Selbstbewusstsein
Unser fragiles Ego
Das Eigenbewusstsein ist eines der wichtigsten Merkmale, das den Menschen zum Menschen macht. Doch wie werden wir unserer selbst bewusst? Und warum ist das Selbstbewusstsein so oft ein Hort der Probleme?
Manche fühlen sich bestens, wenn sie nur ein frisches Oberteil tragen, andere benötigen dazu ein komplettes Make-Over. Einige lassen sich selbst durch gröbste Kritik nicht erschüttern, für andere genügt bereits ein schiefer Blick. Hinter all dem steht unser allzu menschliches Selbstbewusstsein. Ein schwer zu erklärender, im tiefsten Maße philosophischer Faktor, der jedem Menschen zu eigen ist und einen enormen Anteil an der Charakterausprägung und der Ich-Wahrnehmung hat. Dieser Artikel erläutert das Selbstbewusstsein und zeigt auf, wie man es verstärkt – oder nötigenfalls mäßigt.
Das Bewusstsein des Ichs in allen Facetten
„Wer bin ich?“ Diese Frage ist der vielleicht zentralsten der Menschheitsgeschichte. Hier tritt die erste Definition des Selbstbewusstseins auf:
Die Tatsache, dass wir uns selbst als Individuen
erkennen, ansehen und anerkennen.
erkennen, ansehen und anerkennen.
Dabei ist der Mensch nicht das einzige Lebewesen, das sich seiner selbst bewusst ist. Denn auch wenn die Forschung im Bereich des tierischen Selbstbewusstseins durch die Kommunikationshürden enorm schwierig ist, gibt es doch zumindest starke Indikatoren dafür, dass wir Menschen nicht die einzigen sind, die sich selbst wahrnehmen können.
Was nach derzeitigem Stand aber erwiesen ist: Kein anderes Lebewesen verfügt über eine derart vielschichtige Fähigkeit zur Eigenwahrnehmung. Viele Tiere erkennen sich zwar selbst im kognitiven Spiegel-Test; diese niedrigschwellige Erkenntnis ist beim Menschen jedoch eine Fähigkeit, die bereits im Säuglingsalter hervortritt. Mit fortschreitender Entwicklung wird das menschliche Selbstbewusstsein immer komplexer und vielschichtiger – allerdings auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark.
Selbstwert und seine Facetten
„Ein gesundes Selbstbewusstsein“. Abermals lässt sich eine Begriffsdefinition auf nur wenige Wörter herunterbrechen:
Das Erkennen und Einordnen des eigenen Werts im Umfeld
einer Gruppe bzw. der gesamten Gesellschaft.
einer Gruppe bzw. der gesamten Gesellschaft.
Just hierin besteht die im Gegensatz zur ersten Definition nochmals deutlich personenabhängigere und weiter verästelte Komponente des Selbstbewusstseins. Der Grund dafür ist, dass Wertdefinitionen nicht nur einem zeithistorischen und kulturellen Wandel unterliegen, sondern auch, dass die Fähigkeit zur Selbstreflexion bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
Damit findet sich hier bereits auch die Wurzel dessen, warum es bei vielen Menschen ein vom kulturellen Mittelmaß abweichendes Ego gibt.
Eine philosophische Komponente
In der Philosophie ist das Selbstbewusstsein eines der ältesten und am stärksten diskutierten Themen. In diesem Zusammenhang steht der berühmte Ausspruch des Philosophen René Descartes:
„Cogito, ergo sum“
Ich denke, also bin ich
Dabei ist interessant, dass dieser Satz und die dahinterstehende Denkweise zwar auch heute noch zentral sind. Gleichsam hat sich die philosophische Selbstbewusstseinsdebatte zu einem viel stärker interdisziplinär ausgetragenen Forschungsschwerpunkt gewandelt. Nicht mehr nur Philosophen, nur Verhaltensforscher, nur Neurowissenschaftler beschäftigen sich unabhängig voneinander damit, sondern es gibt gemeinsame Forschungsanstrengungen.
