Samstag, 30. November 2019

Das Reich der Freiheit beginnt, wo die Arbeit aufhört.

Mattheuer, Die Flucht des Sisyphus, 1972                                                      aus Marxiana

Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit ständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt also nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und bloße Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt der Natur der Sache nach jenseits der eigentlichen materiellen Produktion.

Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformationen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Ent-wicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse [sich erweitern]; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. 

Die Freiheit in diesem Gebiete kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinsame Kontrolle bringen, statt von ihnen als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollzieht. Aber es bleibt immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist ihre Grundbedingung.

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Karl Marx. Das Kapital III, MEW Bd. 25, S. 826

 



Qualität hat keine Form.

                                                            aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Verhältnis des Mannigfaltigen zu einander nennt man die Form.
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J. G. Fichte, Grundlage der Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW III, S. 60


Nota. Die Überschrift ist eine Schlussfolgerung aus dem Zitat. Nur Verhältnismäßiges hat eine Form. Verhält- nismäßigkeit alias Relation ist der Gegensatz zu Qualität, Washeit - nicht Quantität; die ist selber nur eine Rela- tion. Qualitäten als solche verhalten sich zu nichts. 

Als solche wahrgenommen werden Qualitäten freilich im Verhältnis zu andern Qualitäten. So wird süß süßer im Vergleich mit salzig. Relativ süßer.

Relation ist Form, Qualität ist Stoff.
(Was ich allerdings als einen Stoff ansehe im Unterschied zu seiner Form, ist relativ. Denn ein Verhältnis haben sie ja nur durch mich.)
JE






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog>

Sich lächerlich machen.

Ducreux                                                                       zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Wer nicht sehenden Auges riskiert, sich lächerlich zu machen, ist für die Wissenschaft verloren.
Er macht wie die blinde Henne höchstens zufällig mal einen Fund.






Das Märchen vom Pay gap.

Unter gleichen Bedingungen verdienen Frauen durchschnittlich zwei Prozent weniger als Männer.  
aus FAZ.NET, 18. 3. 2019                                                                                                                            

Warum Frauen so wenig verdienen
Unter gleichen Bedingungen verdienen Frauen durchschnittlich zwei Prozent weniger als Männer.

Von Patrick Bernau (Text) Jens Giesel (Grafik)*

Frauen werden in der Arbeitswelt diskriminiert – so heißt es oft. Doch die wichtigeren Gründe für die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen liegen im Privatleben.

Wie es an diesem Montag in Deutschland klingt, das kann jeder schon auswendig. „Frauen werden unfair bezahlt“, wird es dann heißen. Denn an diesem Montag ist „Equal Pay Day“, also der Tag, bis zu dem Frauen unentgeltlich gearbeitet haben, während die Männer schon seit dem ersten Tag des Jahres ordentlich verdienen. So wird die amtliche Statistik allgemein interpretiert.

Keine Frage: Frauen bekommen weniger. Im Durchschnitt verdienen Frauen 17,09 Euro je Stunde, Männer 21,60 Euro. Woran das liegt, dazu gibt es eine Geschichte, die immer wieder erzählt wird und die Frauen eine Opferrolle zuweist. Sie geht in etwa so: Die Chefs in den Unternehmen sind meistens Männer. Die wissen die Arbeit der Frauen nicht zu schätzen, auch weil die oft so bescheiden auftreten. Also bekommen die Frauen weniger Gehalt. Hat nicht erst ein Fall bei der Investmentbank UBS gezeigt, dass arbeitende Mütter jahrelang weniger Bonus bekamen?

Das führt dazu, dass die Frauen weniger Geld in die Familie einbringen als der Mann. Also müssen sie sich zu Hause um die Kinder kümmern, während der Mann Karriere machen darf. Sogar wenn die Frau mehr arbeiten würde, hätte sie nur mehr Stress: Die Hausarbeit und die Organisation der Familie blieben ohnehin an ihr hängen, weil sich die Männer erfolgreich drücken. Auch das Ehegattensplitting trägt dazu bei, dass sich eine richtige Berufstätigkeit der Frau nicht rechnet. All das könnte sich ändern, wenn nur mehr Frauen in den Vorständen und Aufsichtsräten der Unternehmen vertreten wären.

