aus nzz.ch, 6.12.2020 zu
8. November 1954. Von der Titelseite des «Time Magazine» schaut ein Mann auf die Leser und Leserinnen herab. Er wirkt jugendlich. Aber die leicht angegrauten Haare über der hohen Stirn deuten eine gnädige Reife an. Und die grosse Hornbrille symbolisiert Nachdenklichkeit und Sensibilität. Ein bisschen Nerd, ein bisschen Elvis Costello, denkt man sich aus heutiger Sicht. Und ein bisschen ist er auch ein Jedermann: Dave Brubeck, geboren am 6. Dezember 1920.
Die schemenhaften Musikinstrumente im Hintergrund des Bildes – Drumsticks, Kontrabass, Saxofon und vor allem ein Klavier – umreissen das Reich, in dem dieser Mann vom «Time Magazine» als König des Jazz inthronisiert wird: als Dave I. Nach Louis Armstrong ist es erst der zweite König auf diesem Thron und wird der einzige mit weisser Hautfarbe bleiben. Nur Duke Ellington, Thelonious Monk und Wynton Marsalis werden ihm auf späteren «Time»-Titeln nachfolgen.
David Warren Brubeck war der dritte Sohn eines Ranchers und einer Konzertpianistin und Klavierlehrerin. In der Familie, die am Rand der San Francisco Bay wohnte, war er frühzeitig widerstreitenden Impulsen ausgesetzt. Einerseits hatte das Cowboy-Leben auf dem Weideland am Westhang der Sierra Nevada seine unbestrittenen Reize. Und da schon Henry und Howard, die beiden älteren Brüder, eine klassische Musikkarriere anstrebten, sollte wenigstens der kleine Dave den Rindern erhalten bleiben.
Andererseits hatte die Mutter im Hause Brubeck ein strenges Musikregime errichtet: kein Radio, keine Schallplatten. Wer Musik hören wollte, musste eben selbst welche machen. Und was seine Mutter und seine Brüder spielten, das gefiel auch Dave. Er war ebenfalls begabt, er lernte unter der Anleitung seiner Mutter, Klavier zu spielen, und verinnerlichte das harmonische Raffinement und die formale Strenge der klassischen Musik. Doch statt sich mit den Notentexten des klassischen Repertoires abzumühen, hatte der junge Pianist Spass daran, mit eigenen musikalischen Ideen zu experimentieren, in denen er Klänge und Rhythmen aus seinem Alltagsleben verarbeitete - von der Ranch, den Tieren und Maschinen bis zu den Sounds der Natur.
Zunächst folgte er jedoch dem von seinen Eltern vorgezeichneten Weg und studierte in der nahe gelegenen Provinzstadt Stockton Veterinärmedizin. Abends hing er in den Klubs ab, hörte zu, beobachtete, spielte selbst. Jazzmusiker der ersten Reihe konnte er hier nicht erleben, doch Jazz wurde zu seiner ersten Leidenschaft. Dave wechselte in den Fachbereich Musik.
Als er seine erste Studienphase abschloss, befand sich Amerika seit einem Jahr im Krieg. Dave Brubeck heiratete noch rasch, bevor er in die Army eingezogen wurde. In San Francisco lernte er bereits den Altsaxofonisten Paul Desmond kennen, der später sein musikalisches Alter Ego werden sollte. Und Paul Desmond verdankte Brubeck später auch den grössten Hit und Klassiker seines Quartetts: «Take Five».
1944 wurde Private Brubeck in den Einsatz nach Europa geschickt und beauftragt, in Frankreich eine Army-Band zusammenzustellen. Während die US-Army noch streng segregiert war, spielten in The Wolfpack afroamerikanische und weisse Musiker gleichberechtigt zusammen: damals noch eine Seltenheit.
