Dienstag, 16. Februar 2021

Reflektieren kann jeder.

                                                                     

Unser Denken spiegelt nicht die Welt, sondern unser Tun. Sofern wir uns 'Dinge' denken, meinen wir das, was wir mit ihnen tun, und das, was wir mit ihnen nicht tun können.

Tun können wir – "wenn sonst alles erledigt ist" – auch das bloße Anschauen; das Betrach-ten der Dinge, ohne mit ihnen etwas tun zu wollen - außer eben: betrachten. Das ist das wahre Mysterium des Denkens, alles andere ist trivial. Reflektieren kann jeder. Betrachten muss man können.

aus e. Notizbuch, Spätherbst 2010
 
 
 
Spiegeln ist nicht das rechte Wort. Abbilden ist besser - sofern man darunter nicht einfach nachbilden, sondern ebensowohl vorbilden oder eben - ein bilden versteht; in dem Sinne nämlich, dass das Bestimmen als dieses ebenso ein Bilden ist, wie das Tunwollen selbst: Es ist ein und dasselbe. 
 
Wobei man wohl die Bestimmtheit als dieses in der Vorstellung festhalten kann, nicht aber das Tun: Das kann man nur anschauen während des Aktes. Weshalb in der Reflexion immer nur tote Begriffe zurückbleiben und das tätige Moment untergeht.
 
Das absichtliche Anschauen ist ein künstliches Anschauen, eines zweiten Grades: es ge-schieht im ästhetischen Zustand, wo ich aufs Reflektieren willkürlich verzichte. 




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

"Es kann noch Jahrhunderte dauern, bis wir unser Erbgut verstehen."


aus spektrum.de, 15.02.2021
20 Jahre Humangenomprojekt
»Verstanden haben wir unser Erbgut noch lange nicht«
Vor 20 Jahren entschlüsselten Forscher das menschliche Erbgut. »Das hat die Basis für die Humanbiologie geliefert«, sagt Hans Lehrach, damals Sprecher des Deutschen Humangenomprojekts. Im Interview spricht er über Erwartungen, Erfolge und besonders unerwartete Erkenntnisse.


Interview von Frank Schubert

Das Humangenomprojekt war ein internationales Forschungsvorhaben, das 1990 mit dem Ziel startete, das Erbgut des Menschen vollständig zu entschlüsseln. Hunderte Wissenschaftler in dutzenden Ländern nahmen teil, 1995 stieß auch Deutschland hinzu. Ab 1998 bekamen sie Konkurrenz von der US-Firma Celera, die der amerikanische Genomforscher John Craig Venter mitgegründet hatte. Im Februar 2001 veröffentlichten beide Unternehmungen unabhängig voneinander einen ersten Entwurf der menschlichen Genomsequenz. Die Medien berichteten groß darüber. 2003 verkündeten die beteiligten Forscher den Abschluss der Arbeiten im Rahmen der angelegten Maßstäbe.

Herr Professor Lehrach, was hat die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gebracht? Haben wir unser Erbgut verstanden?

Sie hat die Basis für die gesamte Humanbiologie geliefert. Der geschätzte kommerzielle Gewinn des Projekts liegt hunderte Male höher als seine Kosten. Wir können jetzt einzelne Personen so genau untersuchen, dass wir mehr über ihre individuelle Biologie wissen, als zuvor über die Biologie des Menschen insgesamt bekannt war. Patienten personalisiert zu behandeln, was ja unser Ziel sein sollte, liegt in greifbarer Nähe. Aber verstanden, so wie man etwa ein Computerprogramm begreift, haben wir unser Genom noch lange nicht. Wie aus Erbinformation ein Organismus hervorgeht, ist von der Evolution bestimmt und nicht von irgendwelchen logischen Regeln, nach denen wir Programme schreiben würden. Daher war klar, dass wir das menschliche Genom nicht gleich komplett verstehen würden. Es kann noch Jahrhunderte dauern, bis wir so weit sind.

Hans Lehrach

Hans Lehrach, geboren 1946 in Wien, ist studierter Chemiker. Nach Forschungsaufenthalten an der Harvard University, am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie und beim Imperial Cancer Research Fund in London kam er 1994 als Direktor ans Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. 1997 bis 2001 arbeitete er als Sprecher des Deutschen Humangenomprojekts. Zahlreiche weitere Stationen folgten. Lehrach war Mitherausgeber mehrerer molekularbiologisch/genetischer Fachzeitschriften.

Was waren die Erwartungen an das Humangenomprojekt, als es 1990 startete?

Wir wollten mehr über den Organismus und die Biologie an sich erfahren, und das ist gelungen. Wir wollten herausfinden, welche Gene es gibt und welche Funktionen sie ausüben. Und wir wollten Werkzeuge bekommen, um bestimmte Gene leichter zu finden – etwa Anlagen für Erbkrankheiten. Auch das ist eingetreten. Einige Leute hegen naive Vorstellungen davon, wie Biologie funktioniert. Die waren vielleicht enttäuscht davon, dass das Humangenomprojekt nicht das Buch des Lebens komplett offengelegt hat. Aber das ist nicht die Schuld des Projekts, sondern der falschen Erwartungen daran.

Die technischen Möglichkeiten, um DNA-Moleküle zu sequenzieren und die anfallenden Daten zu verarbeiten, sind heute besser als damals. Um wie viel?

