Donnerstag, 30. April 2020

Der Genter Altar, II.


aus nzz.ch                                                                                                             Seitenflügel von Jan van Eycks Genter Altar (1432).
Trotz in den Augen
Um 1430 hat Jan van Eyck eine Vision der himmlischen Herrlichkeit geschaffen und ein radikal neues Menschenbild entworfen. 

von Dominique Provost

Der Flame Jan van Eyck hat die Malerei revolutioniert. Sein Meisterwerk, der Genter Altar, zeigt den Menschen in seiner Hinfälligkeit – und seiner Grösse.

War Joos Vijd ein frommer Mann? Nun ja, zweifellos. Wahrscheinlich hätte niemand, der ihn kannte, etwas anderes behauptet. Aber vielleicht hätten seine Zeitgenossen die Frage genauso wenig verstanden wie er selber. Fromm sein, was hiess das schon? Glauben, das war im Gent des frühen 15. Jahrhunderts etwas wie Essen und Trinken. In die Messe ging man so selbstverständlich, wie man den Rock anzog, bevor man das Haus verliess, und das Vaterunser betete man mit der gelassenen Routine, mit der man sich nach dem Essen den Mund abwischte.

Fromm sein, das hiess für Joos Vijd: tun, was man tun musste. Tun, was alle taten. Und es so tun, dass alle sahen, dass man es tat. Schliesslich war Vijd ein Mann von Welt. Er gehörte zu den Happy Few des burgun-dischen Flandern, seine Frau entstammte einer angesehenen Genter Familie, er war wohlhabend, hatte Ein-fluss. Joos’ Vater war ein Vertrauter des letzten Grafen von Flandern gewesen. Er selber war Mitglied des Rats von Gent, einmal wurde er zum Bürgermeister gewählt. Einer also, auf den man hörte.

Und einer, der etwas auf sich hielt. Um 1420 beschloss Joos Vijd mit seiner Frau Elisabeth Borluut, etwas für sein Seelenheil zu tun und seinen Ruhm zu mehren. Mit der Stiftung eines Kunstwerks, das die Namen des kinderlosen Paars in Erinnerung halten sollte. Die Gelegenheit dafür war günstig. Die Pfarrkirche Sankt Johannes war zu klein geworden für die boomende Stadt und musste erweitert werden. Der romanische Bau wurde in eine gotische Kathedrale umgebaut. Dabei entstanden neue Seitenkapellen, und das Paar be-schloss, eine davon zu finanzieren und sie mit einem Altar auszustatten.

Es sollte nicht irgendein Altar sein, sondern ein Werk, das Massstäbe setzte: der grösste Flügelaltar in ganz Flandern. Als Künstler wählten Joos Vijd und Elisabeth Borluut dafür einen der renommiertesten Maler der Zeit: Hubert van Eyck. Wie der Auftrag für das Werk lautete, wie Huberts Entwürfe aussahen und wie weit er in der Ausführung kam, wissen wir nicht. Mitunter wird sogar bezweifelt, dass Hubert über die Konzep-tion hinaus überhaupt eine Rolle spielte. Fest steht, dass er im September 1426 starb – zu einem Zeitpunkt, als der Altar bei weitem noch nicht fertig war.

Das war ärgerlich. Die Arbeit wurde zwar von Huberts jüngerem Bruder Jan übernommen, allerdings nicht sofort. Denn Jan war ein vielbeschäftigter Mann: Als Kammerherr und Hofmaler Philipps des Guten, des Herzogs von Burgund, hatte er weit mehr zu tun als Bilder zu malen. Jan war eine Art Eventmanager, ver-antwortlich für den optischen Auftritt des burgundischen Hofs. Er entwarf Inszenierungen für Feste, fertigte Dekorationen und malte Schilde für öffentliche Auftritte. Auch eine Weltkarte soll er gezeichnet haben, wahrscheinlich als Grundlage für die Planung eines Kreuzzugs, der im Kopf seines Dienstherrn herum-spukte.

Ausserdem war Jan van Eyck mehrmals in diplomatischer Mission unterwegs. In den Archiven des Hofs ist von «geheimen Reisen» die Rede. Wohin sie führten, ist naturgemäss meist unbekannt. Doch bei der Reise, die er Anfang 1428 unternahm, weiss man es. Da war Jan im Auftrag des Herzogs am Hof des Königs von Portugal, als Mitglied einer Delegation, die Verhandlungen über eine Heirat Philipps mit Isabella, der por-tugiesischen Infantin, zu führen hatte. Seine Aufgabe bestand darin, zwei Porträts der Prinzessin zu malen, von denen eines zu Land und eines auf dem Seeweg an den Hof geschickt wurde, damit sich der Herzog ein Bild von seiner zukünftigen Gattin machen konnte.

Es scheint, dass Philipp mit van Eycks Arbeit zufrieden war – und vielleicht noch mehr mit den dynasti-schen Perspektiven, die er sich von seiner dritten Ehe versprach. Rund zwei Jahre später, im Januar 1430, vermählte er sich mit Isabella. Wichtige Entscheidungen brauchen Zeit, und eine Hochzeit, wie sie der Herzog feierte, lässt sich nicht von heute auf morgen organisieren. Glaubt man den zeitgenössischen Chronisten, war die Inszenierung gewaltig, der Aufwand, der getrieben wurde, fast unvorstellbar. Auch dazu dürfte Jan einiges beigetragen haben.

