Montag, 27. Juni 2022

Der wilde Cranach aus Wien.

aus derStandard.at, 21. Juni 2022           Kreuzigung Christi (Schottenkreuzigung)gilt als frühester Cranach (1500)

Wilde Jahre eines Meisters
Als Lucas Cranach Wien unsicher machte
Eine kleine und sehr informative Sonderschau im KHM beleuchtet die wenig bekannten Anfänge des produktivsten Malers der deutschen Renaissance

Er gilt als Maler der Reformation, war enger Freund von Martin Luther und sogar dessen Trauzeuge. Neben den Bibeldarstellungen ist Lucas Cranach der Ältere für seine Venusfiguren bekannt. Aus seiner Zeit als Hofkünstler der sächsischen Kurfürsten in Wittenberg und Werkstattleiter gingen hunderte Werke hervor – und machten ihn zum produktivsten Maler der deutschen Renaissance. Der Stil seiner Gemälde ist unverkennbar, ihre Entstehung erforscht. Cranachs Erbe findet sich in den großen Museen der Welt.

Der Zeitraum, bevor er 1505 nach Wittenberg kam, liegt hingegen weitgehend im Dunkeln. Allen Anzeichen nach hielt sich Cranach jedoch von 1500 bis zu seiner Abreise in Wien auf, erhielt hier einige Aufträge und fand im neu etablierten Humanistenkreis eine Kundschaft. Diese Anfänge des damals etwa 30-Jährigen beleuchtet nun eine kleine, aber äußerst informative Sonderausstellung im Kunsthistorischen Museum (KHM) Wien, die in Kooperation mit der Sammlung Oskar Reinhart "Am Römerholz" in Winterthur entstand.

Von insgesamt nur neun existierenden Gemälden aus der Frühzeit des 1472 im deutschen Kronach geborenen Künstlers (daher auch der Künstlername) werden in den Kabinetträumen der Kunstkammer sechs Stück (plus Zeichnungen und Holzschnitte) aus dem KHM sowie anderen Institutionen gezeigt.

Expressiver Körper, belebte Landschaft: Büßender hl. Hieronymus auf Lindenholz von 1502.

Eleganz vs. brutales Pathos

Generaldirektorin Sabine Haag nennt Cranach einen Meister, den man in- und auswendig zu kennen glaube, über dessen Anfänge aber relativ wenig Kenntnis herrscht. Der Titel Der Wilde Cranach verweist auf den überraschend expressiven Stil des Malers, der vermutlich von seinem Vater ausgebildet wurde und in Nürnberg im Umkreis von Albrecht Dürer Erfahrungen sammelte.

In Kontrast stehen diese pathetisch aufgeladenen, leidenschaftlichen bis verstörenden Szenen zu dem für Cranach sonst üblichen höfisch-eleganten Stil. Das 1537 entstandene Bild Adam und Eva repräsentiert in der Ausstellung Pars pro Toto das bekannte Spätwerk: ruhige Eleganz versus brutales Pathos.

Brutal und verstörend: Der Holzschnitt  Kalvarienberg von 1500

Reproduktionen als Ergänzung

Ein Beispiel des Wiener Cranach ist die Schleißheimer Kreuzigung, worin Christus voll blutiger Wunden und brachial durchbohrter Füße abgebildet ist und somit an Matthias Grünewald erinnert. Das Arrangement dürfte Cranach jedoch bei Dürer entlehnt haben. Allerdings befindet sich in der KHM-Schau nur eine reproduzierte Abbildung, das Original aus der Alten Pinakothek in München wird nie verliehen. Dies trifft auch auf Ruhe auf der Flucht nach Ägypten zu, dessen 1504 in Wien entstandenes Original die Gemäldegalerie in Berlin nicht verlässt. Dafür findet man im KHM eine exakte Werkstattkopie von 1515.

Highlight der Schau ist das Ehediptychon des Dr. Johannes Cuspinian und der Anna Cuspinian-Putsch von 1502, das mit den Porträts der Eheleute in üppiger Landschaft ikonografisch zahlreiche Interpretationen zulässt. Es gehörte bereits Charles I, König von England, seit 1925 ist es in der Sammlung in Winterthur beheimatet und hat diese seitdem nie verlassen. Nun ist es erstmals in seiner Entstehungsstadt zu sehen.

Dr  Johannes  Cuspinian, 1502.

Vermutungen und Indizien

Kurator Guido Messling bezeichnet die Ausstellung generell als "Homecoming" Cranachs, betont aber, dass es eigentlich keine Dokumente gibt, die dessen Aufenthalt in Wien nachweislich bestätigen – lediglich Indizien. Dazu zählt auch das Diptychon, da es ein Auftragswerk Cuspinians an Cranach war.

Vager ist die Informationslage bei der sogenannten Schottenkreuzigung. Zwar gilt das Gemälde als frühester Cranach, ist von osmanischer und ungarischer Tracht inspiriert und wurde im 18. Jahrhundert vom Wiener Schottenstift erworben. Wo und unter welchen Umständen es aber tatsächlich entstanden ist, ist nicht übermittelt. Manche Details müssen wohl noch länger im Dunkeln bleiben.