Ungefähr eine Million mal besser. Die Daten zu generieren, hat seinerzeit einige hundert Millionen Dollar gekostet, und das ganze Humangenomprojekt schätzungsweise dreieinhalb Milliarden. Jetzt nähern wir uns Kosten von 100 Dollar, um ein menschliches Genom zu sequenzieren. Und die Preise fallen weiter. Streng genommen ist der Fortschritt sogar noch größer, weil bereits während des laufenden Projekts die Sequenzierkosten um etwa den Faktor zehn sanken.

»Hätten wir versucht, das menschliche Genom mit dem Standardansatz zu sequenzieren, hätten wir das 50-Fache ausgegeben und wären immer noch nicht fertig«

Am Humangenomprojekt nahmen Forscher in dutzenden Ländern teil. Deutschland kam erst 1995 dazu. Warum so spät?

Das ist ein Lehrbeispiel dafür, wieso die Ziele der Wissenschaft nicht nur von Wissenschaftlern vorgegeben werden sollten. Das Humangenomprojekt war bei einigen der führenden deutschen Forscher nicht sehr beliebt. Zum Glück hat das Bundesforschungsministerium gemeinsam mit den Wissenschaftsorganisationen die deutsche Teilnahme durchgesetzt. Selbst noch, als dies schon fast beschlossen war, haben manche Spitzenforscher ans Ministerium geschrieben, Genomsequenzierung sei im Grunde eine stupide Arbeit und man solle sich lieber auf andere Dinge konzentrieren. Und falls man aus politischen Gründen unbedingt teilnehmen wolle, könne man doch ein amerikanisches Sequenzierzentrum dafür bezahlen, die Arbeit zu machen. Es war erstaunlich.

Gab es diese Debatte nur in der Bundesrepublik?

Das Projekt war nicht nur in Deutschland umstritten, sondern auch international. Viele Wissenschaftler hatten natürlich Angst, die Budgets für ihre eigenen Arbeiten könnten schrumpfen, wenn so ein Großprojekt finanziert wird.

Das Humangenomprojekt setzte von Anfang an auf internationale Zusammenarbeit. Warum war das wichtig?

Die Sequenzdaten des menschlichen Genoms sind eine unglaublich ergiebige Ressource für Wissenschaftler weltweit. Und es sollten ganz bewusst möglichst viele Forscher davon profitieren, weshalb es bedeutsam war, die Daten unmittelbar für alle freizugeben. Das sollte auch den Widerstand reduzieren, den es in der Scientific Community gegen das Vorhaben gab. Die Leute konnten aus den Ergebnissen enorm viel für ihre eigene Forschung ziehen. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn es einen Wettbewerb darum gegeben hätte und sie nicht frei zugänglich gemacht worden wären. Dann hätte alles viel länger gedauert.

Die Daten gemeinschaftlich offenzulegen und zu teilen, war ein Grundanliegen des Projekts. Hat das funktioniert?

Sehr gut sogar. Es gab natürlich einige Probleme, so bestand seitens des Forschungsministeriums die Überlegung, Daten zu patentieren, um die Unterstützung von Industrieunternehmen zu gewinnen. Das war am Ende wegen der gemeinschaftlichen Vereinbarungen nicht möglich. Die so genannten Bermuda-Prinzipien hatten 1996 festgeschrieben, dass alle Sequenzierzentren ihre Daten binnen 24 Stunden online frei zugänglich veröffentlichen müssen.

Hat dieser Ansatz Schule gemacht?

Es gibt heute jede Menge globale Forschungsvorhaben, die nach diesem Prinzip funktionieren. Das hat sich enorm bewährt. Das Standardvorgehen in der Wissenschaft – jeder betreibt hypothesengetriebene Forschung mit einem kleinen Mitarbeiterteam – ist vielen Herausforderungen, denen wir begegnen müssen, nicht angemessen. Die Wissenschaft bietet die besten Methoden, um drängende Gesellschafts- und Menschheitsprobleme zu lösen. Aber wir müssen dafür auch passende Strukturen schaffen und uns nicht einfach nach den Vorlieben der Scientific Community richten.

Wir sind bei vielen Vorhaben besser dran, wenn wir Daten systematisch, gemeinschaftlich und standardisiert gewinnen und anschließend über Datenbanken allen zugänglich machen. Hätten wir versucht, das menschliche Genom mit dem Standardansatz zu sequenzieren, also hypothesengetrieben, in kleinen Gruppen und Gen für Gen, hätten wir das 50-Fache ausgegeben und wären immer noch nicht fertig.

»Am meisten überraschte uns, dass der Mensch nicht mehr Gene besitzt als beispielsweise die Maus«
1998 gründete der US-Genomforscher John Craig Venter das Unternehmen Celera, um dem Humangenomprojekt Konkurrenz zu machen. Wieso?

