Samstag, 4. Juni 2022

Der Lohn der Ungewissheit.


aus spektrum.de, 2. 6. 2022                         

Rezension                                                                                                           
zu Philosophierungen
»Wetter, Viren und Wahrscheinlichkeit«
Mit Zahlen gegen den Zufall
Ian Stewart lässt Ungewissheiten mit Hilfe der Mathematik gar nicht mehr so ganz ungewiss erscheinen. Eine Rezension


von Thorsten Naeser

Kein Wunder, dass der Autor so denkt. Stewart ist einer der bekanntesten Professoren für Mathematik in Großbritannien und damit sicher ein extrem rational denkender Zeitgenosse. Das wird schnell deutlich, wenn man sein neues Buch zur Hand nimmt. Vor Zahlenreihen, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnungen sollte man nicht zurückschrecken: Sie sind elementarer Bestandteil der Lektüre. Wer sich im Reich der Zahlen wohlfühlt, ist nicht schlecht aufgehoben, wenn der Autor erklärt, wie Ungewissheiten mathematisch betrachtet gar nicht mehr so ungewiss erscheinen – und warum berechnete Vorhersagen durchaus eine hohe Chance haben, einzutreffen.

Als eines der ersten Beispiele führt Stewart das Auftreten von Seuchen und Pandemien an. Kein Wunder, entstand das Buch teilweise zu den Hochzeiten der Corona-Pandemie. Noch vor wenigen Jahrhunderten galten solche Katastrophen als zufällige Naturereignisse. Doch Fortschritte auf verschiedenen Gebieten – und Mathematik spielt dabei eine wichtige Rolle – hat uns Werkzeuge an die Hand gegeben, viele der schlimmsten Auswirkungen abzumildern, davon ist Stewart überzeugt. Wie die Mathematik der Medizin dient, erläutert er in einem eigenen Kapitel. Die aktuelle Covid-Pandemie thematisiert er darin aber nicht, stattdessen geht es unter anderem um Wahrscheinlichkeiten abgeschlossener Studien zum Thema Brustkrebs oder die Einnahme von Antidepressiva.

Von Pandemien über das Wetter zu den Quanten

Neben der Medizin kommen im Buch viele weitere Themen zur Sprache, bei denen die Mathematik Unwägbarkeiten abzufedern vermag. Etwa in der Wetterforschung, die sicher zu den schwierigsten Disziplinen gehört, wenn es darum geht, verlässliche Prognosen abzugeben. Zur Sprache kommt dabei auch die berühmte Frage, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien wirklich einen Sturm in Texas auslösen kann.

Spannend wird es auch gegen Ende, wenn es um die Mutter aller Zufallsereignisse, die Quantenungewissheit, geht. Die Quantenphysik lehrt uns, dass im Kosmos alles zufällig passiert. Vorhersagen werden schon im Ansatz vaporisiert. Auch Stewart bezweifelt, dass sich die Quantenungewissheit jemals ausräumen lassen wird, glaubt aber dennoch, dass es eine deterministische Erklärung dafür geben könnte.

Meist sieht der Autor die Ungewissheit als Problem, das den Blick in die Zukunft verwehrt. Doch Ungewissheiten können auch von Nutzen sein, schreibt er. Der unmittelbarste Nutzen trete bei der Lösung mathematischer Probleme auf. So kann man etwa in so genannten Monte-Carlo-Simulationen Lösungen aus vielen Probesimulationen von Ungewissheiten ableiten.

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Nach der Lektüre bleibt zumindest eine Gewissheit: Trotz aller Mathematik, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnungen wird unser Leben weiterhin von Zufällen und Unwägbarkeiten geprägt bleiben. Nicht zuletzt machen sie unser Dasein spannend und auch ein bisschen lebenswert. Die Zukunft ist ungewiss, das erkennt auch Stewart am Ende des Buchs an. Für ihn aber ist die Wissenschaft der Zukunft die Wissenschaft von der Ungewissheit.


Wetter, Viren und Wahrscheinlichkeit 
Ian Stewart
Wie wir die Ungewissheiten des Lebens berechenbar machen
Verlag: Rowohlt, Hamburg 2022
ISBN: 9783498001346 | Preis: 22,00 €


Nota. - Ist Ungewissheit der Preis der Intelligenz? Umgekehrt. Intelligenz ist der Lohn der Ungewissheit. Wären wir nicht aus der verbürgten Nische des angestammten ostafrikani-schen Urwalds in eine offene Savanne ausgebrochen und dort auf lauter Unvorhersehbares gestoßen, hätten wir Intelligenz nie gebraucht - und uns nie einfallen lassen.

 

Nur was zufällig ist, braucht einen Grund.
 Michelangelo, Sixtinische Kapelle

Wir haben jetzt die Frage zu beantworten: Wie kommt man zu obiger Frage? Und was tut man, indem man diese Frage nur streift? Die Frage nach dem Grunde gehört selbst zu den notwendigen Vorstellungen.

