Freitag, 17. April 2020

Musik und Erotik.

aus FAZ.NET, 16.04.2020                                           Max Klinger, Sirene, 1895
Erregung, Verzögerung, Höhepunkt
Die Hirnforschung bestätigt es: Musik hat viel mit Erotik und Sex zu tun. Doch das Verhältnis ist raffiniert, und die Codes des Glücks wollen erlernt werden.

Von Jan Brachmann 

...Billy Wilder hat diese soziale und kulturelle Bedingtheit unserer erotischen Ansprechbarkeit durch Musik in seiner Hollywood-Komödie „Das verflixte siebte Jahr“ ebenfalls pointiert ins Bild gesetzt, als Tom Ewell glaubt, mit dem zweiten Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow ein Techtelmechtel mit Marilyn Monroe anbahnen zu können, was nicht funktioniert, da ihr libidinöses System musikalisch anders codiert ist. 

Die erogenen Zonen der Durtonleiter

In der europäischen Kunstmusik zwischen Monteverdi und Rachmaninow allerdings hat es gut dreihundert Jahre lang eine recht stabile Matrix des Erotischen gegeben. Sie arbeitet mit dem Qualitätsunterschied von Dissonanz und Konsonanz sowie von Nebentonarten in gestaffelter Entfernung zur Grundtonart. Beide musikalischen Polaritäten – die Auflösung der Dissonanz in die Konsonanz, die Rückkehr zur Grundtonart – werden empfunden als Verhältnis von Spannung und Entspannung, von Reiz und Stillung, Begehren und Befriedigung. Schon das Schlussduett „Pur ti miro“ aus Claudio Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“, das vermutlich gar nicht von Monteverdi stammt, sondern von Francesco Sacrati, Benedetto Ferrari oder Francesco Cavalli, übersetzt das Liebesspiel der Worte, die variantenreiche Verbalerotik der körperlichen Vereinigung zwischen Nero und Poppea, in eine Verschärfung des Dissonanzgrades als Steigerung der Lust. Im gezielten Ansteuern von Sekundreibungen zwischen den Singstimmen oder in Quart-Vorhalten vor dem fallenden Bass stimuliert der Komponist die erogenen Zonen der Durtonleiter, um die jeweilige Auflösung in die Konsonanz immer intensiver wirken zu lassen.


Richard Wagner: Vorspiel und Liebestod aus "Tristan und Isolde" (instrumental) 

Richard Wagner hat später in „Tristan und Isolde“ dieses Prinzip auf eine ganze Oper ausgedehnt und den weitgehend durchchromatisierten, auf harmonische Dauerspannung zielenden Satz im „Liebestod“ Isoldes aufgelöst, wobei dieser „Liebestod“, um im Diskurs zu bleiben, sehr viel erzählt über die Fähigkeit Isoldes zum multiplen Orgasmus. Denn die Belohnungen, die Wagner hier, nach dreistündigem Aufschub von Entspannung, spendiert, explodieren mehrfach und sind gerade deshalb so überwältigend – und zugleich gefährlich, weil damit ja eine Erotisierung, gar Sexualisierung des Todes einhergeht.  In seinem Roman „Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks“, den der derzeitige Intendant der Salzburger Festspiele Markus Hinterhäuser gewitzt und kenntnisreich ins Deutsche übertragen hat (Jung und Jung 2012), gibt der Schriftsteller Gabriel Josipovici die fiktive Unterhaltung eines italienischen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts – in dem unschwer Giacinto Scelsi zu erkennen ist – mit seinem Kammerdiener Massimo wieder, das eine Grundsatzkritik sexueller Standarddramaturgien in der Kunstmusik Europas enthält: „Die Meister des Tantra wussten, was sie taten, Massimo, sagte er. Sie wussten, was sie anstrebten. Das Prinzip des Tantra, Massimo, sagte er, ist das Prinzip der Zurückhaltung des Samens. Wir müssen dem sexuellen Höhepunkt so nahe wie möglich kommen, sagte er, ohne die angestaute Spannung explodieren zu lassen, wie es beim normalen Geschlechtsverkehr der Fall ist. Sie muss in den Kreislauf zurückgeführt werden, so dass wir es der Lust ermöglichen können zu zirkulieren, wenn es sein muss für immer. Es ist eine Fertigkeit, deren Beherrschung viele Jahre benötigt, sagte er. Die westliche Musik von Mozart bis Mahler, sagte er, ist nichts als eine hinausgezögerte Befriedigung, die im Vollzug und in der Erschöpfung ihr Ende findet. Das ist die Musik von Heranwachsenden, Massimo, sagte er. Es ist die Musik von jugendlichen Onanisten. Unsere Musik hat einen anderen Weg genommen, sagte er, sie ist zu ihren uralten Wurzeln zurückgekehrt. Sie ist geflüchtet von der kindlich-infantilen Imitation des Geschlechtsverkehrs, vor der Berührung, der Erregung, dem Hinauszögern, dem Taumel und der Auslöschung, die als Modell für die romantische Musik dienten und der Grund waren für ihre gewaltige Popularität innerhalb der unterdrückten deutschen und österreichischen Mittelklasse, die sich vorstellte, dass sie sie in einen schöngeistigen Himmel führen würde.