So geht die eine Erzählung. Es gibt aber auch noch eine andere. Die läuft so: Junge Frauen verdienen in den gleichen Berufen ungefähr genauso viel wie Männer. Weniger wird es nur, wenn sie sich für schlechter bezahlte Berufe entscheiden. Sie haben eben noch andere Werte als Geld. Oft heiraten sie aber Männer, die ein kleines bisschen älter sind und einen lukrativeren Beruf haben. Deshalb verdienen sie weniger als ihr Ehemann. An die Erziehung der Kinder stellen sie hohe Anforderungen, also übernehmen sie den Großteil der Kinderbetreuung.

Stundenlöhne von Männern und Frauen im Vergleich*

Während die Frauen nur noch Teilzeit arbeiten, machen die Männer Überstunden und holen sich die Lohnerhöhungen. Zwar haben die Unternehmen sich schon längst zum Ziel gemacht, Frauen zu fördern – hat nicht selbst Google gerade erst festgestellt, dass Frauen auf vergleichbaren Positionen mehr verdienen als Männer? Doch im Karriere-entscheidenden Alter zwischen 30 und 40 haben sich viele gute Frauen selbst aus dem Rennen genommen, sie arbeiten ja nur noch 60 Prozent. So werden zur allgemeinen Überraschung trotzdem immer wieder die Männer befördert.

Die Entscheidung über das Gehalt fällt im Privatleben

Beide Erzählungen enthalten ein Korn Wahrheit, doch am Equal Pay Day am Montag wird die erste Erzählung die Debatte dominieren. Dabei ist die zweite Erklärung viel näher an der Wahrheit, als ihr politisch zugestanden wird. Dass Frauen weniger verdienen als Männer – diese Entscheidung wird eher im Privatleben als bei der Arbeit getroffen.

Dieser Artikel ist aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung 
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Das zeigt schon die bekannteste Analyse der Gehaltsunterschiede. Seit Jahren spricht Deutschland über den Unterschied zwischen der „Lohnlücke“ und der „bereinigten Lohnlücke“: Frauen verdienen je Arbeitsstunde über 20 Prozent weniger als Männer, meldet das Statistische Bundesamt. Doch wenn die Statistiker vergleichen, wie viel Frauen auf vergleichbaren Stellen verdienen, dann landet man plötzlich bei „höchstens sechs Prozent“ Lohneinbußen für Frauen – die sogenannte bereinigte Lohnlücke.

Doch selbst diese Zahl überschätzt die Gehaltsunterschiede kolossal. Denn die Statistik hat einen wichtigen Mangel: Sie weiß nicht, ob jemand Elternzeit genommen hat. Sie weiß nur, wann die Leute angefangen haben zu arbeiten. Sie vergleicht also nach zehn Jahren oft Männer mit zehn Jahren Berufserfahrung und Frauen mit ein paar Jahren Berufserfahrung und ein paar Jahren Elternzeit. Kein Wunder, dass Frauen da weniger verdienen.

Warum Frauen weniger als Männer verdienen, in Prozentpunkten*

Am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut hat deshalb die Ökonomin Christina Boll mit Kollegen andere Daten gesucht und die Lohnlücke noch einmal berechnet. Sie stellte fest: Mehr als fünf Prozentpunkte der Lohnlücke gehen darauf zurück, dass Frauen weniger Berufserfahrung haben als Männer. Übrig bleibt in dieser Rechnung eine Gehaltslücke von rund zwei Prozent. Egal, wie man es misst: Die Gehaltsunterschiede sind anfangs klein und wachsen erst nach dem 30. Geburtstag, also wenn die Kinder kommen. 

In Westdeutschland ist beliebt, dass Frauen nur Teilzeit arbeiten

Und warum sind es in Deutschland so oft die Frauen, die Elternzeit nehmen und Teilzeit arbeiten? Das wurde an einem Freitagmorgen Anfang des Jahres in Atlanta deutlich. Im sehr futuristischen Marriott-Hotel trafen sich in einem fensterlosen kleinen Konferenzraum Ökonomen aus der ganzen Welt, die die Bezahlung von Männern und Frauen erforschen. Dort wurde verglichen, was mit Frauen geschieht, wenn sie Kinder bekommen. Schweden, Österreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten wurden analysiert – doch nirgends verloren die Frauen in den Jahren nach ihrer ersten Geburt so viel Gehalt wie in Deutschland. Mütter verzichten in Deutschland durchschnittlich auf mehr als die Hälfte des weiteren Gehaltes – wegen Elternzeiten, Teilzeitarbeit und verlorenen Karrierechancen.
 