Man sucht nur den Grund von zufälligen Dingen. Die Philosophie überhaupt sucht den Grund von notwen- digen Vorstellungen; diese müssen also als zufällig gedacht werden. 

Es wäre Unsinn, nach dem Grund eines Dinges zu fragen, das ich nicht für zufällig hielte. Ich halte etwas für zufällig heißt: Ich könnte denken, dass es gar nicht oder dass es ganz anders wäre. So sind die Vorstellungen vom ganzen Weltsystem; wir denken uns die Erde füglich als anders sein könnend, und uns selbst können wir auf einen andren Planeten versetzt denken. Ob wir ohne solche Vorstellungen sein könnten, belehrt uns die Philosophie; aber dass wir das Weltsystem für zufällig halten, ist gewiss, denn nur darum können wir nach einem Grund fragen.

Dieses Faktum enthält die ganze Erfahrung; aus dieser geht man heraus, mithin auch aus der gesamten Erfahrung heraus, und dies ist Philosophie und nichts anderes.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, II. Einleitung, Hamburg 1982, S. 13
 

Nota I. - Der gesunde Menschenverstand sieht das ganz anders. Was zufällig ge-schieht, scheint ihm nicht hinreichend begründet, und was hinreichend begründet ist, kann eigentlich gar nicht anders sein. - Doch der gesunde Menschenverstand ist ein Metaphysiker, für ihn sind logische Gründe und reelle Ursachen dasselbe. Aber not-wendig ist nur das Logische, alles Faktische ist nur mehr oder minder wahrscheinlich, und also mehr oder minder kontingent. Für das metaphysische Denken sind indessen beides 'Kräfte' aus einem 'Stoff', denen ein und dieselbe Substanz 'zu Grunde liegt'. Und die stellen sie sich unweigerlich als einen Schöpfer vor - der selber aber 'ganz anders' hätte schöpfen können!

Die kritische Philosophie macht es möglich und recht eigentlich notwendig, sich das bloß Seiende, das lediglich ist, weil es ist, als einen Zufall vorzustellen. Erst dann kann und muss man immer fragen: warum? Und keine Antwort kann je die letzte sein, man muss immer weiter fragen: warum nun aber dies? Einen Anfang wird man nie finden, man müsste ihn schon postulieren. Doch auch nur die Kritische Philoso-phie erlaubt, einen Akt der Freiheit zu denken. 
10. 6. 16

 
Nota II. - Nein: Der gesunde Menschenverstand glaubt gar nicht an den Zufall. Ver-stand, nämlich kein Aberglaube, ist er eben wegen seiner Gewissheit des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Wenn eine Usache nicht offenkundig ist, nimmt er eine an, die so vielfältig vermittelt ist, dass sie ihn - den gesunden Menschverstand - übersteigt. Chaostheorie versteht er vielleicht nicht, aber er glaubt sie gern. Die Vor-stellung, dass etwas einfach nur so ist, wie es eben ist, und keinen hinreichenden Grund dafür hat, ist ihm gar nicht möglich - so wenig wie dem Aberglauben: Auch der nimmt immer eine Ursache an, und gern auch eine okkulte.

Genauer gesagt, einen Verursacher. Den hat auch im Vernunftzeitalter noch das Kirchendogma verbürgt, im Deismus der Aufklärer wurde er lediglich aus der Welt heraus vor deren Anfang versetzt, als Uhrmacher und Anstoßgeber.

Fichte schrieb schon in der Epoche der Naturgesetze. Auch hinter denen steht die Annahme von einem, der gesetzt hat. Für die hinreichende Ursache ist a priori ge-sorgt; auch dann noch, wenn ich mir das Naturgesetz ohne gesetzgebenden Schöp-fer als unerschaffene, von sich aus wirkende Kraft vorstelle (die dann freilich selber ohne Grund wäre). Zufällig ist nun das, was nicht offenkundig unters Naturgesetz fällt; das bedarf einer Begrün-dung. So etwa die Welt, die schon war, bevor ein Ge-setz in ihr wirken konnte.


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Fichte geht es hier um die notwendigen Vorstellungen und den ganzen Komplex der Denknotwendigkeit. Es gibt ein Denken, das uns als notwendig vorkommt. Um das erklären zu können, müssen wir es im Gegenteil als zufällig denken: so, als ob es auch anders sein könnte. Da sagt er mehr, als er sich ausdrücklich zu formulieren wagt: Es muss selber aus Freiheit notwendig geworden sein; aus Freiheit notwendig. Das ist der einzige Grund, der selber keinen hat und daher in unserer Welt von Ursachen und Wirkungen als Zufall erscheint. Aber auch nur, weil er in unserer Welt gar nicht stattgefunden hat, sondern in der Vorstellung, und in unserer Welt erst wirklich wirkt, wenn er sich zu einem Ich bestimmt und Zwecke gesetzt hat.
JE, 4. 10. 18

 

 

 


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