaftslehre* führt der Weg nicht vom empirischen Selbst zum abstrakt-allgemeinen Ich, sondern umgekehrt vom abstrakt-allgemeinen Ich zur wirklichen Person. Der könnte - sollte - ein Ich als Ideal vorschweben. Der Philosoph mag es als Postulat aufstellen, doch wählen kann ein Ich es nur aus Freiheit.
 
wann?
 
*) Der erste, analytische Gang der Transzendentlphilosophie begann bei Kant mit der Vernunft bzw. der intelligiblen Welt und endet bei Fichte beim reinen Wollen. Von da aus rekonstruiert die Wissenschaftslehre in einem zweiten Gang, beginnend bei 'dem' Ich, die Ausbildung der Vernunft zu einer intelligblen Welt, die sie erkennt als eine 'Reihe vernünf-tiger Wesen' - die in ihrer Wirklichkeit besteht aus der Wechselwirkung empirischer Perso-nen.
JE  
 
 
 

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Proprium humanum.

 wasserspiegelung_kl                                      aus Philosophierungen

Die Besonderheit des Menschen ist es nicht, dass für ihn die Dinge neben ihrem Dasein in Raum und Zeit auch noch eine Bedeutung haben – das haben sie für die Tiere auch. 

Sondern dass er beides unterscheiden kann – und so die Bedeutung jenseits von Raum und Zeit und übersinnlich erscheint.

 •Januar 12, 2009 

 

Denn anders ließe sie sich nicht von diesem Ding lösen und einem ganz andern Ding an-heften; ließe sie sich nicht symbolisieren.

19. 9. 13

 

 

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Gabriele Münter und Kandinsky.

Münter mit Fahrrad auf einem Feldweg bei Krachenhausen, nahe Kallmünz, Sommer 1903 aus FAZ.NET, 13. 3. 2021                                  Münter mit Fahrrad auf einem Feldweg bei Krachenhausen, nahe Kallmünz, Sommer 1903

„Ich ließ mich gehen“                                                         zu
Nur die beiden hatten Fahrräder dabei: Die Künstler Gabriele Münter und Wassily Kandinsky suchten auf vielen Reisen den „freien Himmel“. Das hatte auch praktische Gründe. 

Von Brita Sachs

Man schreibt Winter 1901/02, München liegt unter einer dicken Schneedecke. Ein noch unbekannter Wassily Kandinsky nutzt das schöne Licht, um am Englischen Garten das bläulich-weiße Farbspiel in schnellen kleinen Ölstudien einzufangen. Täglich flieht er jetzt das Atelier, wo ihn akademische Zwänge drücken, und geht draußen „mit dem Gefühl eines Jägers im Herzen“ auf Motivjagd. Im Studienmalen in der Natur, so schreibt er später, „ließ ich mich gehen“. Noch kennt er die junge Frau nicht, die es ebenfalls ins Freie und in den Park gelockt hat.

Gabriele Münter fotografiert mit der handlichen Kodak, sie brachte sie von ihrer kürzlich beendeten Amerikareise mit, den schwarzen, von weißen Flächen gesäumten Eisbach; mit geübtem Blick für Bildausschnitte gibt sie durch die Diagonalen schräg wachsender Baumstämme im Vordergrund ihrer Aufnahme Spannung. Das Frühjahr kommt. Münter, die in München Kunst studieren will, aber als Frau keinen Zugang zur Staatlichen Akademie hat, gerät zufällig an Kandinsky, dessen private Malschule Frauen und Männern offensteht. Als ihr neuer Lehrer seine Klasse zum Malsommer nach Kochel lädt, kommt man sich schon deshalb näher, weil nur sie beide Fahrräder dabeihaben und damit oft allein unterwegs sind. Gegenseitig fotografiert man sich: mit kleinen Hütchen munter über Land radelnd, gerüstet mit Staffelei und Malutensilien.

Frühlingserwachen für Berge und Flora gleichermaßen: Gabriele Münters „Baumblüte in Lana“ von 1908
Frühlingserwachen für Berge und Flora gleichermaßen: Gabriele Münters „Baumblüte in Lana“ von 1908

Einen Malsommer später stehen Kandinsky und Münter in Kallmünz traut vereint vor derselben malerischen Gasse mit Tor, die sie mit sichtbar hohem Tempo in Öl skizzieren. Wechselseitig sehen sie einander zu und betrachten dieselben Motive. Münter malt und fotografiert Kandinsky bei der Arbeit auf dem Burgberg; sein Skizzenbuch enthält den Blick hinab auf Städtchen und Brücke, eins ihrer Fotos dieselbe Aussicht. Münter, als Zeichnerin routiniert, als Fotografin ein echter Profi, zeigt nun auch Sicherheit im ungewohnten Umgang mit Öl und Farbigkeit: Die artigen, mit breitem Pinsel dünnflüssig aufgestrichenen Landschaften des Vorjahrs haben spontanen Eindrücken Platz gemacht, die sie mit Tempo per Pallettmesser oder Spachtel und pastoser Farbmasse auf dem Malgrund fixiert.

Wilde Ehe mit einer emanzipierten Frau

Es ist noch mehr geschehen in der Zwischenzeit. Man hat sich verlobt, obgleich Kandinsky noch verheiratet ist und seine Frau in München lebt, was das rege Reiseleben des neuen Paares in den nächsten Jahren motiviert. Denn, so Kandinsky: „Dieser vorlegitime Zustand lässt sich auf Reisen am wenigsten spüren ... Nicht zusammenleben, solange ich nicht frei bin? Warum? Wozu? Wofür? Für die ,Welt‘?“ Man werde eben erst mal „außer der Welt leben“. Zwar war Münter eine vergleichsweise emanzipierte Frau, hinter der eine zweijährige Amerika-Reise lag, die bereits Rad fuhr und dafür den langen Rock gegen ihre „Radlbux“ tauschte, ebenso wie sie statt des gesundheitsschädlichen Schnürkorsetts die lockeren „Reformkleider“ der Künstlerinnen trug – selbstentworfen und bestickt nach Kandinskys Entwürfen. Doch um das für Frauen um 1900 reichlich kompromittierende Leben in „wilder Ehe“ mit einem verheirateten Mann zu führen, war auch Münter das Reisen nur allzu recht – abgesehen von ihrer Neugier auf die Welt und bester Möglichkeit des für beide fruchtbaren Austauschs.

