Donnerstag, 17. Dezember 2020

Weils eben sein muss.

aus Süddeutsche.de, 17. 12. 2020                                                                                                      zu Geschmackssachen

Musik als Ersatzreligion

Von Reinhard J. Brembeck

... Denn mit Beethoven kam die Unsicherheit als existenziell bestimmender Faktor in die Welt. Unsicherheit prägte sein Œuvre, wie auch das der beiden ebenfalls im Jahr 1770 gebo-renen Jubilare, des Dichters Friedrich Hölderlin und des Philosophen Georg Friedrich Hegel. Doch ohne die Seuche, die derzeit die Welt verwüstet und auch die Klassikszene zum Erliegen bringt, wäre dieses Phänomen Unsicherheit, das bestimmend ist für Beethovens Komponieren, kaum ins Bewusstsein getreten.

Mit der Unsicherheit korrespondiert bei Beethoven das Zerbrechen von Sicherheiten und Formen. Das ist unübersehbar beim Vergleich der Klaviertrios op.1 und den Klaviersonaten op.2 mit den letzten Sonaten und Streichquartetten. Anfangs füllt Beethoven, so wie noch alle Komponisten vor ihm, eine gegebene Form. In den späten Stücken sind die Formen nur mehr als vom Komponisten zerbrochene Gespinste auszumachen. Das bei ihm oft brutale Zerbrechen, Durchbrechen, Stauchen und Überladen alter und ausgedienter Formen zeigt einen Komponisten, der auf die Zerfallserscheinungen in Politik, Religion, Philosophie, Gesellschaft reagiert. Weil Beethovens Welt nach und nach jeden religiösen, metaphysischen und philosophischen Halt einbüßte, wird schon bei ihm und nicht erst bei Richard Wagner die Musik zu einem Surrogat, zu einer Ersatzreligion.

Eine Sonate Beethovens bedeutet deshalb für Komponist wie Hörer mehr als eine von Wolfgang A. Mozart. Spiegelte Mozarts Musik noch eine stabile Welt, in der sich wie im "Don Giovanni" kommende Umbrüche nur als Ahnungen abzeichneten, so trägt jedes Beethoven-Stück ein trotziges Jetzt-erst-recht in sich, das die Musik verändert und zersetzt. Beethoven ist ein Trauernder. Er hätte gern die Unversehrtheit der Welt zurück, in der sich Mozart noch geborgen fühlte. Die Zerstörungen der Französischen Revolution, vorbereitet durch die Aufklärung, aber ließen kein naives Leben mehr zu. Religion, Liebe und Gesellschaftsordnung waren angezählt. Beethoven konnte nur durch kompositorische Gewaltakte und gegen besseres Wissen ihre Unversehrtheit behaupten. Zeugen dieses später als idealistisch verklärten Ringens sind die Oper "Fidelio", die Missa solemnis und die Neunte Sinfonie, allesamt Riesenunternehmungen, deren Zwanghaftigkeit Interpreten, Musiker wie Philosophen vor unlösbare Probleme stellen. Diese Stücke überwältigen durch Kraft und geben eine idealisierte Wirklichkeit als real aus. Ein Hauch von kompositorischer Falschmünzerei ist unüberhörbar.

Schon Waldstein-Sonate und Appassionata, zwei der beliebtesten Klavierwerke des knapp 35-Jährigen Sturm-und-Drang-Komponisten, donnern leidenschaftlich, trotzig und verzweifelt gegen das Zerbrechen aller Sicherheiten an. Aber die Leidenschaft kann nicht übertünchen, dass in diesen Sonaten etwas Unerfülltes steckt, das seither jeder Kunst zu eigen ist. ...

 

Nota. - Für E.T.A. Hoffmann - Dichter, Maler, Komponist - war Beethovens Musik der Inbegriff (wenn in der Kunst von Begriffen geredet werden darf) des Romantischen. Damit meinte er ihren 'absoluten' Charakter, der auf Wörter, Ideen und auch sonst alles Außermu-sikalische resolut verzichtet; eine hörbare, aber sogleich wieder verklingende Unendlichkeit, die sich als Unruhe doch unentwegt zu erkennen gibt.

Dass mit Beethoven, wie es oben heißt, 'die Unsicherheit als existenziell bestimmender Faktor in die Welt gekommen' sei, konnte er schlecht zugeben, ohne sein poetisches Ge-heimnis preiszugeben, und das wäre ihm zu prosaisch vorgekommen. Dass das von Hoffmann gefeierte romantische Dreigestirn Haydn, Mozart, Beethoven von den heutigen als Höhe-punkt einer musikalischen Klassik angesehen wird, ist eine geradezu romantische Ironie der Kunstgeschichte. 

JE

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