Bild: F.A.Z.

Liegt das nur daran, dass Plätze in deutschen Kinderkrippen so rar sind? Nein, glaubt Josef Zweimüller, Volkswirt an der Universität Zürich, der diesen Vergleich mit erarbeitet hat. Er weiß: Wie sich die Gehälter von Frauen entwickeln, hängt von den gesellschaftlichen Vorstellungen in den Ländern ab. Und die sind in Deutschland oft ganz klar: Wenn Frauen Nachwuchs haben, arbeiten sie weniger.

Dass Frauen mit Schulkindern Vollzeit arbeiten – im Vorzeigeland der Gleichberechtigung, in Dänemark, finden das 76 Prozent der Bürger gut. Selbst unter den katholischen Iren finden noch 41 Prozent, dass Mütter Vollzeit arbeiten sollten. In Westdeutschland aber liegt die Zustimmung nur bei 22 Prozent – und zwar bei Männern und Frauen gleichermaßen. Der Grund, aus dem viele Frauen für die Kinder zu Hause bleiben, ist einfach: Deutschland will das so. Zumindest der Westen. In Ostdeutschland findet Vollzeitarbeit eine gesellschaftliche Mehrheit, dort ist auch die Gehaltslücke deutlich niedriger.

Es zeigt sich ein großer Unterschied zwischen den Forderungen von Familienpolitikerinnen und den Prioritäten der Westdeutschen. Mancher ist erst zufrieden, wenn Frauen genauso viel verdienen, also auch genauso arbeiten wie Männer. Dabei ist das vielen Frauen offenbar gar nicht so wichtig, wenn sie im Gegenzug Zeit mit der Familie haben können. 

Graphik: 
Sollten Mütter von Schulkindern in Vollzeit arbeiten? Zustimmung in Prozent*

Vor zwei Jahren hat die SPD durchgesetzt, dass Unternehmen auf Anfrage Gehaltsvergleiche zwischen Männern und Frauen offenlegen müssen. Das fällt nicht immer leicht, aber bis heute haben die Deutschen diese Möglichkeit kaum genutzt. Eine Evaluation des Gesetzes steht noch aus, doch von großen Diskriminierungen weiß das Familienministerium bisher nicht zu berichten. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund nennt keine. Stattdessen fordert die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack: „Betriebe müssten verpflichtet werden, ihre Entgeltpraxis zu überprüfen.“ Sie glaubt: Dass es so wenige Frauen in Vorständen gebe, liege daran, dass die keine Chance bekämen.

Die statistische Lohnlücke schrumpft so schnell nicht

Das erzählen Praktiker anders. Die Unternehmen suchen schon teils verzweifelt nach geeigneten Frauen. „Frauen können an der Spitze der Unternehmen inzwischen teilweise mehr verdienen als Männer“, sagt Christian Böhnke, der als Headhunter bei „Hunting Her“ speziell nach Frauen sucht, „jedenfalls wenn sie gut verhandeln.“ Nur die Verhandlung laufe nicht immer gut. Er erzählt: Vor kurzem rief ihn eine Frau an, die auf ihrer alten Stelle mehr als 300.000 Euro im Jahr verdient habe. Als er sie gefragt habe, was sie künftig verdienen wolle, rückte sie in einem fünfminütigen Monolog von ihren Gehaltsvorstellungen immer weiter ab – bis sie bei 200.000 Euro ankam, „wenn wirklich alles andere passt“. Böhnkes Fazit: „Frauen ködert man nicht, indem sie sich einen 7er-BMW statt eines 5ers als Firmenwagen zulegen können.“

Falls also Frauen und Männer unterschiedlich arbeiten wollen, wie viel Zwang darf der Staat dann ausüben, um das anzugleichen? Die Frage könnte theoretisch bleiben. Headhunter Böhnke stellt fest, dass Unternehmen im Kampf um gutes Personal sowieso ihre Arbeitsbedingungen so verändern, dass sie auch Wünschen der Frauen entgegenkommen.

