Freitag, 11. Dezember 2020

Sinnliche und intellektuale Gefühle: leiden und handeln.

F. X. Messerschmidt                      zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik  

Nämlich in allen Menschen entstehen Vorstellungen nur durch Gefühle und durch die schaffende Einbildungkraft. Unter diesen Gefühlen aber ist ein großer Unterschied. - Einige beziehen sich nur auf das animalische sinnliche Leben des Menschen usw., andere auf sein höheres geistiges Leben, auf seine Vorstellungen pp, die er freilich nur glaubt, aus Gründen, die sich sogleich zeigen werden.

Zur Erhebnung aller [Gefühle - sinnlicher und geistiger] z. B. gehört Selbsttäigkeit. - Kein geistiges We-sen ist in irgend einer seiner Verrichtungen bloß leidend, oder es ist kein geistiges Wesen. Alle Hypothesen und alle Philosophen, die so etwas voraussetzen, verstehen sich selbst nicht, oder sie stehen in dem größten Widerspruche mit sich selbst: Sie erweisen und räson-nieren, dass sie garnicht räsonnieren können. - 

Ein Wesen kann nicht geistig und körperlich zugleich sein; was einmal und in einer einzigen Handlung sich bloß leidend verhält, verhält sich durch gän-/gig bloß leidend. Aber bei den ersten [=den sinnlichen Gefühlen] bekommt die Selbsttätigkeit eine Veranlassung unmittelbar [sic] von außen, sie steht unter der Bedingung von etwas, das dem Ich entgegengesetzt wird (denn es versteht sich, dass ich nicht von etwas Äußern und Innern an sich und unabhängig von uns-rer Vorstellung reden kann; wie könnte ich davon reden, ohne es vorzustellen?)

Zur Erhebung der letzten [der geistigen] Gefühle bekommt sie den Trieb gar nicht mittelbar von außen, sondern sehr unmittelbar, und die Bestimmung der Einbildungskraft ist ganz durch absolute Freiheit von innen. - Es ist nicht ein Gefühl von irgend einem Anstoße von außen, sondern von unsrer eignen Handlungsweise auf diesen Anstoß. - Von unserm Handeln, un-serm eignen Sein unter der Bedingung ... überhaupt gar nicht auf unser Leiden, sondern auf unser Handeln beziehen sie sich.

Kein Mensch ist an sich ohne Handeln, kein Mensch könnte es sein. - Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen, darinnen liegt der Grund seines ganzen Seins - und alles Vorstellen gründet sich auf Handeln. In Jedem also liegen die Gefühle des Handelns da. 

Aber es ist zugleich wahr, dass unter den Menschen, wie sie gegenwärtg sind, nur die wenig-sten sich zum Bewusstsein dieses Ihres Handelns, zum Handeln auf dieses Handeln selbst erheben. Auf Handeln selber aber kann nur durch absolute Freiheit gehandelt werden. Eini-ge Menschen aber sind nicht frei.

Es sind alle Bedingungen der Freiheit da: die Gefühle sind da, die Kraft ist da, aber nicht die Anwendung, und so leben wir wie ganz verschiedne Menschenklassen; nicht der Anlage nach, aber der Wirklichkeit nach.
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 J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie; Eerster Entwurf" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 130f. 



Nota I. -
'Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen': Zuerst einmal handelt es sich bei den Prolegomena samt und sonders um anthropologische Voraussetzungen des Gesamt-systems der Wissenschaftlehre; sie werden an dieser Stelle postuliert, und wenn alles gut geht, werden sie im Verlauf der Arbeit am System rückwirkend 'bestätigt'. Doch nicht in jedem Punkt: Die Unterscheidung zwischen sinnlichen und 'geistigen' Gefühlen wird im Verlauf verwendet - das erweist ihre Brauchbarkeit; aber begründet wird sie dadurch eben nicht.

Immerhin wird hier in den Vorbemerkungen aber deutlich, woher sie stammt. Der Obersatz lautet, Gefühle kämen nur durch Handeln zustande. Es gibt reales und geistiges Handeln, "folglich" erzeuge das geistige Handeln ebenso Gefühle wie des reale. 'Folglich' ist garnichts daran. Mein wirkliches Handeln = Handeln in der Wirklichkeit ist stets vermittelt durch den artikulierten Teil meines Leibes. Das Gefühl meldet sich 'folglich' im Leib, wer kennte das nicht! - Dass er das 'Gefühl', beim Denken dieser oder jener Sache "nicht anders zu kön-nen", als so und so zu verfahren; wenn er also das Erlebnis des "Denkzwangs" ebenfalls ein Gefühl nennt, ist eine Analogie und kein Begriff.

Nota II. - Da steht nicht: Alle Gefühle gehen auf Handlungen zurück, und daraus entstehen Vorstellungen. So hat er's vielleicht gemeint, aber geschrieben hat er doch nur: Vorstellun-gen entstehen aus Gefühlen, die auf Handlungen zurückgehen. Wenn mich eine Wespe sticht, fühle ich das, aber wenn ich Glück habe, kann ich es ignorieren.
28. 6. 17 

Nota III. - Das ist der einzige logisch wirklich wunde Punkt der ganzen Wissenschaftslehre. Fichte hat später einmal geschrieben, er wolle 'gar nichts bewiesen haben', wenn man in nur einem einzigen Punkt seiner Herleitung einen Fehler nachweisen könnte. Dieser Punkt wäre dafür ein Kandidat. Bei der sinnlichen Erfahrung haben wir als Vermittler zwischen Gefühl und Anschauung = gleich Reflexion auf der untersten Stufe das ganze System der Sensibili-tät. Bei der Denkerfahrung haben wir nichts und niemand, der oder das vermittelt. Sie ist nackt und bloß. Wer sagt, er habe sie nicht, dem stehe ich hilflos gegenüber, und wenn er außerdem behauptet, er habe es ergebnislos versucht, muss ich die Segel streichen.

Da bin ich am Ende mit meinem Latein. Doch auf gut Deutsch könnte ich sagen: Bewiesen ist es nicht, aber es ist plausibel; und solange mir nichts demonstriert wurde, das plausibler wäre, halte ich mich pragmatisch dar an. Denken ist handeln. Manchmal finde ich: So geht es nicht, und wenn ich mich auf den Kopf stelle. Warum? Kann ich nicht sagen. Doch das kann ich bei sinnlichen Unmöglichkeiten schon gar nicht sagen.

JE

 

 

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