 
Fini Henriques: Erotikon op. 56 für Violine und Klavier © Johannes Søe Hansen/YouTube

So treffend Josipovici hier durch die Maske von Scelsi zentrale Verlaufsformen westlicher Kunstmusik beschreibt, so ungerecht ist er gegenüber mancher Abweichung vom Standard und in der Eingrenzung der Popularität auf die deutsche und österreichische Mittelklasse. Eine der ersten Musiken, die explizit „Erotik“ übertitelt wurde, nämlich die Nummer fünf aus den „Lyrischen Stücken“ für Klavier op. 43 von Edvard Grieg, verfolgt nämlich gerade keine ergebnis- und abschlussorientierte Dramaturgie. Die Erregungsphase führt – anders als in vielen „Dialogues“, „Causeries intimes“ und „Liebesträumen“ der Klaviermusik des neunzehnten Jahrhunderts – nicht zum Höhepunkt, sondern zu einer zärtlichen Zurücknahme in den Anfang, quasi wirklich in einen Kreislauf der Lust.

Auch der Däne Fini Henriques, Freund von Carl Nielsen und Jean Sibelius, hat sich in der Instrumentalmusik mit der Suite „Erotik“ für Klavier, dem „Erotikon“ für Violine und Klavier oder dem Eingangsstück „Erotik“ seiner „Lyrischen Suite“ für Klavier ganz explizit diesem Thema gewidmet, ohne dem von Josipovici inkriminierten Schematismus zu verfallen. Eher beschreibt er, auch in Gegenwehr zu einer Dämonisierung des Eros bei August Strindberg, einen zarten Zauber, der seine eigene Hinfälligkeit immer mitdenkt. Es ist nicht die Erotik der Heranwachsenden, sondern eine Erotik der Weisheit, die dem direkten und schnellen Weg zum Glück misstrauen gelernt hat, ohne das Glück selbst zu verschmähen.

Wir wissen aus Studien der Hirnforschung der letzten Jahre, etwa an der kanadischen McGill University, dass das Anhören von Musik die Ausschüttung von Dopamin im Gehirn auslösen kann und damit ähnliche Belohnungserlebnisse schafft wie beim Essen, beim Sex oder beim Drogenkonsum. Wenn Versuchspersonen ihre Lieblingsmusik hören, dann nehmen sie den Höhepunkt bereits vorweg. Einige Sekunden vor dem Gipfel des Glücks wird der Nucleus caudetus, in dem der Aufbau von Erwartungshaltungen lokalisiert ist, bereits mit dem Belohnungshormon Dopamin geflutet. Mit dem Höhepunkt selbst wird dann der Nucleus accumbens, das eigentliche Belohungszentrum, aktiv. Schauer laufen den Nacken herunter, Gänsehaut entsteht.
Edvard Grieg: Erotik op. 43 Nr. 5  

Bislang fragten sich Forscher ergebnislos, warum ausgerechnet Musik so starke Belohnunungsreaktionen auslöst, wie das sonst nur bei der Nahrungsaufnahme und der Sexualität der Fall ist. Denn dieses Belohnungsempfinden scheint menschlich universell zu sein. Auch Kenner der Tai-Tu-Musik, alter aristokratischer Kunst in Südvietnam, beschreiben, dass sie bei Verzierungen einer bestimmten Tonstufe eine Gänsehaut bekommen. Es ist eine intensive körperliche Reaktion auf einen musikalischen Vorgang, der hochgradig kulturell vermittelt ist.

Höchst spekulativ, aber eine Untersuchung wert wäre die Frage, ob die weltweite Durchsetzung der europäischen Dur-Moll-Tonalität und des mit ihr verbundenen Dissonanz-Konsonanz-Gefälles nur eine Folge westlichen Kulturimperialismus, also einer musikalischen Kolonisierung ist oder ob sie vom Belohnungssystem des menschlichen Gehirns besonders leicht adaptiert werden kann. Dann hätten wir es – höchst paradox – mit einer biologischen Auslese kultureller Codes zu tun. In jedem Fall aber verspricht die Beschäftigung mit Musik und das Erlernen ihres kognitiv-somatischen Sprachsystems eine Steigerung unserer Glücksfähigkeit.


Nota I. - Anders als Wagner, Henriques und Jan Brachman scheint Edvard Grieg den Unterschied zwischen Erotik und Sexualität bemerkt zu haben; klein, aber fein: Diese hat (wie die Musik?) ein physiologisches Substrat, jene nicht - aber ein ästhetisches?

Nota II. - Im Übrigen ist es die rhythmische Qualität der Musik - nämlich auch in der Harmonik der Wech- sel -, die der Autor für ihre, wie er sagt, erotische, in Wahrheit aber sexuelle Spannung verantwortlich macht.
JE

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