Eines allerdings wird sich trotzdem so schnell nicht bessern: die statistische Lohnlücke. Die zeigt nämlich die Löhne sämtlicher arbeitender Deutscher, auch der 60-jährigen, deren Karriereentscheidungen schon vor Jahrzehnten gefallen sind. Am Statistischen Bundesamt hat der zuständige Gruppenleiter Martin Beck ausgerechnet: Selbst wenn junge Männer und Frauen von jetzt an immer gleich viel verdienen und man die Lohnlücke in fünf Jahren noch mal ermittelt– „da wird sich nicht viel verändern.“
*) 
 aus technischen Gründen kann ich die Graphiken auf meinem Blog leider nicht wiedergeben. 

Klicken Sie bitte auf meine Graphik-Links!

JE

Ein Vorläufer.

Vulkan entdeckt Venus mit Mars                                                                                                                                         zu Geschmackssachen

Nein, das ist keine surrealistische Renaissance-Parodie. Aber wenn man so will, ein Vorläufer: Es stammt von dem flämischen Manieristen Jacob de Backer und wurde um 1580 auf die Leinwand gebracht.


Freitag, 29. November 2019

Cy Twombly.

 
aus Badische Zeitung, 28. September 2015                                                                                               Untitled (Gaeta) 1985  
Fragment eines Traums  
Cy Twombly: Malerei und Skulptur in Basel.

von Volker Bauermeister 

2010, im Jahr vor seinem Tod, fand Cy Twombly einen Platz im Louvre. In dem Deckengemälde der Salle des Bronzes ist von der bekannten lässig fahrigen Handschrift aber nichts. Kein Farbenüberschwang wie im malerischen Spätwerk. Ein befremdend ausdrucksloses Bild ist das da. Und doch ein Twombly. Der hat sich immer der Erwartung entzogen.

 
Louvre, Deckengemälde, Saal der griechischen Skulpturen

Eine kleine, klar konturierte Ausstellung des augenblicklich geschlossenen Kunstmuseums Basel in seiner Filiale für Gegenwartskunst zeigt Twombly in seinen früheren Jahren. Die Zeit bis knapp über 1970 hinaus (nur zwei Skulpturen sind später datiert) repräsentiert der dafür noch mit Leihgaben ergänzte museumseigene Werkblock. Mit Twombly exponiert Museumschef Bernhard Mendes Bürgi nach Frank Stella einen weiteren Amerikaner. Nun aber einen, der selbst auch in Basel, wo man die US-amerikanischen Zeitgenossen früher als anderswo in Europa wahrnahm, erst nach einigem Zögern Aufnahme fand. Mendes Bürgi zitiert einen Vorgänger im Amt, Franz Meyer, der sich an die Vorbehalte erinnerte. Bei Twombly missfiel, so Meyer, dass alles "offen, flüchtig" war – und der Mann obendrein so unverblümt lustvoll.

Untitled, 1954

Die schwarztonige, deckende Ölfarbe ist als dunkler Grund eingesetzt, in den die weisstonigen Pinselspuren hineingearbeitet sind und stellenweise in Grautöne übergehen. Diese Interaktion der Farbmaterie bleibt nicht auf der Fläche des Gemäldes stehen, sondern erzeugt einen subtilen Tiefeneffekt: Was scheinbar auf die Oberfläche des Bildes aufgetragen ist, sinkt in die dunkle Tiefe des Grundes ein. Zusammen mit den sehr sparsam aufgetragenen Spuren gelber und roter Farbe, die an gezielt gesetzte Glanzlichter erinnern, zeigt diese Tiefenwirkung Ähnlichkeit mit den Hell-Dunkel-Effekten und Körpermodellierungen der barocken Ölmalerei. (Aus dem Begleittext der Ausstellung)

Ja, Twombly gewöhnte sich alles ab, was gewöhnlich erwartet wird, was die Handschrift betrifft und das Bild als System. Ein Frühwerk von 1954 kehrt auf dunklem Grund abstrakt-expressionistische Gestik quasi ins Negativ. Schon in die anschließenden römischen Jahre gehört dann "Study for Presence of a Myth", das als erstes in die Sammlung kam. Ein junger Amerikaner, der im alten Europa den kulturellen Fond findet! Twombly rebellierte auf eine andere Weise gegen die etablierte Abstraktion als die Landsleute und Freunde, die zu Stichwortgebern der Pop Art wurden. Auf Kulturgeschichte zu rekurrieren, war nicht weniger gewagt als plötzlich den Alltag zu zitieren. Twombly gelingt beides: unmittelbar jetzig zu sein und verblüffend poetisch historisch.