Vermutlich spielte die Überlegung mit, dank des Wettbewerbs die Sequenziermaschinen besser zu verkaufen. Und das hat funktioniert, ob es nun geplant war oder nicht. Venter nutzte damals ein umstrittenes Verfahren, die Schrotschuss-Methode. Dabei wird die menschliche DNA automatisiert in kleine Stücke zerlegt und ausgelesen. Anschließend setzt man die vielen Einzelsequenzen mit immensem Rechenaufwand wieder zusammen. Ich kann bis heute nicht ganz ermessen, wie sehr Venter dabei vom Humangenomprojekt profitiert hat. Unser Projekt arbeitete regionen- und chromosomenspezifisch; wir kartierten erst das Genom und sequenzierten dann gezielt DNA-Abschnitte, die den kartierten Bereichen entsprachen. Das erleichterte es, Abschnitte mit vielen Sequenzwiederholungen der jeweils richtigen Region im Erbgut zuzuordnen. Ging man hingegen nur über die Schrotschuss-Methode, war diese Zuordnung ziemlich schwierig. Celera hatte – wie alle anderen auch – Zugang zu den Daten des Humangenomprojekts und damit auf die Kartierung, was ihnen wahrscheinlich sehr genutzt hat. Das öffentliche Projekt hatte aber keinen Zugang zu den Celera-Daten. Insofern war der Wettbewerb zwischen ihnen und uns kein echtes Rennen.

War Venters Schrotschuss-Methode damals neu?


Nein, sie war schon zuvor genutzt worden, nur auf kleineren Einheiten des Genoms, damit man Abschnitte mit vielen Sequenzwiederholungen regional zuordnen konnte. Neu bei Venter war, die Methode auf das Gesamtgenom anzuwenden. Zusammen mit den Daten aus dem öffentlichen Projekt konnte er seine ermittelten Sequenzen lokalisieren. Ohne die Daten hätte ihn das wahrscheinlich deutlich mehr Zeit gekostet.

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Die ersten Entwürfe des Humangenoms wurden im Februar 2001 veröffentlicht. Das waren aber nicht die vollständigen Sequenzen?


Die komplette Sequenzierung hat viel länger gedauert. Heute liegen vollständige Sequenzen menschlicher Chromosomen vor, lückenlos von einem Ende zum anderen. Dafür sind jedoch Sequenziertechniken nötig, die es zur Zeit des Humangenomprojekts nicht gab. Man konnte damals die wichtigsten Regionen mit den meisten Genen entschlüsseln, aber zahlreiche Abschnitte mit Sequenzwiederholungen ließen sich nicht genau zuordnen. Andere ließen sich gar nicht sequenzieren.

Von wie vielen Menschen stammten die Daten dieser Entwürfe? Wie gut bildeten sie die genetische Vielfalt der Menschheit ab?

Sie stammten von nur wenigen Menschen. Aber es folgte relativ bald das internationale 1000-Genome-Projekt, das Erbgutdaten von 2500 Menschen lieferte und somit deutlich repräsentativer war. Derzeit laufen Genomprojekte in vielen Ländern und an vielen Populationen; in China beispielsweise sollen eine Million Genome sequenziert werden.

Welche Erkenntnisse aus dem Humangenomprojekt waren besonders unerwartet?


Am meisten überraschte uns, dass der Mensch nicht mehr Gene besitzt als Organismen, die deutlich weniger komplex sind, beispielsweise Mäuse. Vor dem Projekt hatte die Mehrheit vermutet, dass wir vielleicht 100 000 Gene in uns tragen. Dann gingen die Schätzungen langsam runter, und schließlich stellte sich heraus, dass es nur rund 20 000 sind.

Klar wurde auch: Die Genome zweier verschiedener Menschen unterscheiden sich um weniger als 0,1 Prozent. Hat Sie das ebenso erstaunt?

Nein. Wir wussten schon vorher, dass sogar der Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse relativ klein ist; das hatten bereits weniger leistungsfähige Methoden gezeigt.

War die Vorstellung von menschlichen Rassen mit der Genomforschung erledigt?

Diese Vorstellung war von Anfang an idiotisch. Die Sequenzdaten zeigten dann, dass die genetischen Unterschiede innerhalb einer Population weit größer sind als die Unterschiede zwischen Populationen. Daher ist der Rasse-Begriff für den Menschen völlig sinnlos. Das Humangenomprojekt hat sicher dazu beigetragen, das endgültig klarzustellen.

»Wir denken zu sehr vom Standpunkt eines Ingenieurs, der funktionslose Komponenten vermeiden würde. Die Natur hat damit überhaupt keine Probleme«

Der größte Teil des menschlichen Erbguts sah zunächst nach Müll aus: Überreste von Viren, die sich eigennützig verhalten; funktionslos gewordene Gene; Introns; endlose Sequenzwiederholungen. Was weiß man heute über diese so genannte Junk-DNA?

Zweifellos besteht unsere DNA weitgehend aus Sequenzen, die auf den ersten Blick nutzlos sind und, wenn überhaupt, dann vor allem darin gut, sich selbst zu vermehren. Oft bekommen solche Abschnitte aber im Zuge der Evolution eine Aufgabe. So sind die Telomere, die Schutzkappen an den Enden unserer Chromosomen, ursprünglich wohl funktionslose Überbleibsel von Viren gewesen. In der Biologie wird alles verwertet, was vorhanden ist, solange das einen evolutionären Vorteil bringt. Wir sollten deshalb nicht vorschnell von Müll sprechen. Ich glaube, wir denken zu sehr vom Standpunkt eines Ingenieurs, der natürlich vermeiden würde, irgendwelche Komponenten in ein Auto zu stecken, die keine Funktion erfüllen. Die Natur hat damit überhaupt keine Probleme.