Dazu ein Satz von Professor Doktor Olaf Blankes, Chef des Labors für Kognitive Neurowissenschaften am Polytechnikum von Lausanne, der sich unter anderem mit der neuronalen Integration von Prothesen befasst:
„Die Basis unseres Ich-Bewusstseins gründet in Hirnmechanismen,
welche verschiedene Signale unserer Sinnesorgane zu einer
stabilen, globalen Körperrepräsentation zusammenfügen“
welche verschiedene Signale unserer Sinnesorgane zu einer
stabilen, globalen Körperrepräsentation zusammenfügen“
Anders formuliert: Art und Weise wie wir uns selbst bewusst sind, hängen davon ab, dass all unsere Sinne und das Gehirn vollumfänglich funktionieren. Dabei scheint besonders die optische Komponente einen besonderen Stellenwert einzunehmen. Darauf deuten zumindest Forschungsarbeiten von Prof. Dr. Blanke hin, sodass für ihn die Descartes-Aussage eher „video, ergo sum“ – ich sehe, also bin ich, lautet.
Warum es so wichtig ist
Wieso ist es wichtig, dass jeder Mensch sich seiner selbst und seines Werts in der Gesellschaft bewusst ist? Dahinter stehen mehrere Gründe:
- Es ist zwingend notwendig, um Individuen hervorzubringen. Eine Gesellschaft ohne Selbstbewusstsein würde sich wie eine Gruppe Kleinkinder verhalten, also Verhaltensweisen nur nachahmen. Die Folge wäre ein ausgesprochenes Herdenverhalten; je nach Ausprägung auch mit einem „Leittier“.
- Es ist unabdingbar, um eine Gesellschaft voranzubringen. Ohne Selbstbewusstsein gäbe es keine Erkenntnis. Dadurch auch kein Erkennen einer Notwendigkeit von Änderungen. Eine selbstbewusstseinslose Gesellschaft stünde für immer auf der Stelle.
- Es ist zentraler Bestandteil dessen, was sich als Wertekanon definieren lässt. Ohne Selbstbewusstsein wäre es schwierig bis unmöglich, zu definieren, was richtig und falsch ist.
Selbstbewusstsein: In die Wiege gelegt?
Es wurde bereits erwähnt, dass schon Säuglinge in der Lage sind, ein Spiegelbild von sich als Abbild ihrer selbst zu deuten. Bedeutet das also, dass das Selbstbewusstsein in die Wiege gelegt ist? Leider nein.

Von frühkindlicher Erziehung
Ein Neugeborenes hat, grob gesagt, kein Selbstbewusstsein. Alles, was ein Mensch in diesem Alter wahrnimmt, geschieht vollständig und vor allem unmittelbar über Sinneseindrücke. Alles, was er tut, ist zunächst nur trieb- und impulsgesteuert. Was uns allerdings in die Wiege gelegt ist, ist der Drang und die Fähigkeit, nachzuahmen.
Primär ist das ein reiner Überlebensmechanismus: Nur wer rasch lernt, von Eltern und anderen Personen abzuschauen, bekommt das nötige Wissen, um selbst zu überleben. Damit unterscheidet sich der Mensch allerdings nicht von der Majorität des Tierreichs: Abschauen und Nachmachen gehört im gesamten Säugetier-Spektrum und weit darüber hinaus zur zentralen Überlebensstrategie einer Gattung.
Beim Menschen jedoch führt das Aufaddieren von Nachahmungsprozessen durch die höhere Leistungsfähigkeit unseres Gehirns auch dazu, dass sich ein Ich entwickelt – hierin verbirgt sich auch das eigene Erkennen im Spiegel als erste merkliche Stufe dieses jahrzehntelangen Prozesses. Das, was wir als Säuglinge von unseren Eltern nachmachen, bildet den Grundstock des Selbstbewusstseins. Jahr für Jahr wird es immer weiter verfeinert. Und zwar aus der Summe von:
- Anpassung,
- Gewohnheit,
- Konditionierung und
- Nachahmung
Eine Summe von Erfahrungen
Während in den ersten Lebensjahren vor allem die vorgelebten und nachgemachten Verhaltensmuster das Selbstbewusstsein bestimmen, wandelt sich dieser Prozess mit den Jahren. Denn so, wie wir immer mehr Erfahrungen sammeln, lernen wir auch immer präziser, uns selbst einzuordnen.
Auch das beginnt bereits in jungen Jahren. Ein Kind beispielsweise, dass bei seinen ersten Gehversuchen in der Dunkelheit stolperte, wird häufig noch lange eine Unsicherheit gegenüber der Dunkelheit beibehalten.