Arcadia, Rom 1958

Das Wechselspiel von Zeichnung und Schrift erzeugt eine Unbestimmtheit, die sich für das Medium der Malerei als äusserst fruchtbar erweist. Prozesse des Sehens und des Lesens durchdringen sich spannungsvoll, beginnen miteinander zu interagieren. Die Malerei wird nicht in den Bereich der Sprache und Semiotik überführt, sondern das Register malerischer Möglichkeiten wird bereichert, womit sich ihr neue Möglichkeiten eröffnen. (Ausstellungstext)


"Study for Presence of a Myth" ist in einen weiß getünchten Grund eher gezeichnet als gemalt. Die "Studie" wirkt wie eine Notizblockseite im Gemäldemaßstab. Zahlenreihen, Graphismen, vehemente Streichungen, die bilden ein zerrissenes Gewölk. Der Titel skizziert noch den Horizont. "Präsenz eines Mythos". Ein Muster der Welterklärung wäre noch einmal gefragt? Ausgemalt ist – wie an der späten Pariser Decke mit den ins linkische Himmelblau geschriebenen Namen der griechisch-antiken Bildhauer – dann aber gar nichts. Ein nervöses Fragment von etwas. Das ist es: Bruchstück eines sehnsüchtigen Traums.

Untitled, Rom 1961

Es wäre verfehlt, die sinnliche Intensität dieses Bildes auf eine ursprüngliche und quasi präkulturelle Gebärde der Malerhand zu reduzieren, denn einmal mehr öffnen die figurativen, symbolischen und schriftlichen Elemente das Bild und bringen es in Verbindung mit einer kulturellen Ordnung jenseits des spontanen Malakts. So findet die exzessive Farbigkeit und Gestik eine Resonanz in den zahlreichen Herzen, in denen die ungezähmte Leiblichkeit auf symbolische Weise gebändigt und dargestellt wird. (Ausstellungstext)

Zur Malerei findet Twombly wieder zurück. Nicht aber zur volltönenden Formkunst. Was sich zeigt (im unbetitelten Großformat der Daros Collection aus dem Jahr 1961) ist rhapsodisch, ruppig, eruptiv. In freier Liebe lässt Twombly die Farbe blühen, sich in Fleischtönen entblößen. Hingekritzelte Zeichen bringen Liebesorgane ins Spiel. In einer Unzahl glücklich sinnlicher Momente wirkt dies Triebgemälde wie ein Fest ohne Grenzen. Bacchanal. Olymp und durchlebte Niederung in einem.

Untitled, 1969 (Steib-Schenkung)

Ein ganz und gar konträres, strikt minimalistisches Stück gibt der Ausstellung den Anlass. Zum ersten Mal zu sehen ist das Geschenk des Basler Architektenehepaars Steib an das Kunstmuseum. Ein flächendeckendes Cremeweiß, darin ein rasch gezeichnetes Rechteck. Von einer "feinen fensterartigen Öffnung" spricht Mendes Bürgi. Allerdings versperrt Schraffur den Ausblick, und es ist die milchig helle Fläche drumherum, die ins Weite weist. Untergründig lässt sie auch Gewesenes durchscheinen. Das in dem "fensterartigen" Geviert pointierte Hier und Jetzt schließt so Erinnerung ein. Von der Geschichtlichkeit des Bildes wäre zu reden.
Nini's painting 1971 Rom