Nach dem Krieg setzte Brubeck sein Studium am Mills College in Oakland fort, wo man viel Wert auf die Pflege der zeitgenössischen Musik legte. Komposition und Kontrapunkt studierte er bei Darius Milhaud. Der französische Komponist war offen für alles Polytonale und Polyrhythmische. Ausserdem interessierte er sich für alle erdenklichen neuen Klänge und Rhythmen und ganz speziell für den Jazz. Er ermutigte Brubeck, seine Kontrapunkt-Übungen anhand von Jazzstücken durchzuexerzieren und eine Brücke zwischen den Verfahren des Barocks und der Modernität des Jazz zu schlagen.
Diese Idee lag in der Luft, das Modern Jazz Quartet etwa versuchte sich zur gleichen Zeit an ähnlichen Problemstellungen. Unter dem Stichwort Cool Jazz fand sie überdies in den urbanen Jazzszenen von New York oder Boston, Los Angeles oder San Francisco Widerhall.
Am Mills College gründete Dave Brubeck sein erstes Oktett, fünf Bläser plus Rhythmusgruppe, mit dem er viele der Ideen aus dem Unterricht bei Milhaud zum Klingen brachte. Mit dem Saxofonisten Paul Desmond, den Brubeck in Oakland wiedergetroffen hatte, war in dem Oktett auch ein aufstrebender Jazzmusiker mit von der Partie. Desmond hatte mittlerweile eine eigene Stimme als origineller und einfallsreicher Improvisator entwickelt. Mit einem Ton wie Trockeneis, federleicht und cool, folgte er einem unaufhaltsamen Strom von melodischen Eingebungen, der wunderbar mit Brubecks bisweilen kantigem Spiel kontrastierte.
Doch Brubecks Oktett war eine Kopfgeburt, gestelzt und schwerfällig sowie zu komplex, als dass die Stimmen der Improvisatoren hätten Profil gewinnen können. Zugänglicher war Brubecks Trio, das mit den bekannten Jazzstandards auf eine rege Nachfrage stiess. Doch Brubeck wollte mehr: Mit Paul Desmond erweiterte er sein Trio zum Quartett.
Zwischen der Gründung seines Quartetts im Jahr 1951 und der Titelgeschichte im «Time Magazine» hatte Brubeck dem Jazz ein neues Publikum erschlossen: jung, weiss und gebildet. Als eine weisse Formation, die sich in beträchtlichem Abstand zur afroamerikanisch geprägten Jazzszene mit ihrem Hang zu «blue notes» und elektrisierendem Swing bewegte, konnte das Dave Brubeck Quartet die feine Anschlagskultur der Klassik und die Vitalität des Jazz in ein Gesamtpaket binden. Damit eroberte es sich eine vorab akademisch orientierte, junge Fangemeinde, die bis weit in die Reihen der als dünkelhaft verschrienen Klassik-Musikstudenten reichte.
Das «Time Magazine» hoffte, Brubecks Erfolgswelle würde dazu beitragen, die kulturellen Schranken zwischen den Hautfarben wegzuschwemmen. Das war etwas voreilig, bis heute wurde der Rassismus auch im Jazz nie ganz überwunden. Und sowohl der plötzliche Erfolg des Dave Brubeck Quartet bei einem weissen College-Publikum wie auch die mediale Aufmerksamkeit wären für einen afroamerikanischen Musiker noch kaum zu erreichen gewesen.
Der unverhoffte Kult um seine Person war auch Dave Brubeck selbst unangenehm. Um sich als Jazzpianist mit Virtuosen wie Bud Powell oder Horace Silver zu messen, fehlten ihm die Jazzwurzeln, die intensive Auseinandersetzung mit Blues und Bebop sowie die technische Brillanz, die unter Kollegen längst zum Standard geworden war.
Rückblickend wird deutlich, dass Brubeck, der sich fast ausschliesslich in eigenen Formationen präsentierte, keinen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Jazz hatte. Es gibt kaum Nachahmer, kaum Schüler. Und dass er im Verlauf seiner Karriere nur sehr selten an der Seite namhafter Jazzmusiker spielte, zeigt, wie schlecht er mit der aktiven Szene vernetzt war. So aber fehlte ihm der musikalische Wettstreit ebenso wie der ästhetische Austausch.
