Samstag, 27. März 2021

Gabriele Münter und Kandinsky.

Münter mit Fahrrad auf einem Feldweg bei Krachenhausen, nahe Kallmünz, Sommer 1903 aus FAZ.NET, 13. 3. 2021                                  Münter mit Fahrrad auf einem Feldweg bei Krachenhausen, nahe Kallmünz, Sommer 1903

„Ich ließ mich gehen“                                                         zu
Nur die beiden hatten Fahrräder dabei: Die Künstler Gabriele Münter und Wassily Kandinsky suchten auf vielen Reisen den „freien Himmel“. Das hatte auch praktische Gründe. 

Von Brita Sachs

Man schreibt Winter 1901/02, München liegt unter einer dicken Schneedecke. Ein noch unbekannter Wassily Kandinsky nutzt das schöne Licht, um am Englischen Garten das bläulich-weiße Farbspiel in schnellen kleinen Ölstudien einzufangen. Täglich flieht er jetzt das Atelier, wo ihn akademische Zwänge drücken, und geht draußen „mit dem Gefühl eines Jägers im Herzen“ auf Motivjagd. Im Studienmalen in der Natur, so schreibt er später, „ließ ich mich gehen“. Noch kennt er die junge Frau nicht, die es ebenfalls ins Freie und in den Park gelockt hat.

Gabriele Münter fotografiert mit der handlichen Kodak, sie brachte sie von ihrer kürzlich beendeten Amerikareise mit, den schwarzen, von weißen Flächen gesäumten Eisbach; mit geübtem Blick für Bildausschnitte gibt sie durch die Diagonalen schräg wachsender Baumstämme im Vordergrund ihrer Aufnahme Spannung. Das Frühjahr kommt. Münter, die in München Kunst studieren will, aber als Frau keinen Zugang zur Staatlichen Akademie hat, gerät zufällig an Kandinsky, dessen private Malschule Frauen und Männern offensteht. Als ihr neuer Lehrer seine Klasse zum Malsommer nach Kochel lädt, kommt man sich schon deshalb näher, weil nur sie beide Fahrräder dabeihaben und damit oft allein unterwegs sind. Gegenseitig fotografiert man sich: mit kleinen Hütchen munter über Land radelnd, gerüstet mit Staffelei und Malutensilien.

Frühlingserwachen für Berge und Flora gleichermaßen: Gabriele Münters „Baumblüte in Lana“ von 1908
Frühlingserwachen für Berge und Flora gleichermaßen: Gabriele Münters „Baumblüte in Lana“ von 1908

Einen Malsommer später stehen Kandinsky und Münter in Kallmünz traut vereint vor derselben malerischen Gasse mit Tor, die sie mit sichtbar hohem Tempo in Öl skizzieren. Wechselseitig sehen sie einander zu und betrachten dieselben Motive. Münter malt und fotografiert Kandinsky bei der Arbeit auf dem Burgberg; sein Skizzenbuch enthält den Blick hinab auf Städtchen und Brücke, eins ihrer Fotos dieselbe Aussicht. Münter, als Zeichnerin routiniert, als Fotografin ein echter Profi, zeigt nun auch Sicherheit im ungewohnten Umgang mit Öl und Farbigkeit: Die artigen, mit breitem Pinsel dünnflüssig aufgestrichenen Landschaften des Vorjahrs haben spontanen Eindrücken Platz gemacht, die sie mit Tempo per Pallettmesser oder Spachtel und pastoser Farbmasse auf dem Malgrund fixiert.

Wilde Ehe mit einer emanzipierten Frau

Es ist noch mehr geschehen in der Zwischenzeit. Man hat sich verlobt, obgleich Kandinsky noch verheiratet ist und seine Frau in München lebt, was das rege Reiseleben des neuen Paares in den nächsten Jahren motiviert. Denn, so Kandinsky: „Dieser vorlegitime Zustand lässt sich auf Reisen am wenigsten spüren ... Nicht zusammenleben, solange ich nicht frei bin? Warum? Wozu? Wofür? Für die ,Welt‘?“ Man werde eben erst mal „außer der Welt leben“. Zwar war Münter eine vergleichsweise emanzipierte Frau, hinter der eine zweijährige Amerika-Reise lag, die bereits Rad fuhr und dafür den langen Rock gegen ihre „Radlbux“ tauschte, ebenso wie sie statt des gesundheitsschädlichen Schnürkorsetts die lockeren „Reformkleider“ der Künstlerinnen trug – selbstentworfen und bestickt nach Kandinskys Entwürfen. Doch um das für Frauen um 1900 reichlich kompromittierende Leben in „wilder Ehe“ mit einem verheirateten Mann zu führen, war auch Münter das Reisen nur allzu recht – abgesehen von ihrer Neugier auf die Welt und bester Möglichkeit des für beide fruchtbaren Austauschs.