Die dynamisch gezogenen Linien und die All-over-Technik, mit der das gesamte Bildfeld gleichmässig und flächendeckend bearbeitet ist, erinnern an die Drip-Paintings von Jackson Pollock. Die Dynamik von «Nini's Painting» zeugt dabei weniger von einer kraftvollen Geste als vielmehr von einer leichten und zarten Linienführung, die dem Bild eine harmonische Rhythmik verleiht. So wirkt die eigentümliche Verdichtung von geschichteten Linien und Farbe keineswegs beengend, sondern im Gegenteil offen und leicht. (Ausstellungstext)


Und lichte Schichtenmalerei des römischen Twombly ist auch "Nini's Painting". Darin verflicht sich die Handschrift zur Textur und verwandelt die Fläche zum fluktuierenden Raum. Twombly sehen wir der Freundin Nini Pirandello nach deren Freitod frei aus dem Handgelenk ein Grabdenkmal zeichnen oder schreiben. Eine der fünf Fassungen ist in Basel. In der souveränen Flüchtigkeit klingt Vergänglichkeit an; der Schreibfluss fasst das dauernde Vergehen in eine klaglose Klage. So sieht Entgrenzung aus, wenn sie zum Bild wird.

Museum für Gegenwartskunst, Basel. Bis 13. März 2016, Di bis So 10-18 Uhr.

Und hier noch der Ausstellungstext zu meinem Kopfbild:

Das sichtbar aufgetragene und dabei nicht vollständig deckende Weiss verbindet die unterschiedlichen Teile zu einem ästhetischen Zusammenhang, indem es deren materielle Heterogenität der Oberfläche schafft; andererseits wird durch den sichtbaren Farbauftrag und die farbfreien Leerstellen die Farbe als Verbindung der Teile selbst akzentuiert.


 
Nota. - Das kann meine vierjährige Tochter auch, hat ein namhafter Zeitungsmann wohl gesagt, und das machte die Runde. Es hängt Twombly - außer bei den Aficionados - bis heute an. Bei vielen, ach, den meisten Stücken muss man sagen: zu Recht. 

Ionisches Meer, 1987. (Das könnte die vierjährige Tochter vielleicht doch nicht, oder höchstens zufällig, aber nicht mit Absicht. Und dann ist ein keine Kunst.)

Aber wenn daraus geschlossen wird, dann könne es keine Kunst sein, denn die kommt von Können, so wird es falsch. Wenn ihm das gefiel, wenn er es gerne malte, wenn Andre darauf etwas zu sehen meinen, was sie vorher nicht kannten - welchen handwerklichen Kanon verlangt man dann noch, und wieso? Wenn er wiedergeboren würde, würde er alles nochmal genauso malen, aber keinem Menschen zeigen und für sich behalten, hat er gesagt. Warum soll man ihm das nicht glauben? 

Vielleicht war er wohlhabend und auf den Verkaufspreis nicht angewiesen. Dann verstünde ich auch, warum ich das Gefühl nicht loswerde: Der Mann hat das alles zum Hohn auf den Kunstmarkt gemacht. Warum soll ich über meine Bilder reden? hat er gesagt. Ich habe sie doch gemalt. Das reicht. Wenn ich dann lese, welcher Tiefsinn den Ausstellern eingefallen ist, denke ich: Das ist ein Gesamtkunstwerk unter dem Titel Die Selbstreflexivität der Gegenwartskunst und ihres Geschäftsbetriebs.

Untitled 1985

Ich will aber nachtragen: Das ist ein bisschen ernst gemeint. Es ist nämlich nicht wahr, dass er nichts konnte. Ich habe einiges aus den 80er Jahren gesehen - siehe oben -, das man sich gut eine Weile lang anschauen kann. Vielleicht zeige ich das hier mal, aber vorher will ich mir doch erst noch ein wenig mehr ansehn.
JE 28. September 2015




Gewerkschaft will kein Behüterli werden.

 
aus Die Presse.com, 21.11.2014 | 17:04                                                                                                                       aus  Levana, oder Erziehlehre

Gewerkschaft: Nein zu Ganztagsschule 
Ablehnung für das Konzept der Industriellenvereinigung, das auch eine Gesamtschule vorsieht. Harsche Kritik auch am Ministerium. 

Wien. Die von der Industriellenvereinigung (IV) neu angefachte Diskussion über das heimische Schulsystem ärgert eine Gruppe ganz besonders: die Lehrergewerkschaft. „Diese Diskussion bringt uns keinen Millimeter weiter“, beklagt etwa Jürgen Rainer, Lehrervertreter an den berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS). 