Dave Brubeck, der Cowboy unter den Jazzpianisten, blieb ein Sonderfall, ein begabter Einzelgänger, dessen zugängliche Musik zwar den Zeitgeist traf, aber dann ohne viel Echo verhallte. Als weisser Pop-Star des Jazz blieb Brubeck dabei durchaus bescheiden. Auf dem «Time»-Titel hätte er persönlich gar lieber einen Musiker vom Rang eines Duke Ellington gesehen.
Aber er nutzte die Gunst der Stunde. Er folgte seinen künstlerischen Interessen und experimentierte insbesondere mit Rhythmen, die das Gleichmass des Viervierteltaktes abstreiften: lateinamerikanische Grooves, die Dreier des Walzers und später auch die ungeraden Takte, die die Tanzmusik des Balkans prägen. Die ungeraden Metren wurden zum Markenzeichen seines Quartetts, was Brubeck mit fünf Alben unterstrich. Als Erstes erschien 1959 «Time Out» (1959) und wurde bald zum Hit – als erste Jazzplatte, die sich mehr als eine Million Mal verkaufte.
1967,
nach 16 Jahren und über 40 Alben, löste sich das Dave Brubeck Quartet
auf. Für Brubeck rückte der Jazz nun in den Hintergrund – als Hobby
sozusagen, das er bis zu seinem Tod am Vorabend seines 92. Geburtstages
immer wieder ausübte. Wichtiger aber wurde das Komponieren:
grossformatige Orchesterstücke, Oratorien, Ballettmusiken,
Streichquartette. Auch damit war Dave Brubeck erfolgreich. Doch ob
Komposition oder Improvisation – für ihn blieb beides gleichwertig.
Nota. - Als ich gestern seinen hundertsten Geburtstag melden konnte, dachte ich mir: Oh!
Doch dass er inzwischen gestorben war, konnte ich mir gar nicht vorstellen; oha.
*
Ich bin ein Freund des Cool. Aber ein Verzückter bin ich nicht, nie gewesen.
Jazz war in seinen Ursprüngen eine elitäre Angelegenheit. Die ersten Jazzer - negroes, was sonst - spielten für das Milieu, aus dem sie stammten: eine Schaumkrone auf der Black community, aber weit entfernt von der weißen Mainstream-Kultur. Louis Armstrong und Duke Ellington fanden allerdings ein weißes Publikum - der eine als Quotennigger im Pop-Register, der andre bei bleichgesichtigen Snobs. Populär, herrje, wurde Jazz als Swing: Benny Goodman und Glen Miller. Für nachfolgende Generationen schambehaftet.
Seinen langen Marsch bis in die Hochkultur begann der Jazz aber ganz klein mit der Schallplattenfirma Blue Note, von zwei Berliner Juden gegründet, die die Nationalsozia-listen nach Amerika vertrieben hatten. Still und hartnäckig entwickelte sie sich zu einem Pol, um den der Jazz zu einer gewissen bis heute strittigen Identität gefunden hat. Und zur Speerspitze wurde, durch die Black music den Musikgeschmack der ganzen Welt prägen sollte.
*
Stilistisch gab es manchen Neuerer, der bis heute unter den Ganz Großen geführt wird. Aber obiger Artikel hat Recht: Mit Dave Brubeck wurde Musik, die richtiger Jazz ist, hörbar für alle, die offene Ohren haben und auf Exquisität keinen Wert legen.
Mit gutem Grund lässt der Artikel auch Paul Desmond den Platz, den er verdient. Der Jazz wird alle paar Jahre wiedermal totgesagt. Aber Leute wie Dave Brubeck und Paul Desmond - erlauben Sie, dass ich auch Lee Konitz einfüge - haben dafür gesorgt, dass ein Grundstock unvergägnlich bleibt.
JE
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