F. X. Messerschmidt zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Nämlich in allen
Menschen entstehen Vorstellungen nur durch Gefühle und durch die
schaffende Einbildungkraft. Unter diesen Gefühlen aber ist ein großer
Unterschied. - Einige beziehen sich nur auf das animalische sinnliche
Leben des Menschen usw., andere auf sein höheres geistiges Leben, auf
seine Vorstellungen pp, die er freilich nur glaubt, aus Gründen, die
sich sogleich zeigen werden.
Zur Erhebnung aller [Gefühle - sinnlicher und geistiger]
z. B. gehört Selbsttäigkeit. - Kein geistiges We-sen ist in irgend einer
seiner Verrichtungen bloß leidend, oder es ist kein geistiges Wesen.
Alle Hypothesen und alle Philosophen, die so etwas voraussetzen,
verstehen sich selbst nicht, oder sie stehen in dem größten Widerspruche
mit sich selbst: Sie erweisen und räson-nieren, dass sie garnicht
räsonnieren können. -
Ein Wesen kann nicht
geistig und körperlich zugleich sein; was einmal und in einer einzigen
Handlung sich bloß leidend verhält, verhält sich durch gän-/gig bloß leidend. Aber bei den ersten [=den sinnlichen Gefühlen] bekommt die Selbsttätigkeit eine Veranlassung unmittelbar [sic]
von außen, sie steht unter der Bedingung von etwas, das dem Ich
entgegengesetzt wird (denn es versteht sich, dass ich nicht von etwas
Äußern und Innern an sich und unabhängig von uns-rer Vorstellung reden
kann; wie könnte ich davon reden, ohne es vorzustellen?)
Zur Erhebung der letzten [der geistigen]
Gefühle bekommt sie den Trieb gar nicht mittelbar von außen, sondern
sehr unmittelbar, und die Bestimmung der Einbildungskraft ist ganz durch
absolute Freiheit von innen. - Es ist nicht ein Gefühl von irgend einem
Anstoße von außen, sondern von unsrer eignen Handlungsweise auf diesen
Anstoß. - Von unserm Handeln, un-serm eignen Sein unter der Bedingung ...
überhaupt gar nicht auf unser Leiden, sondern auf unser Handeln
beziehen sie sich.
Kein Mensch ist an sich ohne Handeln, kein Mensch könnte
es sein. - Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen, darinnen liegt
der Grund seines ganzen Seins - und alles Vorstellen gründet sich auf
Handeln. In Jedem also liegen die Gefühle des Handelns da.
Aber es ist zugleich
wahr, dass unter den Menschen, wie sie gegenwärtg sind, nur die
wenig-sten sich zum Bewusstsein dieses Ihres Handelns, zum Handeln auf
dieses Handeln selbst erheben. Auf Handeln selber aber kann nur durch
absolute Freiheit gehandelt werden. Eini-ge Menschen aber sind nicht
frei.
Es sind alle
Bedingungen der Freiheit da: die Gefühle sind da, die Kraft ist da, aber
nicht die Anwendung, und so leben wir wie ganz verschiedne
Menschenklassen; nicht der Anlage nach, aber der Wirklichkeit nach.
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie; Eerster Entwurf" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 130f.
Nota I. - 'Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen': Zuerst einmal handelt es sich bei den Prolegomena samt und sonders um anthropologische Voraussetzungen des
Gesamt-systems der Wissenschaftlehre; sie werden an dieser Stelle
postuliert, und wenn alles gut geht, werden sie im Verlauf der Arbeit am
System rückwirkend 'bestätigt'. Doch nicht in jedem Punkt: Die
Unterscheidung zwischen sinnlichen und 'geistigen' Gefühlen wird im Verlauf verwendet - das erweist ihre Brauchbarkeit; aber begründet wird sie dadurch eben nicht.
Immerhin wird hier in
den Vorbemerkungen aber deutlich, woher sie stammt. Der Obersatz lautet,
Gefühle kämen nur durch Handeln zustande. Es gibt reales und geistiges
Handeln, "folglich" erzeuge das geistige Handeln ebenso Gefühle wie des
reale. 'Folglich' ist garnichts daran. Mein wirkliches Handeln = Handeln in der Wirklichkeit ist stets vermittelt durch den artikulierten Teil meines Leibes.
Das Gefühl meldet sich 'folglich' im Leib, wer kennte das nicht! - Dass
er das 'Gefühl', beim Denken dieser oder jener Sache "nicht anders zu
kön-nen", als so und so zu verfahren; wenn er also das Erlebnis des "Denkzwangs" ebenfalls ein Gefühl nennt, ist eine Analogie und kein Begriff.
Nota II. - Da
steht nicht: Alle Gefühle gehen auf Handlungen zurück, und daraus
entstehen Vorstellungen. So hat er's vielleicht gemeint, aber
geschrieben hat er doch nur: Vorstellun-gen entstehen aus Gefühlen, die
auf Handlungen zurückgehen. Wenn mich eine Wespe sticht, fühle ich das, aber wenn ich Glück habe, kann ich es ignorieren.
28. 6. 17
Nota III. - Das ist der einzige logisch wirklich wunde Punkt der ganzen Wissenschaftslehre. Fichte hat später einmal geschrieben, er wolle 'gar nichts bewiesen haben', wenn man in nur einem einzigen Punkt seiner Herleitung einen Fehler nachweisen könnte. Dieser Punkt wäre dafür ein Kandidat. Bei der sinnlichen Erfahrung haben wir als Vermittler zwischen Gefühl und Anschauung = gleich Reflexion auf der untersten Stufe das ganze System der Sensibili-tät. Bei der Denkerfahrung haben wir nichts und niemand, der oder das vermittelt. Sie ist nackt und bloß. Wer sagt, er habe sie nicht, dem stehe ich hilflos gegenüber, und wenn er außerdem behauptet, er habe es ergebnislos versucht, muss ich die Segel streichen.
Da bin ich am Ende mit meinem Latein. Doch auf gut Deutsch könnte ich sagen: Bewiesen ist es nicht, aber es ist plausibel; und solange mir nichts demonstriert wurde, das plausibler wäre, halte ich mich pragmatisch dar an. Denken ist handeln. Manchmal finde ich: So geht es nicht, und wenn ich mich auf den Kopf stelle. Warum? Kann ich nicht sagen. Doch das kann ich bei sinnlichen Unmöglichkeiten schon gar nicht sagen.
JE
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