Mittwoch, 26. Februar 2020

"Verweilen".

C. D. Friedrich
aus nzz.ch, 26.02.2020                                                                                                                                 zu Geschmackssachen

Selbstbestimmt Leben heisst auch – Verweilen. 
Doch dafür glaubt niemand mehr Zeit zu haben
Wann sind wir ganz bei uns? Vielleicht, wenn wir ein Bild betrachten und alles um uns herum vergessen. Das ist keine Flucht, im Gegenteil: Es ist bewusstes Leben.

von Wolfgang Hellmich

Das ist fein: ein Buch über etwas, was wir mögen, aber kaum noch tun – vielleicht auch gar nicht mehr können: verweilen. Das Wort klingt wie aus einer vergangenen Zeit. Wer hat vor lauter Beschäftigung noch Zeit, die Zeit einfach verstreichen zu lassen, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, ohne Ziel, ohne Anspruch? Verweilen, schreibt Dirk Westerkamp, der Philosophieprofessor an der Universität Kiel, sei «die Zeit, die Zeit hat», weil das Verweilen «ihre Herrschaft vergisst». Das klingt nach Adorno. Aus der «Ästhetischen Theorie» zitiert Westerkamp auch: «Widerstand gegen das Mitspielen». Ein Spielverderber ist er allerdings nicht. Beschäftigung, Produktivität, Verpflichtungen – all das muss sein. Trotzdem könnte etwas mehr Zeit sein: zum Verweilen.

In dem Zitat von der «Zeit, die Zeit hat», ist der Aspekt des «Vergessens» interessant. Der Verweilende vergisst, was um ihn herum geschieht, gibt sich einem Eindruck hin, vielleicht einem Kunstwerk, einem schönen Gegenstand oder einem Geschehen. Verweilen ist Loslassen, Abkehr von dem Einem und Hinwendung zu einem Anderen. Man kann auch vor einem Küchenschrank verweilen. Oder vor einem Bücherregal, sofern der Anblick kein Gefühl der Unruhe auslöst, weil ein Grossteil der Bücher noch ungelesen ist. 

Nichtwahrnehmen

Verweilen nennt der Philosoph aus dem hohen Norden Deutschlands auch «beobachtungsvergessenes Besinnen». Man schaut durch die Dinge, durch Personen hindurch. Verweilen ist Nichtwahrnehmen. Käseglocke. Gedanken nachhängen. In seinem neuen Roman «Das Gewicht der Worte» schildert Pascal Mercier das Ende eines Theaterstücks. Der Vorhang fällt. Man möchte verweilen, sich den Eindrücken hingeben. Aber das Publikum – es applaudiert. Einige stehen auf, um ja die Ersten an der Garderobe zu sein.

Verweilen, um sich hinzugeben – darum geht es Westerkamp. Verweilen ruft neue Bilder hervor. Wenn es kein Verweilen gibt, lassen sich keine neuen Gedanken ausmalen. Die Phantasie trocknet aus. Westerkamp schreibt übers Verweilen im Imperfekt. «Das moderne Zeitmanagement sucht alle Lücken im Tagesablauf und Terminkalender zu stopfen.» Der Primat der Arbeit «kolonialisiert» die Kontemplation. Ein wenig zieht er sich selbst den Boden unter den Füssen weg. Denn er behauptet: Das Vermögen zum Verweilen ist den Menschen überhaupt abhandengekommen, wie wir auch «die schönen Momente im Konzert kaum noch irreflexiv erfahren, sondern abfilmen, um sie für eine spätere Nachschau festzuhalten».

Flächen, Formen, Schattierungen

Die kulturkritischen Stellen sind Hinweise, worauf Westerkamps Theorie der Imagination, der Kontemplation, der «radikalen Einbildungskraft» zielt. Am Beispiel der modernen, ungegenständlichen Kunst zeigt er, wie der Impuls zum Verweilen aktiviert wird. Es ist ein bestimmtes Zusammenspiel von Farben und Formen, von Flächen und deren Schattierungen, das besonders zum Verweilen einlädt.

Er führt Werke von Mondrian und Kandinsky, von Malewitsch oder Rothko an. Damit ist nicht gesagt, dass gegenständliche Kunst die Sinne nicht auch zum Verweilen verführen könnte. Aber die abstrakte Kunst scheint doch besser geeignet zu sein. Weil sie nicht dazu verleitet, beobachten und erkennen zu wollen. Weil sie etwas zeigt, was nicht bereits gegeben ist.

