
aus nzz.ch, 16.11.2019 Der Künstler Eleazar Albin schuf seine Tierbilder im 18. Jahrhundert nach den Büchern der berühmten Mikropisten seiner Zeit
Das Mikroskop veränderte unseren Blick auf die Welt
Unter
dem Instrument mit der Linse werden kleine Dinge gross – das scheint
uns nicht weiter bemerkenswert. Doch als es im 17. Jahrhundert aufkam,
weckte das Mikroskop Misstrauen: Warum sollte man sich für die
Winzigkeiten des Lebens interessieren?
Diese Geschichte ist bekannt: Der geniale Galilei erblickte mit seinem Fernrohr als Erster Berge und Krater auf dem Mond, vier Jupitermonde – heute zählt man deren über siebzig –, die Sichelgestalt der Venus und die Ringe des Saturn. Mit Vorführungen verblüffte er die Zeitgenossen, selbst die Astronomen der päpstlichen Kurie waren fasziniert. Das war anno 1610, und nachzulesen ist vieles davon im «Sidereus Nuncius» («Der Sternenbote»).
Galilei wurde trotz aller Begeisterung, auch seitens der klerikalen Astronomen, durch die Kirche diskret verwarnt: Seine auf dem heliozentrischen Weltbild des Kopernikus fussenden Beobachtungen dürfe er zwar als Hypothesen, nicht aber als die Wahrheit behaupten. Denn – so steht seit eh und je fest – die Wahrheit ist Sache der Kirche, und sie lautet: Die Erde ruht, wie schon Ptolemäus im 2. Jahrhundert wusste, im Zentrum des Kosmos, und die Gestirne, also Sonne, Mond, Planeten, bewegen sich um sie herum. Punktum.
Als Galilei dann nochmals im «Dialogo» (1632) für das kopernikanische Weltbild mit der Sonne im Zentrum unseres Planetensystems eintrat, packte die Kirche zu und verurteilte ihn. Das Urteil für den 69-Jährigen lautete auf lebenslänglichen Hausarrest – und: Er muss all jene bei der Inquisition denunzieren, die kopernikanische Ansichten vertraten.
Bekannt ist ferner, dass Galilei das Fernrohr gar nicht erfunden, sondern dieses in den Niederlanden entwickelte Instrument für seine Beobachtungen an Himmelskörpern nur geschickt modifiziert hatte. Kaum bekannt dürfte dagegen sein, dass Galilei bald begann, durch Linsen winzigste Dinge zu betrachten. Die Beweglichkeit seines Denkens ist erstaunlich! Eben noch an den Gestirnen des Nachthimmels interessiert, kehrt er sein Instrument beziehungsweise das dahinterstehende Prinzip gleichsam um und setzt es für die Erforschung kleinster Dinge ein.
Die Lunge unter der Linse
Im
«Saggiatore» (1623) blickt er auf diesen Schritt zurück und erwähnt ein
abgeändertes Teleskop, «um die kleinsten Dinge aus der Nähe zu sehen».
Zunächst war es das Auge eines kleinen Insekts (vermutlich einer
Spinne), und bereits 1614 ist bezeugt, dass Galilei beim Betrachten
einer Fliege sah, wie dieses über und über mit Härchen bedeckte Insekt
seine feinen «Nägel in die Poren» einer senkrecht stehenden Glasscheibe
steckte, um bequem darauf herumzuspazieren.
1624
schenkt Galilei dem «Prinzen» Federico Cesi, dem auf Lebenszeit
gewählten Vorsitzenden der Akademie der Luchsäugigen, ein «occhialino»
(Augengläschen), wie er den Vorläufer des Mikroskops noch nannte. In der
Akademie, der auch Galilei angehörte, wird nun eifrig geforscht, und
bald heisst das Instrument Mikroskop. Francesco Stelluti, der mit Cesi
in jungen Jahren die Accademia dei Lincei gegründet hatte, schmuggelte
1630 die vergrösserte Abbildung eines Rüsselkäfers in eine botanische
Publikation: Die Abbildung zeigt den Schädling nochmals in natürlicher
Grösse, so dass ein Vergleich zwischen Vergrösserung und natürlicher
Grösse möglich wird.