Es ist kein Nachteil für uns, ein Erbgut herumzuschleppen, das großteils funktionslos ist?

Fliegende Organismen haben ein relativ kleines Genom. Das der Vögel etwa ist nur ein Drittel so groß wie das von Säugetieren; Fledermäuse wiederum haben ein rund halb so großes wie andere Säuger. Jede Körperzelle enthält das gesamte Genom, und dessen Gewicht müssen die Tiere mit sich tragen. Ein kleineres Erbgut macht das Fliegen etwas leichter. Zwar ist der Vorteil minimal, doch das reicht offenbar schon, dass die Evolution größere Sequenzabschnitte entfernt hat. Auch in der Maus lässt sich ein erheblicher Teil des Genoms herausnehmen, ohne dass das Erscheinungsbild der Tiere erkennbar leidet. Jedenfalls gilt das in einer Laborumgebung; ob die Nager in freier Wildbahn schlechter überleben würden, können wir nur schwer prüfen. Wir Menschen erheben uns nicht in die Lüfte und profitieren anscheinend nicht von einem leichteren Genom.

Eine häufige Kritik lautet, Untersuchungen des menschlichen Erbguts würden überproportional oft an Menschen europäischer Abstammung erfolgen. Stimmt das?

Wie gesagt, in China sollen nun eine Million Genome sequenziert werden. Natürlich: Solange viele von den wohlhabenden Ländern, die sich Genomprojekte leisten können, hauptsächlich Bewohner europäischer Abstammung haben, entsteht hier eine Verzerrung. Schon allein dadurch, dass die genetische Diversität in afrikanischen Populationen deutlich größer ist als in europäischen. Aber es laufen jetzt ganz gezielt Projekte an, die auch bislang unterrepräsentierte Populationen erfassen.

Das Problem erledigt sich also von selbst?


Einerseits. Andererseits ist das ein ganz generelles Phänomen. In klinischen Studien erscheinen Weiße oft überrepräsentiert, da Pharmafirmen ihre Medikamente vor allem für Populationen entwickeln, die dafür bezahlen können. Folglich werden zahlreiche Arzneistoffe überwiegend an solchen Probanden getestet. Zudem schließen klinische Studien typischerweise viel mehr Männer ein als Frauen. Auch da entsteht eine Verzerrung.

Das Humangenomprojekt ist abgeschlossen. Wie geht es weiter?

Wir arbeiten zum Beispiel intensiv daran, bei Patienten sowohl das Genom als auch das Transkriptom zu analysieren, also die Summe aller Erbanlagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von der DNA-Sequenz in eine RNA umgeschrieben worden sind. Damit wollen wir eine echte Personalisierung der Behandlung erreichen. Das ist besonders in der Krebsmedizin wichtig. Denn jeder Tumor ist anders, und sogar die Zellen innerhalb eines Tumors unterscheiden sich. Zudem unterscheiden sich die Patienten in ihrem Stoffwechsel, in ihrem Mikrobiom, in ihrem Immunsystem und in vielem mehr. Wir müssen eine Behandlung finden, die darauf Rücksicht nimmt und sich sowohl am Patienten als auch an dessen Tumor ausrichtet.

Wie wichtig sind dabei Computermodelle?

Je mehr wir über einzelne Patienten wissen, umso genauer können wir vorhersagen, welche Medikamente bei ihnen wirken werden, wie genau sie wirken, was für Nebenwirkungen auftreten werden und so weiter. Wenn ein angehender Pilot einen Flugsimulator zum Absturz bringt, ist das nicht so dramatisch, als wenn ihm das später mit einer voll besetzten Verkehrsmaschine passiert. Deshalb trainieren Flugschüler an Simulatoren. Leider sind wir in der Medizin noch nicht so weit, dass wir Arzneistofftherapien an Computermodellen von individuellen Patienten testen, bevor wir sie in echt anwenden. Das führt mitunter zu dramatischen Problemen, so sterben jährlich schätzungsweise 200 000 Menschen in Europa an unerwarteten Medikamentenwirkungen. Hier wird sich hoffentlich viel verbessern – auch mit Hilfe von Genomdaten.

Individuelle Genomsequenzierung wird künftig also zur Routine, und es kommt die personalisierte Medizin?

Ich hoffe, die genaue Untersuchung des Genoms und Transkriptoms gehören schon bald zum Standard bei Tumorpatienten. Zusätzliche Informationen können neue Methoden wie die Einzelzell-Sequenzierung oder die ortsaufgelöste Analyse des Proteoms, der Gesamtheit aller Proteine, liefern. Das würde nicht zuletzt helfen, Geld zu sparen. Derzeit entsteht ein beträchtlicher Teil der Gesundheitskosten dadurch, dass wir für Medikamente zahlen, die bei ihren Empfängern nicht wirken, und dass wir unerwartete Nebenwirkungen behandeln müssen.

Das Interesse an Genomdaten ist groß, nicht nur bei Forschern, auch bei Krankenversicherern oder Arbeitgebern. Besteht das Risiko einer genomischen Überwachung?