Diese Summe von Erfahrungen ist auch deshalb wichtig, weil sie ein entscheidendes Kriterium bei der Erziehung ist: Ein junger Mensch, der immer „über Gebühr“ gelobt wird, kann ebenso ein falsches (hier übersteigertes) Selbstbewusstsein bekommen wie jemand, bei dem es umgekehrt verläuft.
Daraus wird es für Eltern auf dem Wege, ein gesundes Selbstbewusstsein ihres Nachwuchses auszuprägen, entscheidend wichtig, dem Kind eine Mittellinie vorzugeben. Nur daran kann es die Wertigkeit seines eigenen Verhaltens erkennen und sich orientieren. Tatsächlich kann dieser Faktor über das gesamte Leben von zentraler Bedeutung bleiben – zumindest ist es in späteren Jahren schwerer, diesen „Kompass“ neu einzunorden.
Das gesellschaftliche Normativ
Eine wichtige Rolle des Selbstbewusstseins spielt deshalb auch das gesellschaftliche Normativ. Also richtig und falsch, gut und böse, normal und unnormal, wie es durch die Gesellschaft, in der wir leben, vorgegeben wird.
Just hier kommt das angegebene Einnorden einen wichtigen Stellenwert: Leider garantiert selbst eine sorgsame Erziehung nicht, dass das Selbstwertgefühl in späteren Jahren immer optimal bleibt. Das liegt daran, dass Gesellschaften und ihre Wertvorstellungen sich wandeln. Die Definition von moralischem und amoralischem Benehmen, Aussehen, ja selbst Vorlieben und Abneigungen unterliegen einem beständigen Wandel – gut zu sehen etwa daran, wie sehr sich Schönheitsideale im Laufe der Jahre und Jahrhunderte wandelten.
Dabei eint derartigen gesellschaftlichen Wandel, dass er es jenen erschwert, deren Selbstbewusstsein schwächer ausgeprägt ist. Heute beispielsweise wird vielerorts eine hohe gesellschaftliche Erwartungshaltung gesehen, die Perfektion in Beruf und Privatleben einfordert – ein teils enormer Belastungsdruck, selbst für Menschen mit recht starkem Selbstbewusstsein, da es eine bestimmte Art von Ego braucht, um seiner Linie trotz Kritik von außen treu bleiben zu können.
Die falsche Abzweigung genommen
Doch es stellt sich die Frage: Warum haben viele Menschen ein Selbstbewusstsein, das wahlweise zu gering ausgeprägt oder überbordend ist? Es liegt an mehreren Faktoren, die in der Vergangenheit falsch liefen:
- Schlechte Erfahrung im engsten persönlichen Umfeld – etwa ständig nörgelnde oder umgekehrt übermäßig lobende Eltern.
- Zu geringe Möglichkeiten für Autonomie in Kindestagen, aber auch zu viele Freiräume ohne die Möglichkeit eines starken, positiven Gruppenzwangs als Korrektiv.
- Zu viele Kontakte mit Menschen, deren Selbstbewusstsein sich dramatisch vom eigenen unterscheidet – etwa ein Mensch mit eigentlich normalem Ego, der aber in einem von starken Konkurrenzkämpfen geprägten Umfeld arbeitet.
- Persönliche Stärken und Schwächen, sowohl physischer wie psychischer Natur, die stark vom gesellschaftlichen Normativ abweichen oder es übererfüllen.
Allerdings:
Jede Fehlausprägung von Selbstbewusstsein lässt sich korrigieren.
Der Mensch ist bis ins höchste Alter lernfähig. Deshalb ist es auch immer
möglich, das eigene Bewusstsein mit genügend Willen neu zu justieren.
Der Mensch ist bis ins höchste Alter lernfähig. Deshalb ist es auch immer
möglich, das eigene Bewusstsein mit genügend Willen neu zu justieren.
Selbstbewusstsein: So stärkt man es
Zumindest gefühlt überwiegt in der heutigen Gesellschaft der Anteil jener, die bei sich ein zu geringes Selbstwertgefühl sehen. Doch wie korrigiert man es?
Kleingemacht oder klein gefühlt?
Zunächst einmal muss man sich dabei die Frage stellen, welchen Anteil daran andere haben: Wird man vornehmlich von anderen kleingemacht oder macht man sich selbst kleiner als man ist?