Die von der Industriellenvereinigung vorgeschlagene Einführung einer Gesamt- wie auch einer Ganztagsschule lehnt der Lehrervertreter dezidiert ab. Rainers Begründung dafür: „Die Schulform an sich ändert nichts an der Qualität. Es kommt auf den einzelnen Lehrer und auf das, was in der Schule passiert, an.“ Insofern nütze der IV-Vorstoß lediglich der Industriellenvereinigung selbst. „So komme ich als Institution eben ins Gespräch“, sagt der Lehrergewerkschafter. 


Harte Worte fand der BMHS-Lehrervertreter auch gegenüber dem Bildungsministerium. Dieses mache die Schulen zum „Exerzierfeld für Reformen“. Lehrer seien ständig mit „widersprüchlichen Vorgaben“ konfrontiert, und das verunsichere und belaste die Pädagogen. Bei vielen sei mittlerweile der Eindruck entstanden, dass das Ministerium lediglich eine „Inkompetenz-Kompetenz“ habe. 


Angesichts neuer Studienergebnisse, die, wie „Die Presse“ berichtete, belegen, dass Lehrer unter großem Stress und einer hohen psychischen Belastung leiden, fordert Rainer erneut, mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter einzusetzen. „Wir fühlen uns in diesem Punkt alleingelassen“, sagt der Lehrervertreter. Die Hoffnung, dass die Politik hier bald eine Lösung finde, habe er nicht mehr. (j.n.)


Nota. - Habe ich was verpasst, bin ich inzwischen voreingenommen? Das kannte ich aus Deutschland bisher wirklich nicht, dass sich Lehrergewerkschafter gegen die Ganztagsschule stellen. Bei uns war die GEW immer deren aggressivster Vorreiter, und den standespolitischen Zweck haben sie nie verhehlt: mehr Stellen, mehr Stellen, mehr Stellen. Sind Österreichs Lehrer weitsichtiger und ahnen, dass die Stellen gar nicht bei ihnen, sondern bei den pädagogischen Hilfskräften anfallen werden? Oder fühlen sie bloß, dass der Wind sich dreht? Dass auch sie nicht aus pädagogischer Verantwortung, sondern aus Standesinteresse sprechen, machen sie gleich im Nachsatz klar: Für die Dreckarbeit sollen Psychologen und Sozialfuzzis angeheuert werden; ihnen selbst ist das zu lästig.

23. 11. 2014

Nota II. - Was ma da wohl draus geworden sein? Ich hab nie wieder was davon gehört.
JE 

Lucy war dümmer als heutige Affen.

 
aus derStandard, 18. November 2019                                                      

Vormenschen wie Lucy waren dümmer als moderne Gorillas
Das Gehirn von Australopithecus afarensis war offenbar weitaus schlechter durchblutet, als es die Hirne moderner Menschenaffen sind

von Thomas Bergmayr

In der äthiosemitischen Sprache Amharisch wird sie Dinkinesh genannt, "die Wunderbare", die restliche Welt kennt sie freilich als "Lucy" – eines der berühmtesten vormenschlichen Individuen überhaupt. Ihre Überreste wurden 1974 im Afar-Dreieck in Äthiopien am Ufer eines längst versiegten Gewässers von dem US-amerikanischen Paläoanthropologen Donald Johanson entdeckt, von zeitgenössischen Raubtieren glücklicherweise unberührt. Dies dürfte einer der Hauptgründe gewesen sein, warum die 3,2 Millionen Jahre alten Gebeine ein zwar nicht komplettes (rund 40 Prozent davon sind erhalten), aber sehr gut interpretierbares Skelett eines Australopithecus afarensis ergaben.