Guter Schächer am Kreuz

Über diese im doppelten Wortsinn wilde Frühzeit und Ausbildung war seit der epochalen Bayerischen Landesausstellung „Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken“ 1994 kaum belastbar Neues hinzugekommen: 1472 wird er im oberfränkischen Kronach nur ein Jahr nach Dürer geboren, den er in Nürnberg genau studiert hat. Über seine Ausbildung wissen wir noch immer nichts. Der Vater war ebenfalls Maler, allerdings rein handwerklich. Als ernst zu nehmender Lehrer fällt er aus. Bleibt das nahe Kunst- und Kulturzentrum Bamberg und eben Nürnberg, vor allem aber der junge Cranach selbst und die Natur. Höchste Zeit, die Fragezeichen im fesselnden Wiener Indizienprozess durch Ausrufezeichen zu ersetzen.

Im Zentrum der Schau steht daher zu Recht das dort gemalte Bildnispaar des Humanisten Johannes Cuspinian und seiner Frau Anna, geborene Putsch, für das man üblicherweise nach Winterthur fahren muss, weil es gemäß dem letzten Willen Reinharts nicht ausgeliehen werden darf (was fünfzig Jahre nach dessen Tod nun aufgehoben wurde). Cuspinian, der seinen Namen nach seinem Heimatort Spiesheim latinisierte, legt als Professor und Rektor der Universität Wien im pelzverbrämten Mantel mit betont einfachem und lässig schief sitzendem Leinenhemd darunter die linke Hand auf eines seiner Werke in rotem Prägeeinband und blickt aus wachen Augen versonnen in die Ferne. Sie als Tochter des kaiserlichen Kämmerers und Schwester des späteren Vizekanzlers der Wiener Universität in kostbarem Gewand mit goldbestickter Schaube schaut eher mürrisch drein, wohl des langen Modellsitzens müde, ein für Auftragswerke jedenfalls ungewöhnlicher Blick, der sich beim frühen Cranach aber öfter findet. Beide jedoch befinden sich – revolutionär für die Zeit um 1502 (in diesem Jahr heiraten die Cuspinians, ein trefflicher Auftragsanlass für ein Paarbildnis) – inmitten der offenen Natur, nicht wie zuvor in einem Zimmer mit Fensterausblick auf selbige. Anna scheint sogar aus dem hohen, sich um sie herumbiegenden Gras herauszuwachsen wie eine kostbare Pflanze oder eine Metamorphose-Figur Ovids.

Bischof Valentin

Jedes Detail führt ein Eigenleben

Keines von Cranachs Bildern sollte je wieder eine derartige Dichte an Anspielungen bergen; vor dem geistigen Auge sieht man geradezu die versammelte Humanistengesellschaft Wiens mit dem Erzpoeten Konrad Celtis in ihrem Zentrum vor dem Bild stehen und als Renaissance-Konversationsstück möglichst alle versteckten Bildrätsel lösen – und die sind teils nicht mehr als vier Millimeter groß. Hinter Cuspinians Schulter etwa ist verschwindend klein ein Mann mit noch winzigerer Leier und einem Raben zu entdecken – Apoll, der den weißen Raben als erfolglosen Bewacher der Geliebten Koronis, Mutter seines Sohnes Asklepios, die dummerweise König Ischys liebt, in einen schwarzen verwandelt und die Hochschwangere von seiner Schwester Artemis töten lässt. Die für den Gott unrühmliche, daher selten dargestellte Mythe passt mit der schwierigen Vaterschaft des Heilgotts Asklepios (und Apolls noch finsterer Sendung der Pest in das Lager der Griechen) dennoch gut zu einem Doktor der Medizin und die Leier zum poeta doctus, dem gelehrtem Dichter.

Über beide Bilder sind insgesamt neun Frauen verstreut, die nackt baden, in einer Felskluft lesen oder sich anderweitig verlustieren - Apolls neun Musen, von denen sich aber die letzte mit einem Menschen einlässt, den sie in der Abgeschiedenheit des Wald heftig umarmt und so zu einem unauflösbaren Knoten verschmilzt. Die Sprache der Vögel in den Bildern ist dabei besonders schwierig zu decodieren. Über Cuspinian stürzt sich die Eule der Minerva mit blutunterlaufenen Augen auf einen Fasan, während sieben nicht zu identifizierende Vögel folgen. Auf Kopfhöhe neben Anna sitzt ein Papagei und über ihr schlägt ein Falke einen Reiher, was auf einem Stich des legendären Graphikers „Meister ES“, dessen Werke Cranach und viele andere Künstler seinerzeit zum Vorbild nahmen, eine Warnung vor falscher Minne war.