Im erstgenannten Fall muss der erste Schritt darin bestehen, diese Personen:
- aus seinem eigenen Umfeld zu entfernen,
- ihnen ihr Fehlverhalten nach Möglichkeit klarzumachen und
- sich selbst davon zu überzeugen, dass man daran keine Schuld trägt.
Sich selbst ins rechte Licht rücken
„Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen“. Obwohl dieser Begriff dem Anschein nach nur für die äußere Wahrnehmung gilt, ist sie direkt auch mit der Eigenwahrnehmung verknüpft. Anders formuliert: Wie man sich gibt, so fühlt man sich auch. Doch wie geht das?
- Man passt sein Äußeres über die Kleidung so an, dass es besser dem gesellschaftlichen Normativ entspricht und dabei die eigenen Stärken hervorhebt, während es die Schwächen kaschiert. Das funktioniert bei geringer Körpergröße beispielsweise durch eine entsprechende Farbwahl, vertikale Muster und schlanke Schnitte ebenso wie bei es bei allen anderen, vom Normalmaß abweichenden Zuständen passende Lösungen gibt. Obwohl sich gerade die Mode stark an einheitlichen Maßgrößen orientiert, gibt es Möglichkeiten, das Beste für sich herauszuholen, auch, wenn man nicht den Standardmaßen entspricht.
- Man richtet sich auf, achtet auf eine insgesamt gerade, nach vorn schauende Körperhaltung. Wichtig ist es dazu, immer wieder in Spiegeln, Schaufenstern und dergleichen die Haltung zu prüfen. Ganz wichtig auch in diesem Zusammenhang: Lächeln.
- Man setzt sich Ziele, die man zwar überwinden muss. Aber nur solche, die durchaus in Reichweite liegen. Dafür gibt es Lob. Wenn schon nicht durch andere, dann durch einen selbst. Ja, man muss sich durchaus selbst loben können.
Akzeptanz als Basis
Man kann viel an sich ändern, um in eigenen und fremden Augen an Wert zu gewinnen. Der mit Abstand wichtigste Faktor hierin ist jedoch Akzeptanz seines eigenen Ichs:
Kein Mensch ist perfekt, keiner wird es jemals sein.
Viel hilft es dabei, sich seiner eigenen, bei jedem vorhandenen Stärken bewusst zu sein und sie auch gegenüber sich selbst lobend zu erwähnen – nötigenfalls, indem man sein Leben durch die Wahl eines neuen beruflichen Umfelds umkrempelt.
Selbstbewusstsein: So mindert man es
Menschen mit einem großen Ego haben automatisch ein noch größeres
Problem: Sie erkennen oft über lange Zeit nicht, dass ihr
Selbstbewusstsein viel zu groß ist. Häufig schleicht sich erst über
Jahre und im Angesicht von groben Niederschlägen eine Erkenntnis ein.
Genau dann muss jedoch ein korrektes Handeln folgen.
Ich oder mein Ego? Der kleine Unterschied
„Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“ – sagt nicht nur der Volksmund, dies stimmt gewissermaßen auch aus einem psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkt. Doch wie erlangt man Selbsterkenntnis? Vor allem, indem man lernt, zwischen dem zu unterscheiden, was man selbst denkt und was nur über das Ego so aussieht.
Wie das geht? Man muss aufmerksam und ehrlich in sich hineinhorchen:
Tut/will man etwas, weil man es aus tiefstem Herzen möchte
und für richtig befindet, oder nur, weil man sich dadurch
Anerkennung und Aufmerksamkeit verspricht?
und für richtig befindet, oder nur, weil man sich dadurch
Anerkennung und Aufmerksamkeit verspricht?
Zugegeben, das ist nicht einfach und es ist leicht, diese feinen inneren Nuancen zu übersehen. Aber wer ehrlich an sich arbeiten möchte – und nur diese Menschen haben überhaupt eine Chance, ein zu großes Selbstbewusstsein zu zügeln – kann es schaffen, wenn er sich die oben genannte Frage nur oft genug stellt.