Ich sehe Genomdaten vor allem als Mittel, um schwere Krankheiten besser behandeln zu können. Meiner Meinung nach wäre es nicht besonders klug, Menschen informationell intakt zu begraben, jedoch zuvor nicht in der Lage gewesen zu sein, sie optimal zu behandeln. Es gibt natürlich Datenschutzrisiken, aber die lassen sich durch Gesetzgebung regeln. Das US-Bundesgesetz Obamacare hat den Krankenversicherern verboten, Patienten wegen Vorerkrankungen abzulehnen. Genauso gut kann man Versicherern untersagen, genetische Daten für Prämienberechnungen heranzuziehen. Ein Staat, der Ladenschlusszeiten gesetzlich regelt, hat ohne Weiteres die Mittel, solche Probleme legal zu lösen. Wir müssen nicht darauf verzichten, Patienten individuell und somit besser zu behandeln, nur damit Versicherer nicht etwas tun, wovon der Gesetzgeber sie ohnehin abhalten kann.


Montag, 15. Februar 2021

Vorstellen und begreifen.

ruhrnachrichten               aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
 

Die ganze Wissenschaftslehre steht unter dem doppelten Vorzeichen, dass erstens Begriffe ohne Anschauung leer und zweitens Anschauungen ohne Begriffe blind sind.

Fichte will nun nicht aus (von wem?) vorgegebenen Begriffen ein System konstruieren, son-dern uns veranlassen, in der Vorstellung fortschreitend vom Bestimmbaren zum Bestimm-ten überzugehen: Das Bestimmte ist ein Begriff, nur was bestimmt wurde, kann begriffen werden; doch ohne Anschauung - das Bestimmbare - ist nichts da, was zu bestimmen wäre.

Die ganze Wissenschaftslehre ist ein ewiges (sic) Hin und Her zwischen beiden Polen. Es soll aus einer Vorstellung die daraus folgende entwickelt werden, doch dazu muss sie erst bestimmt und begriffen werden; nun wird die zum Begriff bestimmte Vostellung fortbe-stimmt: durch Entgegensetzen. Und so ins Unendliche fort. Und auf jeder Etappe bleibt ein toter Begriff zurück als das Bild von der lebendigen Vorstellung, die in ihm gefasst wurde. 

30. 4. 17


Die Wissenschaftslehre muss, wie jede Rede, diskursiv verfahren, weil wir Menschen nun eben in der Zeit leben. Das macht ihre Darstellung unvermeidlich schief. Sie will zeigen, dass, um zu dieser Vorstellung zu kommen, ich mir jene Vorstellung zuvor schon gemacht haben muss. Was als eine logische Dependenz gemeint ist, wird erzählt wie eine zeitliche Folge. 

Die Wissenschaftslehre ist jedoch ein Modell, ein Schema, in dem alles zugleich geschieht. Ganz irreführend, jedoch kaum vermeidbar ist die Vorstellung von einer wirklichen, leben-digen Intelligenz, die sich erst dieses, dann jenes vorstellt. Dann sähe es so aus, als ob beim Fortschreiten des Vorstellens und Bestimmens etappenweise immer mal wieder Begriffe ab-fallen, in denen einzelne Vorstellungsakte isoliert und eingefroren wurden, die dann... im Fortgang des vorstellenden Bestimmung zu gar nichts weiter gebraucht wurden.

Tatsächlich ist aber das System der sich wechselseitig bestimenden Begriffe nichts anderes als das, was im Verkehr der Reihe vernünftiger Wesen zu einer intelligiblen Welt gebildet wird. Und dies allerdings - in der Zeit. In der Zeit bleiben vom tätigen Vorstellen nur die Gedächtnisspuren im Speicher. Von dort können sie aufgerufen werden als die mehr oder minder vollständigen und mehr oder minder anschaulichen Erinnerungen an die einmal le-bendig vorgestellten Bilder. Kein Wunder, dass es in der Reihe vernünftiger Wesen immer wieder Streit über ihre Genauigkeit gibt.

Man kann dann in den Büchern nachschlagen, wie die Alten die Begriffe verwendet haben, oder heute bei Google. Man kann sich in zuverlässiger Runde einstweilen auf diesen oder jenen Gebrauch einigen. Wo die Kritik allerdings radikal sein will, wird sie zu den Vorstel-lungen selbst zurückgehen müssen.
 
17. 6. 19 
 
 
...
 

Musikalische Stimmung.

W. Busch
aus spektrum.de, 2. 2. 2021                                                                                                                  zu Geschmackssachen

von Stefan Kölsch

... Musik kann unsere Gefühle und Gedanken unmittelbar beeinflussen. In einer Studie stellten wir fest, dass Personen eher glaubten, in einem Lotteriespiel zu gewinnen, wenn sie vorher fröhliche Melodien gehört hatten. Dieser Optimismus verdrängt sogar die natürliche Neigung, vom Negativen auszugehen. Musik beeinflusst auch, wie hell oder dunkel wir Farben wahrnehmen. Heitere Klänge lassen Flächen oft heller erscheinen. Vielleicht hängt die frühe Prägung des Musikgeschmacks damit zusammen, dass Pubertierende auf Grund des Umbaus in ihrem Gehirn Emotionen besonders intensiv erleben. Das neuronale Beloh-nungssystem wird in dieser Zeit durch den Botenstoff Dopamin stark aktiviert. Viele Her-anwachsende suchen in der Musik zudem Trost oder Ablenkung. Die Stücke, die ihnen in dieser schwierigen Zeit geholfen haben, lösen dann im späteren Leben ebenfalls gute Gefühle aus.