Genau das weckt unsere Einbildungskraft. Und schafft damit einen der Orte und Gelegenheiten, die dazu angetan sind, dem alltäglichen Trott zu entfliehen, sich zu besinnen, Neues zu entdecken. Verweilen, das ist die Botschaft dieses Buchs, das zum lesenden Verweilen verführt, kann dazu beitragen, ein bewusstes und selbstbestimmtes Leben zu führen.

Dirk Westerkamp: Ästhetisches Verweilen. Mohr Siebeck, Tübingen 2019. 173 S., Fr. 79.90.


Nota. - In seinem "ästhetischen Zustand" sei der Mensch gleich Null, sagte Schiller. Denn wenn er sich in einen Gegenstand versenkt, hört er auf, sich ihm entgegen zu setzen - oder sonst ein Verhältnis zu ihm ein- zugehen. Er geht in dem, was er 'ohne Interesse' betrachtet, unter, er verliert sich. 

Das hat erst was zu sagen in einem Leben, das sich im Normalfall ununterbrochen selber reflektiert. Kurz gesagt, in einem bürgerlichen, geschäftigen Leben, in einem Alltag als Marktsubjekt. 

Ob es Kunst 'immer gegeben' habe, mag eine Haarspalterei sein. Aber sie hat nicht immer dieselbe Bedeu- tung gehabt. Wie sich die Kunst selbst verändert hat, kommt hier erst an zweiter Stelle. Der Platz des Ästhe- tischen hat sich verändert. Welche Verstrickungen mit dem geschäftigen Leben die Kunst auch immer ein- gegangen war, blieb sie doch immer an ein ästhetisches, nämlich geschmackliches Substrat gebunden. Und mit dem Überhandnehmen der reflektierenden Geschäftigkeit tritt es ihr als das interesselose Ungeschäftige entgegen. Semantisch wäre es schief, aber bildhaft ganz treffend aus gedrückt: So ist die Kunst "erst auf ihren Begriff gekommen".

Es ist aber auch die Epoche, in der Zeit knapp wurde - so grundsätzlich knapp, dass sie zum allgemeinen Wertmaß werden konnte. Je dringender dem Individuum das Bedrüfnis wurde, als Kontrapunkt zur Alltags- konkurrenz immer wiedermal von Identität und Verhältnis auszusehen, um so seltener, umso kostbarer wur- den die Gelegenheiten dazu. Und umgekehrt proportional: je knapper die Zeit, umso stärker das Bedürfnis. Die es ich am ehesten noch leistenkonnten, legten am wenigsten Wert darauf; erst die ganz Reichen konnten sich den "ästtetischen Zustand" dann wieder leisten. Er wurde nun zum Standesmerkmal so, wie es vordem die kunststilistische Bildung gewesen war.

Und damit zum Autor: Mit "der Moderne" wurde der Künstler zum Avantgardisten - und das erlesene Pub- likum zum Connoisseur. Anders hätte es eine ungegenständliche Kunst nie geben können. Denn da das Be- dürfnis nach kontrapunktischer Irreflexibilität ein allgemeines wurde, geschieht seine Bedienung nun ihrer- seits durch - den Markt. Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen braucht einen sättigenden Kuchen als Grund- lage; damit es erlesen Kunst geben kann, muss es zuvor Massenkunst geben. 

Von Kitsch rede ich hier nicht, der gilt nicht als Kunst, sondern als Industrieware. Damit sich oben - gottlob nur vorübergehend - eine ungegenständliche Kunst kritallisieren konnte, musste sich an der Basis ein Kunst- gegenstand finden, der streng genommen kein Gegenstand mehr war, weil er zu den nützlichen Geschäften in keinem Verhältnis steht. Das war die Landschaft. Es konnte nicht anders sein, als dass die Ungegenständlich- keit aus der Ausbreitung der Landschaftmalerei erwuchs - von den Impressionisten über Les Fauves bis Mondrian und Klee. 

Indes hat die Ungegenständlichkeit die Malerei - wenigstens das Tafelbild - an den Rand des Untergangs geführt. Unter den verzweifelten Rettungsversuchen nehmen Rückgriffe auf die Landschaft einen breiten Raum ein. Sie haben nur leider einen organischen Hang zu Manier und Kitsch, dem nur wenige widerstehen. Dass sie das kompromittiert, ist nicht zu übersehen.
JE


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