Nicht der Nabel der Welt
Viele Menschen haben ein übersteigertes Selbstbewusstsein, weil sie immer wieder gesagt und vorgelebt bekamen, dass sie außergewöhnlich wären. Einem derartigen, vielleicht lebenslang genährten, Hochmut folgt nicht selten ein tiefer Fall. Danach sollte jedoch die Erkenntnis reifen und genährt werden, dass man selbst nicht der wichtigste Mensch in seinem Umfeld ist:
- Partner
- Beruf
- Freunde
- Familie
- Wohnumfeld
Vertrauen lernen, überbordendes Selbstbewusstsein reduzieren
Vielfach liegt einem zu großen Ego auch die Unfähigkeit zugrunde, anderen in ausreichendem Maß zu vertrauen. Vor allem hinsichtlich geteilter Fähigkeiten. Gesundes Selbstbewusstsein bedeutet, loslassen zu können, darauf zu vertrauen, dass andere es nicht wesentlich schlechter machen oder häufig einfach nur anders.
Doch wie auch die zuvor genannten Punkte ist dieser nicht einfach und vor allem ein Kampf gegen sich selbst. Aber es zeigt auch, dass es jeder in der Hand hat: Im Hintergrund lernt unser Selbstbewusstsein immer dazu. Wenn man nur lernt, in sich selbst hineinzuhören, gibt es fast immer eine Stimme, die einem einen meist überraschend richtigen Mittelweg vorgibt – damit schließt sich auch wieder der Selbstbewusstseinskreis. Denn diese innere Stimme stellt erneut ein zutiefst philosophisches Phänomen dar, für das es viele Erklärungsansätze zwischen Biochemie und Religion gibt.
Fazit
Ohne Selbstbewusstsein gäbe es keinen Menschen, der sich selbst als Individuum begreift. Auch dass es in so vielfältigen Facetten auftritt, ist letztlich für die menschliche Diversität der Schlüssel. Jedoch muss man verstehen, dass vieles darin eine Summe aus Erfahrungen und Entscheidungen ist – und deshalb niemals in Stein gemeißelt ist, sondern praktisch lebenslang formbar bleibt.
Nota. - Fangen wir gleich beim Schluss an: dass das Selbstbewusstsein "praktisch lebenslang formbar" sei.
Ein solcher Schweinsgalopp durch das gesamte Feld der Ich-Problematik kann ohne Banalitäten schwerlich abgehen - zugegeben. Manchmal dienen die Banalitäten aber, wissentlich oder unbeabsichtigt, dazu, das Thema zu vernebeln.
So etwa, wenn es vom Selbstbewusstsein heißt, dass es "formbar" sei. Die Frage, wer es formt, stellt sich aber nicht erst unter soundsoviel anderen, sondern zu allem Anfang: denn sie entscheidet darüber, ob es sich um ein Selbst-Bewusstsein überhaupt handelt. Der Artikel zählt als formende Faktoren auf: Anpassung, Ge- wohnheit, Konditionierung und Nachahmung. Ein freier Wille kommt nicht vor.
Manche Stelle im Text scheint dem entgegenzustehen, etwa, wenn irgendwer irgendwas "einordnet". Besor- gen das "Hirnmechanismen"? Und sind die Ich oder sind die bei mir bloß zu Gast? Das ist doch nichts, was man in der Schwebe lassen darf! Denn die Hirnphysiologen haben - erinnern Sie sich? - vor Jahr und Tag mit empirischen Argumenten ein ganzes Weltbild darauf aufzubauen versucht, dass mein Hirn macht, was es will, und sich als mein Ich nur tarnt. Und polemisierten bei der Gelegenheit gegen das, was sie "das Ich der Philosophen" nannten.
Flankierend kommt oben der Satz hinzu, dass keiner perfekt sei noch sein könne. Da werden Begriffe be- nutzt, die aus der Erfahrung - und die ist immer die Erfahrung der einen oder der andern - gar nicht zu be- stimmen sind, sondern auf Werturteilen beruht, die der Erfahrung vorausgehen, weil diese durch jene über- haupt erst möglich wird.
Was selbst und was nicht der Andere (z. B. "die Gesellschaft") ist, ist eine philosophische Frage, die ich nicht nachträglich aus meinen Erfahrungen herauslesen kann, sondern von vornherein in sie ordnend hin- eintragen muss. Und was 'perfekt' sein soll, kann die Erfahrung schon gar nicht entscheiden. Sie sagt nur, dass ich irgendwo nicht weiter kam. Ob ich oder irgendwer aber weiter kommen könnte, kann sie nicht wis- sen. Es ist ein Maß, das ich aufstellen musste, bevor das Erfahren losging. Ein eignes Urteil ist aber nur möglich unter Vorausssetzung eines freien Willens.