Man kann in jedem Alter neue Präferenzen ausbilden. Ich zum Beispiel konnte lange Zeit mit dem Komponisten Gustav Mahler nichts anfangen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich Zugang zu seiner teilweise dissonanten Musik gefunden habe ...

 

Neuronen für den Alarmzustand.

                                    zuJochen Ebmeiers Realien  

aus derStandard.at, 13. Februar 2021

Gehirnzellen für unbewusste Reaktionen auf Gefahren entdeckt
Spezielle Neuronen, die von Kalzium reguliert werden, kontrollieren Bewegungskommandos, mit denen Individuen einer Bedrohung ausweichen

Wien – Gefahren wahrzunehmen und schnell darauf zu reagieren ist für jedes Individuum überlebenswichtig. Daher passiert dies unbewusst durch Nervenzellen unter der Hirnrinde. Ein Forscherteam mit österreichischer Beteiligung fand nun spezielle Gehirnzellen, die Bewegungskommandos kontrollieren, mit denen das Individuum einer Bedrohung ausweichen kann. Diese werden durch Kalzium-Ionen (Ca2+) reguliert, berichten sie im Fachjournal "Pnas".

Jene Gehirnzellen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Eiweißstoff namens "Secretagogin" besitzen, so die Forscher um Alán Alpár von der Semmelweis Universität Budapest (Ungarn). Er misst die Konzentrationen von Kalzium am Ende der Verbindung von zwei Nervenzellen (Synapse).

Regulation und Abwehr

Das sei ungewöhnlich, denn normalerweise befinden sich Kalzium-Sensoren am Anfang der Synapse, schrieb das Team, zu dem auch Zsofia Hevesi und Tibor Harkany vom Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien gehören. Secretagogin kennzeichnet nicht nur diese speziellen Gehirnzellen für die Gefahrenabwehr, es reguliert auch die Maschinerie am Ende der Synapsen, die stimulierende Signale weiterleitet, erklären sie.

Die betreffende Zellpopulation sowie ihre Funktion wurden von den Forschern schon zuvor in Tiermodellen identifiziert. Gleichzeitig wurde mit Unterstützung durch Proben des Human Brain Tissue Bank unter der Leitung von Miklós Palkovits von der Semmelweis-Universität festgestellt, dass in der Amygdala, einer paarweise angeordneten Kernregion des Gehirns, Zellen mit den gleichen neurochemischen Eigenschaften an der selben Stelle gefunden werden können.

Ansatzpunkt für Therapien

"Funktionelle Studien wurden noch nicht am Menschen durchgeführt. Da jedoch ein kritischer molekularer Ansatzpunkt identifiziert wurde, könnte diese Zellgruppe auf lange Sicht sogar als Ziel medizinischer Wirkstoffe dienen", sagte Alpár. (red, APA)

JE

Sonntag, 14. Februar 2021

Absehen und finden.

Moulin, Objet trouvé à Pompéi                            

Wie ist das nun mit dem Finden und der Absicht? Wenn ich nicht auf irgendwas absähe, würde ich nie etwas finden: Fichte hat das ursprüngliche Wollen des Menschen an den Anfang der Wissenschaftslehre gesetzt. Was immer Eingang ins Bewusstsein findet - das Absehen ist die Bedingung. 

So sagt der Transzendentalphilosoph, doch sobald er das Katheder verlässt, ist er Realist wie alle andern: Die Menschen wären nie aufs Absehen verfallen, wenn sie nicht tatsächlich Etwas gefunden hätten; etwas, das ihnen fremd, also unbestimmt war und zum Bestimmen herausforderte. 

Es ist immer alles dasselbe, das wiederholt er oft genug; aber eben immer wieder von der nächsthöheren Stufe aus betrachtet.

14. 6. 17


Das realgeschichtliche Spezifikum: Der Mensch lebt nicht mit seiner Umwelt im Einklang. Er hat den Urwald verlassen, in dem er zuhause war, und ist in die ihm fremde Savanne ausgebrochen. Eine neue Wachheit gegen das unbekannte Feld, in dem er sich bewegt - nomadisch - ist das mental substanziell Neue, das ihn gegen die andern Tiere auszeichnet und von dem eine rationelle Anthtropologie auszugehen hat.

Nach der Wissenschaftslehre ist das erste, elementar Wirkliche für den Menschen das Ge-fühl. Im Fühlen ist er rein leidend. Indem er aber sein Gefühl anschaut und sogleich in sei-ner Bedeutung für ihn bestimmt, wird das Leiden in Tätigkeit aufgenommen - und so fängt alles an.

Fängt die Ausbildung der Vernunft an, nämlich unter den Menschen. Unter den Tieren nicht. Warum? Sie haben kein Bedürfnis, das Leiden in eigene Tätigigkeit aufzunehmen.

Ist das eine Erklärung?

Nein, es ist eigentlich das, was der Anthropologe zu erklären hätte; siehe oben. 

Die Wissenschaftslehre setzt es dagegen voraus: indem sie das Gefühl, durch das die Dinge sich dem Menschen kundtun, auffasst als den Widerstand, den sie seinem primären Tätig-sein entgegensetzen. 