Neben der unheimlichen Eule Cuspinians leuchtet ebenso rätselhaft ein heller Stern oder Meteorit als Geistesblitz, hinter Anna brennt ein Gehöft lichterloh, was möglicherweise das vierte der reichlich auf dem Bild verteilten Elemente meint, die in Cranachs Zeit an die Temperamentenlehre des Hippokrates gekoppelt waren, über die Cuspinian in Wien eine Vorlesung hielt. Wie bei des antiken Arztes Hippokrates Lehre von Körper und Mikro- und Makrokosmos malt Cranach eine ganze Welt in einem kleinen Bild, jedes Detail wiederum führt ein Eigenleben. Der Wald selbst hinter den beiden steht dicht und schwarz, im Stil der sogenannten Donauschule von Flechten überwuchert, und erinnert so an die im Umfeld Cuspinians die germanischen Wälder nach dem Vorbild von Tacitus’ „Germania“ besingenden Humanisten.

Hier ziehen die Heiligen ihre Kraft aus der Natur

Dieses anarchisch naturwüchsige Eigenleben aller Dinge wird zum Kennzeichen des frühen Cranach. Auf zwei weiteren Schlüsselwerken, dem in der freien Natur aus heiterem Himmel stigmatisierten Franziskus und Bischof Valentin [s. o.], der einen expressiv zuckenden Epileptiker heilt, spiegelt gar die Natur das Geschehen – der goldene Bischofsstab schlägt als wild wucherndes Ornament aus und scheint die nötige Heilerenergie durch seine Verankerung im Boden direkt aus dem Erdreich zu ziehen. Hinter dem heiligen Mann begrünt sich derweil ein abgestorbener Baum von Neuem. Die züngelnden Strahlen der sonnenumkränzten Muttergottes auf seiner Bischofsmitra scheinen gar auf sein Haupt überzugreifen und dieses zu befeuern.

Es wird deutlich: Auf dieser Höhe an intellektuell funkelndem Niveau – natürlich angeregt und wissensversorgt von Auftraggebern wie den im KHM zu sehenden Humanisten, Juristen und Diplomaten Celtis, Cuspinian, Jeronimus Tedenhamer oder Johannes Fuchsmagen mit dem für ihn von Cranach kopierten spätantiken Filocalus-Kalender – darf der Maler zeitlebens nicht wieder agieren: Für die sächsischen Kurfürsten und für Luther mitsamt Ko-Reformatoren als seinen Hauptkunden in Wittenberg standen andere Repräsentationsbedürfnisse im Vordergrund, intellektuelle Rebusse waren deren Sache nicht.

Doch auch die Welt der religiösen Bilder stellt er auf den Kopf. Den frühen Höhepunkt auf diesem damals schon mit fast tausendfünfhundert Jahren Bildgeschichte angestaubten Terrain bildet seine „Schottenkreuzigung“  [s. ganz oben] aus der Wiener Schottenkirche, die im letzten Raum wie ein Triptychon von zwei großformatigen Kreuzigungs-Grafiken flankiert wird. Wie ein sadistischer Regisseur schiebt er die aus rohen Birken- und Buchenstämmen gezimmerten Kreuze hin und her, stellt sie mal quer in die Diagonale, mal beide dem stark überlängten Christus gegenüber wie bei der „Schleißheimer Kreuzigung“, macht keinen Unterschied zwischen dem guten und dem bösen Schächer, was Zweifel an der Erlösungslehre nahelegt. Obwohl er sie beherrscht, schert er sich nicht um Perspektive, lässt seine Gekreuzigten wie gequälte Tiere am Kreuz zucken, die zertrümmerten Schienbeinknochen die Waden durchstoßen und die Zehen deformiert und übergroß wie Kartoffeln abstehen. Er ist der einzige Maler, der dem Heiland Blut aus dem Ohr tropfen und die blutige Zunge wie bei einem Hund aus dem Mund hängen lässt, die sich getreu dem Bibelvers „Circumdederunt me canes multi“ als reale Wesen ohnehin auffällig oft auf seinen Kreuzigungen, aber auch den anderen Bildern finden.

Ähnlich veristisch liegen bei ihm am Kreuz nicht nur Adams Knochen, vielmehr ganze Berge halb verwester Leichen dieser besonders grausigen Schädelstätte. In dem von ihm selbst geschnittenen Holzschnitt von 1502 hängt links gar der isolierte Arm eines Leichnams ins Bild.

Der neuen Erkenntnisse sind also einige: Cranach agiert in Wien als junger Wilder, wie einer der wilden Männer aus den Tiefen seiner Urwälder, ist aber gebildet (beherrscht Latein sowie die griechische Mythologie) und gefragt bei der Wiener Intelligenzia. Im Schutz dieser tritt er nicht in die sonst verbindliche Zunft der Wiener Maler ein (andernfalls fände sich sein Name dort) und kann so ungehemmt von Regelwerken malen, wie er will. Ach wär er doch in Wien geblieben! 

Cranach der Wilde. Die Anfänge in Wien. Im KHM Wien; bis zum 16. Oktober. Der Katalog kostet 24,95 Euro. 

 

Nota. - Ach ja, wär er doch in Wien geblieben. Vielleicht hätte er seine spätgotisch-expressive Malweise zu einem eigenen Stil ausgearbeitet. Denn nicht nur Luther wäre ihm dann kaum begegnet, sondern auch nicht der italisierte Heimkehrer Dürer.
JE

 

 

 

 

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