
"Die Darstellung erkläre ich selbst für höchst unvollkommen und mangelhaft", schrieb Fichte zu Ostern 1796 im Vorbericht zur ersten Buchausgabe der Grundlage. Und
doch hat er sie bis zu seinem Tod in seinen Kollegien als
Begleitschrift zu den mündlichen Darstel-lungen der Wissenschaftslehre
verwendet - wie ja auch in den Vorlesungen nova methodo. Zeitlebens habe er 'nie etwas anderes gelehrt', hat er stets versichert...
Lediglich die
Darstellungsweise sei ungeschickt gewesen und habe zu vielerlei
Missverständ-nissen Anlass gegeben: "So kann ich allerdings Unrecht
gehabt haben, dass ich die bei mir durch
das ganze System bestimmten Grundsätze desselben hingab, ohne das
System; und mir von den Lesern und Beurtheilern die Geduld versprach,
alles so unbestimmt zu lassen, als ich es gelassen hatte."
Es ist aber nicht nur
eine didaktische Frage, ob man die Grundsätze des Systems aufstellen
könne, bevor man dieses selbst aus- und durchgeführt hat. Bei einem
spekulativ konstruier-ten metaphysischen System mag das möglich sein. Ein
transzendental philosophisches Sys-tem darf nicht einmal den Gedanken aufkommen lassen, dass es so verfahren sei. Es muss, wie die Nova methodo es ja tut, sein Vorgehen Schritt für Schritt vorführen, weil
es nicht (logisch) fertige Begriffe aneinander knüpft, sondern
(genetisch) lebende Vorstellungen auseinander hervorbringt.
In specie: Dass das menschliche (welches wohl sonst?) Wissen auf einem
"absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz" beruhe, den man
(in ihm selbst?) nur "auffinden" müsse, ist eine Voraussetzung, die er
an dieser Stelle ohne alles Recht macht. Zwar hatte er, bevor er seine
Vorlesungen in Jena begann, die Schrift Über den Begriff der Wissenschafts-lehre
vorgelegt, die eben davon handelt. Deren Kenntnis durfte er vielleicht
bei seinen Hö-rern voraussetzen; doch wir werden finden, dass die
Wissenschaftslehre nicht eine Kenntnis nach der anderen - woher auch immer - herbeizieht und auf einander schichtet, sondern aus notwendigen Vorstellungen weitere Vorstellungen entwickelt.
Das ist kein Unterschied in der Darstellungsweise, sondern in dem, was dargestellt wird. Fichte spricht diesen Unterschied später in der Nova methodo immer wieder an, nament-lich dort, wo er an die Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten stößt; doch nie spricht er aus, dass es dieser Unterschied ist, der sein philosophisches System wesentlich von allen vorhergegangenen unterscheidet.
10. 8. 17
Nachtrag.
Ob ich in einem System die Welt beschreibe und erkläre, wie ihre Teile
unterein-ander zusammenhängen, oder die Vorstellungen beschreibe, die
ich mir - zuerst wohl von der Welt - mache und zeige, wie sie
auseinander hervorgegangen sind, ist kein Unterschied in der
Darstellungweise, sondern es wird ein jeweils Anderes dargestellt.
Bei der Niederschrift der Grundlage als
Begleittext zu seinem ersten Vortrag der Wissen-schaftslehre in Jena war
- der Erwartung seiner Hörer entgegenkommend oder weil es ihm nicht
anders einfiel? - Fichte vorgegangen, wie man bis dahin beim Vortrag
eines rationali-stischen metaphysischen Systems vorgegangen war: zuerst
die Prinzipien aufstellend, aber dozierend und nicht entwickelnd,
darauf zweitens einen 1., theoretischen Teil aufbauen und dann einen 2.,
praktischen Teil anfügen.
Dass er, anders als die rationalistische Metaphysik und noch der kritische Kant, nicht mit vorgegebenen Begriffen konstruiert, sondern lebendige Vorstellungen
aus einander hervor-treibt, war ihm als Differentia specifica seines
Philosophierens noch gar nicht klar gewor-den, und wurde es erst im
Verlauf seiner Vortragstätigkeit an der Universität. Mit dem Vor-trag nova methodo in den Jahren 1798/99 wurde diesem sachlichen Unterschied nun auch formal Rechnung getragen, aber der geriet in den Atheismusstreit hinein und blieb für Fichtes weiteres Denken leider ohne Folgen.
JE, 13. 4. 19
Nota. Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
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