
Unscheinbare Grenze im Fluss
Manchmal
steht ein winziger solitärer Wellenkamm quer über einem Gewässer. Er
trennt eine bewegte von einer ruhigen Zone und gibt interessante
physikalische Zusammenhänge preis.
von H. Joachim Schlichting
Wer
einen Spaziergang an einem Bach unternimmt, sollte es nicht versäumen,
dessen Oberfläche nach einer unauffälligen, nahezu fadenförmigen Welle
abzusuchen. Sie läuft in den meisten Fällen wie eine dünne Linie
senkrecht zur Strömungsrichtung über das Gewässer und zeichnet bei
Sonnenschein einen feinen Streifen fokussierten Lichts auf den Boden.
Wenn man die filigrane Struktur zum Beispiel mit dem Finger stört,
bildet sie sich anschließend unwesentlich verändert wieder neu. Der
winzige Wall und vor allem sein Umfeld sind nicht nur schön anzusehen.
Die Erscheinung deutet auf ein komplexes Strömungsgeschehen hin, von
dem man direkt kaum etwas zu sehen bekommt.Kaustik | Bei Sonnenschein erkennt man
die Linie indirekt an ihrer Kaustik und den durch sie ausgelösten
Kapillarwellen.
Diese Art von Welle wurde zum ersten Mal 1854
vom US-Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau beschrieben.
Sie hat später Generationen von Forschern zu experimentellen und
theoretischen Untersuchungen angeregt, beginnend 1881 mit dem britischen
Physiker Osborne Reynolds. In englischsprachigen Publikationen wird sie
daher meist als »Reynolds ridge« bezeichnet. Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum der Wissenschaft Wie alt können wir werden?
Hinter
der Thoreau-Reynolds-Welle steckt ein subtiles Zusammenspiel von
Oberflächen- und Strömungseffekten. Es beginnt mit einer Barriere, die
sich in einem Fluss gebildet hat, wenn etwa ein Ast quer darauf liegt
oder Unrat stecken bleibt. Daran stauen sich natürliche Tenside und
Eiweiße aus Pflanzenrückständen. Das Material verändert die
physikalischen Eigenschaften der Wasseroberfläche. Die Moleküle streben
dorthin und ordnen sich mit einem hydrophilen Ende im Wasser und einem
hydrophoben in der Luft an. Das setzt die Spannung der obersten
Wasserschicht herab, die nun auseinanderstrebt und sich sozusagen
dagegen wehrt, erneut zusammengedrückt zu werden. Die Lage aus
mikroskopischen Verunreinigungen wirkt anschaulich gesprochen wie ein
unsichtbares fixiertes Brett auf das ankommende Wasser. Dieses kann nur
dadurch ausweichen, dass es auf seinem weiteren Weg darunter
hinwegtaucht.
Kleiner Wellenkamm| Die
Thoreau-Reynolds-Welle steht senkrecht zur Fließrichtung. Am Boden ruft
ein Teil von ihr unter Sonnenlicht eine helle Brennlinie (Kaustik)
hervor.
Natürliche Gewässer führen fast ständig
oberflächenaktive Substanzen mit sich. Darum gibt es den Wall trotz
seiner geringen Bekanntheit recht häufig. Vermutlich zieht er selten
Aufmerksamkeit auf sich, da sowohl er als auch die Fläche mit den
angestauten Chemikalien unauffällig sind und sich in einigem Abstand
von der ursächlichen Barriere befinden.
Es ist nicht wichtig, was du betrachtest, sondern, was du siehst Henry David Thoreau
Ein solches Hindernis muss nicht besonders groß sein, um passendes Material aufzuhalten. Oft genügt dazu schon ein Schilfhalm oder ein kleiner Zweig. Letztlich ist die Thoreau-Reynolds-Welle selbst ein untrüglicher Hinweis auf einen weitgehend ruhenden Bereich. Sie ist so etwas wie eine Demarkationslinie zur bewegten Umgebung. Die Erscheinung kann sogar in stehenden Gewässern beobachtet werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein gleichmäßiger Wind obenauf treibendes Material zum Rand einer Pfütze hin zusammenfegt. Das auf die Weise gereinigte übrige Oberflächenwasser bewegt sich ebenfalls in die Richtung und findet eine ähnliche Situation vor wie im blockierten Fluss. Es prallt auf den Schmutzfilm und taucht vor ihm ab – in dem Fall nicht darunter hindurch, sondern als bodennahe Unterströmung wieder zurück. So entsteht ein geschlossener Kreislauf, der im Idealfall so lange bestehen bleibt, wie der Wind weht.
Die Geschwindigkeit der Strömung spielt
eine Rolle dabei, wie auffallend die Thoreau-Reynolds-Welle ist. Sobald
eine Geschwindigkeit von 23 Zentimeter pro Sekunde überschritten wird,
können stromaufwärts vor der Linie »Kapillarwellen« entstehen, deren
Verhalten vor allem von der Oberflächenspannung bestimmt wird. Die
dadurch hervorgerufenen Kräuselungen machen indirekt auf die Linie
aufmerksam, zumal der starre Film weiterhin nicht aus der Ruhe zu
bringen ist.Kapillarwellen| Bei ausreichender
Geschwindigkeit können sich stromaufwärts vor der Grenzlinie feine
Rippel bilden. Auf der Seite zur Barriere lässt die
Oberflächenzusammensetzung das nicht zu.
Das neuere Forschungsinteresse an
Thoreau-Reynolds-Wellen bezieht sich einerseits auf Meeresströmungen
unter dem Einfluss unterschiedlicher überall vorkommender Substanzen.
Andererseits hat das Phänomen längst Eingang in die labormäßige
Untersuchung der Wirkung oberflächenaktiver Stoffe in einem viel
allgemeineren Sinn gefunden.
Hans-Joachim Schlichting ist Professor
für Physik-Didaktik und arbeitete bis zu seiner Emeritierung an der
Universität Münster.
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