Gabriele Münter: Kandinsky beim Landschaftsmalen, 1903
Gabriele Münter: Kandinsky beim Landschaftsmalen, 1903

Im Münchner Lenbachhaus steht die große und tiefgreifende Neupräsentation seiner dank Gabriele Münters Schenkung einzigartigen und weltweit größten Sammlung zum Blauen Reiter bevor. Mit 1908 wird sie in dem Moment einsetzen, als Kandinsky und Münter in Murnau gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky ihre für die Entwicklung der Avantgarde bedeutende künstlerische Werkphase einleiten. Im Vorlauf nahm man im Lenbachhaus die besagten, bisher in der Kunstwissenschaft nur am Rande mitlaufenden Wanderjahre unter die Lupe. Eine ausgezeichnete Publikation entführt in diesen reisearmen Zeiten auf Touren unter freiem Himmel durch deutsche Lande, nach Holland, nach Frankreich, Österreich, Italien, sogar Tunesien, und sie schürt Vorfreude auf die Wiedereröffnung der zugehörigen Ausstellung.

Die Fülle von Ölskizzen, von Zeichnungen und Fotografien, viele erstmals zu sehen, überrascht mit ungezwungener Vielfalt. Wichtige Jahre des Probierens und Experimentierens tun sich auf und, wie Sara Louisa Henn schreibt, „der Sensibilisierung“. Nirgendwo kommt man künstlerischem Denken näher als in der Skizze. Offenbar wird die Eigenwertigkeit dieser Schaffensperiode, die, vom Impressionismus beeinflusst, Natur- und Lichterscheinungen nachspürt und auf der Suche nach einer zeitgemäßen Ausdrucksform in der Malerei zur gleichen Zeit impressionismusferne Farbgebung auslotet. Zum Beispiel Kandinskys auf dunklen Karton gesetzte „Arabische Reiterei“ mit weißen Turbanen und bunten, fliegenden Tüchern, die der Künstler mit scharfem Hell-Dunkel-Kontrast und leuchtend klaren Farben in mystisch romantisches Flair taucht.


Kandinsky, Arabische Reiter, 1905

Tunesische Altstadt

Bei Münter in den allerdings hier ausgesparten druckgraphischen Arbeiten. Gouachen wie diese entstehen in Tunesien, wo das Paar einen verregneten Winter verbringt, der die Stimmung nicht hebt, aber nicht am unermüdlichen Aufsaugen der fremdartigen Kultur hindert. Münter widmet eine ihrer größten Fotoserien der Altstadt mit ihren Gassen, Bögen und festlichen Bauten; sie zeigt sich fasziniert von den dort wuselnden Kindern, von den Männern und Frauen in ihren weißen Dschellabas oder auch von osmanischen Friedhöfen.

Ein wenig herablassend verweisen die Autoren darauf, dass Kandinsky und seine „Ella“ stets mit dem Baedecker unterm Arm vorgespurte Touristentouren nahmen. Bourgeois hätten sie bequeme Unterkünfte gewählt und die bekannten Postkartenmotive besucht (also architektonische und landschaftliche Highlights). Mit dem kolonialistischen Selbstverständnis des europäischen Touristen hätten sie es versäumt, die Lebensrealität der unter dem französischen Protektorat leidenden Tunesier zu erkennen und es nicht einmal in Holland geschafft, hinter die touristischen Fassaden zu schauen.

Kandinsky, Tunis, 1905

Das ist selbstverständlich aus großer historischer Distanz durch die heutige Brille betrachtet. Die Gegenwart fühlt sich gern der Vergangenheit überlegen und profitiert davon, dass diese sich nicht wehren kann. Kandinsky und Münter reisten weder als Abenteurer noch als Forscher. Jahrzehnte früher verlegte sich der Maler Gustave Guillaumet einigermaßen dramatisch auf das harte Leben in der algerischen Sahara, seine Schilderungen hängen heute im Pariser Musée d’Orsay. „Eurozentrismus“ wird man dem Mann nicht vorwerfen. So wie Gustave Courbets „Steineklopfer“ über jeden Verdacht „stereotypisierter Betrachtungsweise“ erhaben ist oder van Goghs aus dem Mitgefühl für kärgliches Bauernleben geborene „Kartoffelesser“. Aber lassen wir doch Münter und Kandinsky die Freude an ihrer Art des Reisens, die nun mal nicht auf politischen Kommentar oder soziokulturelle Kritik fokussierte. Ihr Ziel, ihre Stärken lagen anderswo, das haben sie der Kunst- und Nachwelt überzeugend bewiesen.

Unter freiem Himmel. Unterwegs mit Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Im Lenbachhaus, München; ab sofort bis zum Januar 2022. Der Katalog in der Edition Lenbachhaus kostet 49,80 Euro.

Nota. - Kandinskys Tunis-Bilder auf dunklem Karton fallen völlig aus dem Rahmen, sie sind routiniert-dekorativ und waren anscheinend für die Kommerzialisierung bestimmt. Seine andern Bilder aus T. sind vielmehr so:

Kandinsky, Die Bucht von Tunis, 1905

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