Bereits vorher hatte er die Arbeit am Altar begonnen, den sein Bruder unvollendet zurückgelassen hatte. Was von den zwölf grossformatigen, zum Teil beidseitig bemalten Holztafeln auf Jan zurückgeht und was von Hubert angelegt war, lässt sich nicht mehr entscheiden. Generationen von Kunsthistorikern haben sich um eine Klärung bemüht – mit wenig überzeugenden Resultaten. Am Ende wird es so sein, wie es die latei-nische Versinschrift auf der Aussenseite der Altartafeln sagt: «Der Maler Hubert Eyck, der bedeutender war als alle anderen, hat dieses Werk begonnen, und sein Bruder Johannes, in der Kunst der zweite, hat die schwere Aufgabe vollendet.»

Eine einfache Aufgabe war das tatsächlich nicht. Der Genter Altar ist ein Riesenwerk, und es ist vom ma-jestätischen Hauptbild mit Christus, Maria und Johannes dem Täufer und der Verehrung des Lamms Gottes über die hinreissende Verkündigungsszene bis zu den anrührenden Darstellungen von Adam und Eva so aufwendig gemalt, dass ein Einzelner damit kaum zurande kam. Allein das Zepter, das der thronende Chri-stus auf der Haupttafel in der Hand hält, dürfte einen Maler rund einen Monat lang beschäftigt haben. Ohne Hilfe einer ausgezeichneten Werkstatt hätte Jan die Aufgabe nie bewältigt.


Jan van Eyck zeigt nicht nur das Äussere der Menschen, auch wenn es um Adam und Eva geht: Seitenflügel des Genter Altars (1432).

Er schaffte es, und wie! Am 6. Mai 1432 wurde der Altar geweiht, und die Festlichkeiten dürften für Joos Vijd ein Triumph gewesen sein. Alles spricht dafür, dass sogar Philipp der Gute zugegen war. Der Herzog kannte Vijd. Einige Jahre zuvor hätte dieser in seinem Auftrag in Den Haag über einen Frieden zwischen Philipp und Jakobäa von Bayern verhandeln sollen. Dazu kam es allerdings nie: Jakobäa floh, statt Gesprä-chen gab es Krieg.

Vijds Verbindung zum Herzog lässt sich über mehrere Generationen verfolgen. Sein Vater hatte im Dienst von Philipps Grossvater gestanden, bis man ihn beschuldigte, Geld veruntreut zu haben, und des Amts ent-hob. Gut möglich, dass der Sohn mit der Stiftung des Altars auch die Absicht verband, die Schuld seines Vaters zu tilgen und die Verbindung zum Herzog zu festigen.

Das zentrale Motiv des Genter Altars, das Lamm Gottes, steht symbolisch für den leidenden Christus und verbindet die Hoffnung auf Vergebung aller Sünden mit einer Vision der himmlischen Herrlichkeit. Es konnte aber auch als Anspielung auf den Orden vom Goldenen Vlies verstanden werden, den Philipp kurz zuvor gestiftet hatte. Als der Altar geweiht wurde, dürfte der Herzog das Ordenszeichen, das goldene Wid-derfell, auf seiner Brust getragen haben.

Vielleicht sollte der Genter Altar also auch ein heimliches Zeichen der Verbundenheit des arrivierten Bürgers mit dem Herzog sein. Und zugleich Ausdruck für das fragile Selbstbewusstsein eines Mannes, der nicht von altem Adel war und sich stets etwas zurückgesetzt fühlte. Mit dem Altar hatte Joos Vijd nicht nur Gottes All-macht verherrlicht, sondern auch sich selbst und seiner Frau ein Denkmal gesetzt. Niemand kam an den le-bensgrossen Porträts der beiden Stifter vorbei, die rechts und links knien und für ihr Seelenheil beten.

...war ein selbstbewusstes Statement. Und es waren Bilder, wie sie noch niemand gesehen hatte. Schon die Zeitgenossen waren fasziniert. An Feiertagen, wenn die Altarflügel geöffnet waren, sollen sich die Besucher in der Kapelle gedrängt haben. Der Realismus, den Jan van Eyck erreicht, ist das eine. Man sieht jedes Fält-chen auf Elisabeths Stirn, jedes Äderchen auf Joos’ Schläfe und jedes Härchen auf seinem schlecht rasierten Kinn. Das Licht modelliert die Gesichtszüge in feinsten Schattierungen, und die technisch perfektionierte Ölmalerei lässt Haut und Gewänder so lebendig erscheinen, als ob wir den beiden gegenüberstehen würden.

Doch Jan van Eyck zeigt nicht nur das Äussere, sondern entwirft ein neues Menschenbild. Joos und Elisabeth sind nicht einfach sündige Geschöpfe, denen auf Erden nichts bleibt als Glaube und Hoffnung. Es sind Men-schen, die die Spuren ihres Lebens in sich tragen. Sie sind sich der Nichtigkeit ihres Daseins bewusst. Aber sie wissen auch um die Freiheit, die sie zu Menschen macht. Aus ihren Augen spricht nicht mehr nur die Angst vor den Strafen, die im Jenseits warten, sondern eine trotzige Skepsis, die sagt: Ich weiss, wer ich bin!

Das Museum der Schönen Künste in Gent zeigt Jan van Eycks Gesamtwerk und Teile des frisch restaurierten Altars zurzeit in einer wunderbaren Ausstellung, die Corona-bedingt geschlossen ist. Zur Ausstellung ist im Belser Verlag ein hervorragender, reich illustrierter Katalog erschienen, der im Buchhandel bezogen werden kann
(Fr. 89.90).

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