Schon
bald nach Galileis Tod wurde das Mikroskop auch in der Naturphilosophie
eingesetzt. Der Arzt Marcello Malpighi erregte als Erster Aufsehen mit
Untersuchungen der Gewebestruktur der Lungen («De Pulmonibus», 1660). Es
folgten Untersuchungen weiterer Gewebearten. An der Universität Bologna
hatte der Arzt jedoch Widersacher, die ihn bekämpften, weil sie an den
Theorien des spätantiken Galenus festhielten, wonach die Gestirne das
leibliche Wohl des Menschen bestimmten. Erst als Papst Innozenz XII. ihn
zu seinem Leibarzt ernannte, erhielt Malpighi die lange verweigerte
Professur für Anatomie. Doch schon zuvor triumphierte er auf
internationalem Parkett: Die Londoner Royal Society interessierte sich
für seine Forschungen, nahm ihn als Fellow in ihre Reihen auf und
besorgte die Herausgabe seiner weiteren Schriften.
Kritik von Forschern
In
der Forschung waren damals die Niederländer führend. Allen voran der
grosse Leeuwenhoek, der Hunderte von Mikroskopen baute. Noch heute
rätselt man darüber, wie er seine Linsen schliff. Das aber bleibt sein
Geheimnis. Kein Geheimnis blieben dagegen seine Entdeckungen, über die
sich die Gelehrten heftig stritten, etwa die im Wasser von Pfützen und
Regentraufen vorkommenden Infusorien (Aufgusstierchen) und die
Samenzellen diverser Tiere und des Menschen. Als er 1705 in
Wassertröpfchen und Moosen von blossem Auge kaum sichtbare kleinste
Arthropoden (Gliederfüsser) mit stummelartigen Füsschen entdeckte, stand
er vor einem Rätsel: Die auch Kryptobionten genannten Winzlinge hätten
nach völliger Austrocknung eigentlich tot sein müssen, doch sobald man
sie wieder mit Wasser begoss, kehrten sie nicht nur zu neuem Leben,
sondern auch in ihre ursprüngliche Gestalt zurück.
Das
emsige Treiben der Mikroskopisten stand nicht selten bei «seriöseren»
Forschern unter Beschuss. Der Enzyklopädist Buffon, mit vollem Namen
Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, galt im 18. Jahrhundert unter den
Naturphilosophen als Autorität. Für Mikroskopisten hatte er nichts als
Verachtung übrig, er begreife nicht, dass sich Forscher für kleines Zeug
wie Fliegen und Maden begeistern könnten.
Solch
unverhohlen geäusserte Kritik galt in erster Linie dem Zeitgenossen
Réaumur und dessen siebenbändigen «Mémoires pour servir l’histoire des
insectes». Im Übrigen auch dieser Forscher mit üppig klingendem Namen –
René-Antoine Ferchault de Réaumur – und auch er, wie Buffon, Aristokrat.
Gleichwohl, im 17. und 18. Jahrhundert war das Motto «maxima in
minimis», also Anwesenheit vom Grössten im Kleinsten, äusserst beliebt.
Natürlich
gab es auch Stimmen, die sich mit sachlicher Kritik zu Worte meldeten,
wie zum Beispiel jene des Niederländers Swammerdam. In einem Brief an
Malpighi heisst es, er habe beim Überprüfen vieler Illustrationen
festgestellt, dass diese das Beobachtete nicht vollständig und genau
abbildeten. In der Tat gilt für Malpighi, dass seine Illustrationen
nicht mit den Augen zu «lesen» seien, sondern, wie er dem
niederländischen Kollegen vermeldete, mit dem Geist («figuram mentem
concepisse»); denn seine Vereinfachungen wollten mit den Illustrationen
immer auch eine dahinterstehende Theorie verdeutlichen.
Feiner als jedes Kunstwerk
Im
Zeitalter der Aufklärung war nicht allein in Gelehrtenkreisen das
Interesse an naturwissenschaftlichen Phänomenen gewaltig. Auf
Jahrmärkten wurden in Schaubuden Experimente mit Elektrizität und
Magnetismus vorgeführt. In wohlhabenderen Kreisen schaffte man Teleskope
und Mikroskope an, mit denen Gäste unterhalten werden konnten. Gerade
zur richtigen Zeit erschien damals also «The Microscope Made Easy», ein
Buch, das der Engländer Henry Baker mit dem Hinweis herausgab, dass die
Instrumente nun für wenig Geld zu haben seien.