Dies ist wahr: Wann immer wir wirklich etwas tun, stoßen wir auf die Dinge der Sinnenwelt und erleiden ein Gefühl. Doch nicht immer, wenn wir etwas fühlen, haben wir - willentlich, versteht sich - etwas getan, das ist gar nicht wahr. Lassen wir diese Feinheit als vernachläs-sigbar beiseite?

Für den Mediziner wäre das ohne Sinn, aber die Transzendentalphilosophie entwirft nicht das Bild des Ganzen Menschen, sondern will die Vernunft aus ihrem Entwicklungsgang verstehen. Sie beachtet nicht Alles, sondern all das, was in ihre Entwicklung eingeht. Das sind nicht die Halsschmerzen beim Schnupfen, sondern die Erfahrungen, die ich - mache. Es wird nicht gesagt: Alle Gefühle werden angeschaut und bestimmt, weil sie ursprünglich von der Tätigkeit des Subjekts verursacht wurden, und werden zu Erfahrungen fortbe-stimmt; sondern: Zu Erfahrungen werden solche Gefühle, die das Subjekt anschaut und bestimmt, weil sie ihm als Resultat seiner eigenen ursprünglichen Tätigkeit widerfahren, und aus den Erfahrungen wird die Vernunft.

Das bestimmen- und Erfahrungen-machen-Wollen ist vorausgesetzt. Der Transzendental-philosophie reicht aus, dass sie es offenkundig voraussetzen darf. Woher es kommt und warum sie es darf, muss und kann sie nicht selber klären. Das ist Sache der historischen Realwissenschaften.
JE, 28. 5. 19

 

 

 

Kanadische Malerei vor hundert Jahren.

Tom Thomson malte seine Ölskizze Abandoned Logs im Jahr 1915. aus FAZ.NET, 13. 2. 2021                                      Tom Thomson, Abandoned Logs ,1915.                                      zu Geschmackssachen

Kanadische Malerei 
Lebt hier denn wirklich keiner?
Mythen und Nation: Die Ausstellung „Magnetic North“ versammelt in Frankfurts Schirn kanadische Bilder des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Am 8. August 1917 setzte sich der Maler Tom Thomson in sein Kanu und ruderte auf einen See im Naturreservat Algonquin Park in Ontario hinaus, den Canoe Lake. Wenig später wurde sein Boot gesichtet, mit dem Kiel nach oben im Wasser treibend. Von Thomson fehlte acht Tage lang jede Spur. Dann fand man seinen Leichnam im See, mit kleinen Verletzungen, die später das Gerücht nährten, er sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Dass der in der Wildnis überaus erfahrene Thomson, der als Brandwächter und Guide gearbeitet hatte und die Umgebung bestens kannte, einfach verunglückt war, wollte man nicht glauben. Vielleicht, weil es so unglaublich klingt, dass ein Zufall, womöglich eine Unachtsamkeit auf dem Wasser eine der vielversprechendsten Malerkarrieren der kanadischen Kunstgeschichte so schlagartig zerstörte.

Immerhin hatte Thomson die 39 Lebensjahre, die ihm vergönnt waren, mit großem Fleiß genutzt. Er hinterließ an die fünfzig ausgeführte Ölbilder und etwa 400 Ölskizzen, von denen viele in seiner kanadischen Heimat mittlerweile als Klassiker gelten und in Reproduktionen omnipräsent sind – etwa „The West Wind“ (1916/1917), das für seine Verhältnisse ungewöhnliche flächige Bild einer Kiefer am steinigen Ufer eines Sees, in dem es zu brodeln scheint, ebenso wie in der aufgerissenen Wolkendecke am Himmel.

Kanadische Ikone: Tom Thomsons „The West Wind“
Kanadische Ikone: Tom Thomsons „The West Wind“

Dem Westwind, der beides bewirkt und darin in diesem Bild auch sichtbar wird, stemmt sich die schlanke Kiefer beinahe elegant entgegen, und diese Konstellation, Naturgewalt und geschmeidiger Widerstand, begegnet auf einigen Bildern und Skizzen Thomsons, der als Kanufahrer wußte, wie man Naturgewalten ausnutzt.

Die Ausstellung „Magnetic North-Mythos Kanada in der Malerei 1910-1940“, die in Frankfurts Schirn bereits vollständig hängt, enthält über dreißig Arbeiten Thomsons. Eigentlich ist sie Teil des Begleitprogramms zum kanadischen Gastlandauftritt der Frankfurter Buchmesse, der wegen Corona vom letzten in diesen Herbst verschoben werden musste. Dass nun auch die Ausstellung wegen der Epidemie zunächst nicht zu sehen ist – lediglich virtuell sind bislang einzelne Exponate und ein Begleitprogramm zu erleben –, zeigt noch einmal, welchen Verlust an Kulturerfahrung uns die Situation einträgt, und wie viel geplantes Zusammenspiel dadurch ins Leere läuft. Denn der Mythos, der durch die von Martina Weinhart kuratierte Ausstellung dargestellt und zugleich dekonstruiert werden soll, nämlich – vereinfacht gesagt – der von dem wilden, menschenleeren Land, das die europäischen Einwanderer in Besitz genommen hätten, als gäbe es dort keine indigenen Völker, dieser Mythos wird inzwischen genau so in Büchern für junge Leser und Erwachsene dekonstruiert, die, gefördert durch das gut ausgestattete Übersetzungsförderungsprogramm des Gastlands, 2020 auf deutsch erschienen sind (F.A.Z. vom 10. Oktober 2020) und weiterhin erscheinen werden.