Umstrittene Zuordnung

Die Erstbeschreibung von Lucy sorgte zunächst für Diskussionen, unter anderem weil die weltbekannten Paläoanthropologen Mary Leakey und Richard Leakey Einspruch erhoben. Mittlerweile gilt die Zuordnung allerdings als gesichert. Ob Lucy bzw. Australopithecus afarensis jedoch tatsächlich einen direkten Vorfahren des modernen Menschen repräsentiert, ist nach wie vor unbewiesen. Zumindest aber wird eine unmittelbare Verwandtschaft mit der späteren Gattung Homo angenommen. Seinen prominenten Namen erhielt das Lucy-Fossil übrigens von dem bekannten Beatles-Song Lucy In The Sky With Diamonds, der am Tag der Entdeckung im Forschercamp mehrfach vom Tonband abgespielt wurde.

Man geht davon aus, dass es sich bei Lucy um ein Weibchen gehandelt hat, wirklich belegt ist das jedoch nicht. Zum Zeitpunkt ihres Todes – möglicherweise starb sie durch einen Sturz von einem hohen Baum – dürfte Lucy zwischen zwölf und 20 Jahre alt gewesen sein. Analysen der bisher bekannten Skelettteile zeigen ziemlich eindeutig, dass Australopithecus afarensis bereits aufrecht ging und vermutlich weit über einen Meter groß war. Andere anatomische Merkmale sprechen hingegen dafür, dass Lucy zumindest zeitweise auch auf den Bäumen lebte.



Das Original von Lucys Skelett wird heute in einem Tresor im Nationalmuseum von Äthiopien in Addis Abeba verwahrt.
Die eher kleinen Zähne von Australopithecus afarensis lassen darauf schließen, dass sich diese Vormenschenart vor allem von Pflanzen und Nüssen ernährte. Für den Verzehr von Fleisch waren diese Zähne noch nicht scharf genug. Mit anderen Worten: Lucy war wohl noch keine Jägerin – eher eine Gejagte, gemessen an den vielen Raubtieren ihres Lebensraums – und daher vielmehr eine Sammlerin. Wie es um die geistigen Fähigkeiten von Lucy und ihren Artgenossen stand, ist jedoch bis heute ein Rätsel.

Die Schädelkapazität von Australopithecus afarensis betrug bis zu 450 Kubikzentimeter, was im Durchschnitt weitaus mehr ist als der Platz, der den Gehirnen heutiger Schimpansen oder Gorillas zur Verfügung steht. Und doch dürfte Lucy deutlich "dümmer" gewesen sein als alle modernen Menschenaffen. Davon zumindest geht ein Team um Roger Seymour von der University of Adelaide in einer Studie im "Fachjournal Proceedings of the Royal Society B" aus. Grundlage für diese Annahme ist die Blutversorgung des kognitiven Teils des Australopithecus-Gehirns, auf die sich aus der Größe jener Löcher im Schädel der Vormenschen rückschließen lässt, in denen die Hauptarterien Platz fanden.

Die Wissenschafter glichen die aus elf Australopithecus-Schädeln gewonnenen Beobachtungen von Arterienverläufen mit jenen von Menschen und anderen Säugetieren ab und stellten sie den Analysen von 96 Menschenaffen-Schädeln gegenüber. Das überraschende Ergebnis: Die Gehirne der modernen Menschenaffen, also Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans, sind allesamt wesentlich besser durchblutet, als es jene von Australopithecus afarensis waren.

Ein durchschnittlicher Berggorilla mag zwar ein geringeres Gehirnvolumen besitzen als Lucy – und doch ist er vermutlich intelligenter als sie es war.
 
Die Synapsenanzahl gilt

"Das Resultat war unter uns Anthropologen unerwartet, immerhin ging man lange Zeit davon aus, dass die Gehirngröße in direktem Zusammenhang mit der Intelligenz steht", sagt Seymour. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass nicht allein die Menge der Hirnzellen, die mit der Gehirngröße korrespondiert, ein Messwert für die Intelligenz ist, sondern vor allem die Anzahl der Verbindungen zwischen den Neuronen. "Diese Verbindungen, auch bekannt als Synapsen, steuern den Informationsfluss im Gehirn. Je größer die synaptische Aktivität, desto umfangreicher die Informationsverarbeitung", so Seymour.

Um diese zerebrale Aktivität mit Energie zu versorgen, braucht es eine entsprechende Blutzufuhr, und die war bei Lucy und ihren Artgenossen vermutlich nur etwa halb so groß wie beim Gehirn eines modernen Gorillas, wie das Team um Seymour berechnet hat.

Abstract