Der
umtriebige Gelehrte war unter anderem Mitherausgeber des Gesamtwerks
von Molière in englischer Sprache. Für seine mikroskopischen
Beobachtungen wurde er von der Londoner Royal Society mit der
Coply-Goldmedaille ausgezeichnet. Ursprünglich hatte er eine
Buchhändlerlehre gemacht und dann als Hauslehrer einem gehörlosen
Mädchen Lesen und Schreiben beigebracht. Der Autor stellte sein Werk
«Das Mikroskop leicht gemacht» am 28. Oktober 1742 bei einer
Zusammenkunft in der Royal Society vor.
Bakers
Sachbuch beginnt mit der Beschreibung des Instruments. Mithilfe von
Illustrationen führt es in die Bedienung desselben ein, beispielsweise
mit Hinweisen zu Möglichkeiten, wie man einen Gegenstand auf dem
Objektträger fixieren kann. Im umfangreicheren zweiten Teil der über 300
Seiten starken Publikation listet der Autor eine Fülle von Dingen auf.
Ein Index mit über 400 Stichwörtern hilft beim Nachschlagen. Baker gibt
Anregungen zur Untersuchung der erwähnten Infusorien und der
Blutkörperchen oder zur Betrachtung der inneren Struktur von Knochen.
In
der Regel referiert er den Stand zeitgenössischer Forschung und betont,
dass in der Naturlehre wichtig sei, die Fülle der Arten von der Milbe
bis zum Walfisch zu kennen. Er beschreibt die Stachel von Bienen und
Skorpionen, Läuse, Samen, Salzkristalle, Äderchen am Blattwerk von
Bäumen und Büschen und regt seine Leser zu eigenen Nachforschungen an.
Interessant
sind Bakers «vernünftige Überlegungen», eine Art Nachwort mit zuweilen
paradoxen Gedanken. Der Hochmut des Menschen, so Baker, werde beim
Mikroskopieren zu Recht in die Schranken gewiesen. Unter dem Mikroskop
betrachtet, sehe nämlich die feinste Miniatur eines Kunstwerks aus «wie
mit der Kelle grob aufgetragen»; dagegen überrasche «jedes Haar, jede
Feder oder Schuppe eines winzigen Insekts», da es «abgerundeter und
feiner poliert» sei. Insofern gehöre es zur Nobilitierung des
menschlichen Geistes, sich für kleinste Kreaturen zu interessieren und
dabei zu wissen, dass auch sie der Allmacht eines grossartigen Schöpfers
entsprungen seien.
Eine
Milbe auf einem Stück Käse sei vergleichbar einem Menschen auf der
Erdoberfläche, und – man lese und staune! – letztlich hätten alle
Kreaturen dieselbe Lebensdauer, selbst die Eintagsfliege, die nach
Swammerdam bloss fünf Stunden zu leben habe. Diese kurze Zeit erscheine
dem Tierchen wie tausend Jahre, und so besehen seien tausend Jahre auch
nur wie ein Tag. Denn – der fortschrittsgläubige und in multiplen
Perspektiven räsonierende Baker bringt es auf den erwünschten Punkt –
jede Kreatur erlebe nämlich das Dasein im Zustande geniessenden Glücks.
Nota. - Skeptische Weise hatten schon früh eine Ahnung von der Relativität unserer menschlichen Einsich- ten, und die Neigung zum Zweifel überstand alle geistlichen Verfolgungen. Doch das war was für die Ge- lehrten. Um die Menge des Publikums zu erfassen, musste die Relativität anschaulich werden. Im 20. Jahr- hundert lernten dann auch Elementarschüler das Mikroskopieren, und "alles ist relativ" wurde zu einem är- gerlichen Gemeinplatz.
Dies ist das eine. Dass zugleich, als die Gelehrten auf der einen Seite die Natur als eine Haushälterin defi- nierten, die Gelehrten auf der andern Seite sie als Künstlerin entdeckten, ist eine feine Pointe der bürgerli- chen Geistesverfassung.
JE
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