Wenn man nicht aufpasst, fliegen die Bäume davon: Emily Carrs „Trees in the Sky“ von 1939
Wenn man nicht aufpasst, fliegen die Bäume davon: Emily Carrs „Trees in the Sky“ von 1939

Zum Beispiel „Klee Wyck – die, die lacht“ von Emily Carr (Verlag das kulturelle Gedächtnis), ein Band mit Geschichten, die zumeist von Mitgliedern der First Nations an der kanadischen Westküste handeln. Carr, die eigentlich als Malerin bekannt wurde, ist in der Ausstellung der Schirn eine eigene Abteilung gewidmet, die ihr literarisches Schaffen spiegelt. Ihre Bilder aus Siedlungen wie Blunden Harbour in British Columbia, gemalt um 1930, zeigen mit wuchtigen Linien dargestellte Holzskulpturen der First Nations vor leergefegten Hintergründen, in denen die kantigen Formen der Gesichter dem Untergang dieser Welt zu trotzen scheinen. Denn dass sie eine bis ins Mark erschütterte und bedrohte Gemeinschaft besuchte, wusste Carr natürlich, und gleich drei Filme, entstanden im Abstand von mehreren Jahrzehnten, werden in der Ausstellung in offenen Kabinen gezeigt, um davon zu berichten und dem einflussreichen Mythos vom menschenleeren Land eine andere Perspektive entgegenzuhalten. Am eindrucksvollsten von ihnen ist der Dokumentarfilm „How a People live“ von Lisa Jackson, der eine heutige Dorfgemeinschaft, deren einstige Mitglieder 1964 gewaltsam umgesiedelt worden waren und die sich nun mit dem Boot aufmachen, die alte Stelle wieder zu besuchen.

Die Filme beantworten die Frage, was denn nun eigentlich mit den Menschen sei, die sich beim Betrachten der Bilder immer dringender stellt. Dabei geraten deren Spuren durchaus in den Blick, vor allem in zwei Abteilungen dieser insgesamt etwas über hundert Bilder umfassenden Ausstellung, die sich dem Holzeinschlag und der industrialisierten Landschaft widmen. Das einzige Porträt der Ausstellung, Edwin Holgates „The Lumberjack“ von 1924, zeigt einen Flößer mit verschattetem Gesicht, dem die mächtige Stange in seinen Händen und die Holzstämme im Hintergrund beinahe die Schau stehlen. Wie der Mensch die Landschaft formt, wird besonders deutlich in zwei Bildern Franklin Carmichaels aus den Jahren 1928 und 1930, in der sich die glatten Hänge der Abraumhalden mit ihrer Struktur in den Wolken zu spiegeln scheinen. Oder in „Miner’s Houses, Glace Bay“ von Lawren Harris (um 1925), das die Häuser der Minenarbeiter wie Grabsteine in einer nackten Hügellandschaft aufreiht.

In der Wildnis: J. E. H. MacDonald malte „The Beaver Dam“ 1919.
In der Wildnis: J. E. H. MacDonald malte „The Beaver Dam“ 1919.

Dass kein einheitlicher Stil die Mitglieder der 1920 gegründeten, legendären Malervereinigung „Group of Seven“ verbindet, wird rasch deutlich. Aber auch, dass die meisten von ihnen sich von dem in Kanada besonders fruchtbaren und 2019 in München ausgestellten Spätimpressionismus (F.A.Z. vom 12. August 2019) zugunsten von unterschiedlichen Graden der Abstraktion abwenden.

Ob Tom Thomson, der mit einigen der späteren Gruppenmitgliedern befreundet war, da mitgemacht hätte? Dass sein Werk von den hier ausgestellten, später entstandenen Bildern der anderen Maler durch Modernität erdrückt würde, kann man nicht sagen. Im Gegenteil, allein die zwanzig Ölskizzen, die für diese Ausstellung von ihren bisherigen Rahmen befreit und in schlichtes Holz gefasst worden sind, wirken in der Verbindung von Akkuratesse und Spielfreude derart lebendig, dass man von der ihnen gewidmeten Abteilung der Ausstellung kaum loskommt. Thomson erlebt die Landschaft durch alle Jahreszeiten und Witterungen, er nimmt den Wald, die Gewässer, die Himmelsfarben und den Lichteinfall wach auf, um ihnen seine eigene Handschrift zu verleihen. Er stellt die Birken filigran auf den Waldboden, als könnten sie gleich davonwehen, feiert den nächtlichen Widerschein zweier Elche im glitzernden Wasserlauf und schickt prächtig düstere Wolkenfetzen übers Land. Und am Ende der Ausstellung, vor Thomsons sinnenverwirrenden Nordlichtern, trauert man um jeden Tag, an dem diese so weit gereisten Ikonen kanadischer Kunst hinter verschlossenen Türen auf die Besucher warten müssen.

Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910-1940. Schirn, Frankfurt, bis 16. Mai. Der Katalog kostet im Museum 35 Euro, im Buchhandel 49 Euro.