Gabriele Münter: Kandinsky beim Landschaftsmalen, 1903
Gabriele Münter: Kandinsky beim Landschaftsmalen, 1903

Im Münchner Lenbachhaus steht die große und tiefgreifende Neupräsentation seiner dank Gabriele Münters Schenkung einzigartigen und weltweit größten Sammlung zum Blauen Reiter bevor. Mit 1908 wird sie in dem Moment einsetzen, als Kandinsky und Münter in Murnau gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky ihre für die Entwicklung der Avantgarde bedeutende künstlerische Werkphase einleiten. Im Vorlauf nahm man im Lenbachhaus die besagten, bisher in der Kunstwissenschaft nur am Rande mitlaufenden Wanderjahre unter die Lupe. Eine ausgezeichnete Publikation entführt in diesen reisearmen Zeiten auf Touren unter freiem Himmel durch deutsche Lande, nach Holland, nach Frankreich, Österreich, Italien, sogar Tunesien, und sie schürt Vorfreude auf die Wiedereröffnung der zugehörigen Ausstellung.

Die Fülle von Ölskizzen, von Zeichnungen und Fotografien, viele erstmals zu sehen, überrascht mit ungezwungener Vielfalt. Wichtige Jahre des Probierens und Experimentierens tun sich auf und, wie Sara Louisa Henn schreibt, „der Sensibilisierung“. Nirgendwo kommt man künstlerischem Denken näher als in der Skizze. Offenbar wird die Eigenwertigkeit dieser Schaffensperiode, die, vom Impressionismus beeinflusst, Natur- und Lichterscheinungen nachspürt und auf der Suche nach einer zeitgemäßen Ausdrucksform in der Malerei zur gleichen Zeit impressionismusferne Farbgebung auslotet. Zum Beispiel Kandinskys auf dunklen Karton gesetzte „Arabische Reiterei“ mit weißen Turbanen und bunten, fliegenden Tüchern, die der Künstler mit scharfem Hell-Dunkel-Kontrast und leuchtend klaren Farben in mystisch romantisches Flair taucht.


Kandinsky, Arabische Reiter, 1905

Tunesische Altstadt

Bei Münter in den allerdings hier ausgesparten druckgraphischen Arbeiten. Gouachen wie diese entstehen in Tunesien, wo das Paar einen verregneten Winter verbringt, der die Stimmung nicht hebt, aber nicht am unermüdlichen Aufsaugen der fremdartigen Kultur hindert. Münter widmet eine ihrer größten Fotoserien der Altstadt mit ihren Gassen, Bögen und festlichen Bauten; sie zeigt sich fasziniert von den dort wuselnden Kindern, von den Männern und Frauen in ihren weißen Dschellabas oder auch von osmanischen Friedhöfen.

Ein wenig herablassend verweisen die Autoren darauf, dass Kandinsky und seine „Ella“ stets mit dem Baedecker unterm Arm vorgespurte Touristentouren nahmen. Bourgeois hätten sie bequeme Unterkünfte gewählt und die bekannten Postkartenmotive besucht (also architektonische und landschaftliche Highlights). Mit dem kolonialistischen Selbstverständnis des europäischen Touristen hätten sie es versäumt, die Lebensrealität der unter dem französischen Protektorat leidenden Tunesier zu erkennen und es nicht einmal in Holland geschafft, hinter die touristischen Fassaden zu schauen.

Kandinsky, Tunis, 1905

Das ist selbstverständlich aus großer historischer Distanz durch die heutige Brille betrachtet. Die Gegenwart fühlt sich gern der Vergangenheit überlegen und profitiert davon, dass diese sich nicht wehren kann. Kandinsky und Münter reisten weder als Abenteurer noch als Forscher. Jahrzehnte früher verlegte sich der Maler Gustave Guillaumet einigermaßen dramatisch auf das harte Leben in der algerischen Sahara, seine Schilderungen hängen heute im Pariser Musée d’Orsay. „Eurozentrismus“ wird man dem Mann nicht vorwerfen. So wie Gustave Courbets „Steineklopfer“ über jeden Verdacht „stereotypisierter Betrachtungsweise“ erhaben ist oder van Goghs aus dem Mitgefühl für kärgliches Bauernleben geborene „Kartoffelesser“. Aber lassen wir doch Münter und Kandinsky die Freude an ihrer Art des Reisens, die nun mal nicht auf politischen Kommentar oder soziokulturelle Kritik fokussierte. Ihr Ziel, ihre Stärken lagen anderswo, das haben sie der Kunst- und Nachwelt überzeugend bewiesen.

Unter freiem Himmel. Unterwegs mit Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Im Lenbachhaus, München; ab sofort bis zum Januar 2022. Der Katalog in der Edition Lenbachhaus kostet 49,80 Euro.

Nota. - Kandinskys Tunis-Bilder auf dunklem Karton fallen völlig aus dem Rahmen, sie sind routiniert-dekorativ und waren anscheinend für die Kommerzialisierung bestimmt. Seine andern Bilder aus T. sind vielmehr so:

Kandinsky, Die Bucht von Tunis, 1905