Wer aus freiem Willen ein eignes Urteil fällt, müsste sich dazu allerdings als bevollmächtigt auffassen: perfekt wenigstens in dieser Hinsicht.
"Hinsicht"? Der Empiriker, der nur auf Erfahrungen baut, sagt: Ist oder ist nicht. Erfahrung stellt fest, Erfahrung widerlegt. Erfahrung ist handfest. Hinsichten sind Haarspaltereien von Hirnwebern...
Philosophie ist keine Erfahrungswissenschaft mit positiven Resultaten, sondern eine kritische Disziplin, deren Gegenstand die Voraussetzungen sind, unter denen wir Erfahrungen machen. Die Voraussetzungen liegen ihr zu Grunde. Sie können nur spekulativ, nämlich durch Denken aufgefunden werden. Wenn die Philosophie von einem Ich redet, dann von dem, das Erfahrungen macht.
Für Descartes, der die Hinwendung der Philosophie von den Gegenständen der Erfahrung weg zum dem Vermögen des Erfahrungmachens eingeleitet hat, war das Denken der Anfang. Ihm ging es um Klarheit und Deutlichkeit des Verfahrens; doch nicht wirklich um das Verfahren selbst. Erfahrung heißt nicht bloß, dass einer etwas bemerkt; Erfahrung heißt, dass er es versteht. Dazu braucht er Begriffe. Wie kommen wir zu Begriffen? Diese Frage nannte Kant Transzendental-Philosophie - weil sie nicht von dem handelt, was hin- ter der Erfahrung kommt, sondern vor ihr. Und ebenso vorher - bevor wir von ihm Erfahrung machen und bevor es selber Erfahrungen macht - kommt das transzendentale Ich. Das "Ich der Philosophen", von dem die Hirnforscher rede(te)n, stammt daher.
Doch da es von ihm keine Erfahrung gibt, kann man es weder 'komplex' noch 'vielschichtig' nennen. Es ist auch nicht das- oder derjenige, das oder der Selbstbewusstsein hat. Es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass wirkliche, lebendige Menschen ein Selbstbewusstsein aus sich hervorbringen. Ach, man kann es nicht verhehlen: Es ist selber gar nicht real!
Darum kann es in der Psychologie und in der Neurologie, die beide Erfahrungswissenschaften sind, auch nicht vorkommen. Es stammt aus der Philosophie und dort bleibt es. Das Interesse der Philosophen galt nämlich nicht der Frage, wie eine Person X zu einem Bewusstsein von 'sich selbst' gelangt. Vielmehr ging es darum, was Vernunft ist, woher sie kommt und wie sie sich rechtfertigt. Kant Hauptwerk heißt darum Kritik der reinen Vernunft, wobei er unter Kritik Prüfung und Wertung versteht.
Ausgangspunkt ist, dass Menschen tatsächlich vernünftig handeln; nicht alle im gleichen Maß und auch nicht jederzeit: aber im gegebenen Fall, und dass es also Vernunft wirklich gibt. Gegenstand der Philoso- phie ist seit Kant nicht der ganze Mensch mit Stoffwechsel, Leidenschaften und Gebrechen, sondern das- jenige an ihm, was ihn zur Vernunft befähigt. Wie er von dieser Fähigkeit wirklich Gebrauch macht, ist Gegenstand mancher anderen Wissenschaften. Der Philosoph will wissen, worin sie besteht und was sie tut.
Psychologie und Neurophysiologie mögen davon berichten, wie das Gehirn beim Denken verfährt, aber was es denkt, kann nur der Denkende selbst sagen, und was daran vernünftig ist, kann er nur sagen, sofern er philosophiert. Vernünftig ist, sich in der Welt Zwecke zu setzen, die man vor dem eigenen Urteil vertre- ten kann. Irren kann sich jeder, entscheidend ist der Richtstuhl des eigenen Urteils. Vorausgesetzt ist die Freiheit des Urteils - von fremden Einflüssen und gegenüber unvernünftigen Anmutungen des eignen Selbst. Ist das Urteil frei? Es kann es sein, weil es das soll.
Ab hier haben Erfahrungswissenschaften das Wort.
JE
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