Donnerstag, 16. Juni 2022

Intelligent ohne Gehirn.


aus spektrum.de, 12. 6. 2022                                                                                         zuJochen Ebmeiers Realien

Hirn & Weg startet in einen Themenmonat rund um Künstliche Intelligenz (KI) und Neuronale Netzwerke. Dies ist der dritte Beitrag zum Thema

Intelligent?! Ohne Gehirn.
Welches Organ ist in unserem Körper für Intelligenz zuständig? Ganz klar: das Gehirn. Doch in der Natur soll es einen Organismus geben der ohne Gehirn intelligent Probleme lösen kann? Kann das sein?

Von Ronja Völk 

Intelligenz

Intelligenz wird auf verschiedenen Arten definiert:

Edward Boring definierte Intelligenz im Jahr 1923 so: “Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.” Jedoch liefert schlichtes Verweisen auf einen Intelligenztest keine wirkliche Definition für Intelligenz. Der Intelligenztest wurde 1904 von Alfred Binet entwickelt, um in Paris Schulkinder mit Lernschwächen zu erkennen. Jedoch können Intelligenztests sehr unterschiedlich sein und erfassen nie alle Fähigkeiten einer Person, dazu kommen Schwankungen in der persönlichen Tagesform.

Howard Gardner spricht von “multiplen Intelligenzen”, also verschiedenen Arten von Intelligenz wie zum Beispiel die soziale Intelligenz. Soziale Kompetenzen sind sehr wichtig, werden aber rein wissenschaftlich nicht als Intelligenz definiert.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Intelligenz am häufigsten als Fähigkeit zu Problemlösung definiert, aber auch Merkfähigkeit, logisches Denken und Anpassungsfähigkeit werden häufig genannt[1].

Physarum polycephalum stellt sich vor

Der Organismus um den es geht, ist weder eine Pflanze noch Tier oder Pilz. Er gehört zu einer eigenen Unterart, den sogenannten „echten Schleimpilzen“. Er bewohnt seit über einer Milliarden Jahre die Erde, schon bevor es die ersten Pflanzen gab. Der Schleimpilz mit lateinischem Namen Physarum polycephalum besteht nur aus einer einzelnen Zelle.

Jedoch kann diese bis zu mehreren Quadratmetern groß werden. Um den gesamten Organismus zu versorgen, besitz Physarum ein Netz aus Venen, die in einem bestimmten Rhythmus pulsieren und so Nährstoffe im Plasma transportieren. Wenn Physarum Aussicht auf Futter hat, kann er bis zu 4 cm pro Stunde wachsen. Wie bei einem Einzeller nicht anders zu erwarten, besitzt Physarum kein Gehirn, also kein Geflecht aus Nervenzellen, die miteinander kommunizieren. Trotzdem ist der Schleimpilz fähig, komplexe Probleme zu lösen. Doch wie genau diese Zelle dazu in der Lage ist, dafür gibt es bisher nur Theorien.

Fähigkeiten

Der Schleimpilz ist in der Lage, eine Nahrungsquelle zu finden. Dabei breitet er sich in Richtung der Quelle breitflächig aus. Ist die Quelle gefunden, werden ineffiziente Ausprägungen zurückgebildet. Interessanterweise kann Physarum auch in einem Labyrinth dabei den effizientesten Weg erkennen.



Der Schleimpilz hat zudem vielen Menschen etwas voraus, denn er kann sich ausgewogen ernähren. Wird er mit einer Auswahl an Nahrungsquellen konfrontiert, wählt er die Nahrungsquelle mit dem optimalen Zucker und Proteingehalt aus, die er für sein Wachstum benötigt. Ist keine optimale Quelle vorhanden, kombiniert er die beiden nahrhaftesten Energiequellen so miteinander, dass Sie den optimalen Ernähungs-mix für ihn kreieren.


 

Bei seiner Nahrungssuche passiert er nie dieselbe Stelle zweimal. Forscher haben herausgefunden, dass der Schleimpilz auf seinem Weg ein Geflecht hinterlässt. Damit markiert er die Stelle und vermeidet sie bei einer erneuten Suche.

Erstaunlich ist auch, dass der Schleimpilz zu einem gewissen Maße fähig ist zu lernen. Physarum vermeidet Salz. Wird hinter einer Salz bestreuten Brücke eine Nahrungsquelle platziert, überwindet er sich und wandert langsam über das Salz. Er kann sogar von dieser positiven Erfahrung lernen. Je öfter er sich schon über salzigen Untergrund gequält hat, desto schneller meistert er den Weg. Bis zu 4-mal schneller als üblich kann er dabei werden. Trifft Physarum auf einen anderen seiner Art, kann er mit ihm verschmelzen und dieses Wissen sogar weitergeben.

Roboter

Um die Bewegungen von Physarum sichtbarer zu machen, wurden Roboter gebaut, welche von Physarum gesteuert werden. Die Bewegungen des Schleimpilzes werden dabei in elektrische Impulse umgewandelt, welche die Richtung des Roboters bestimmen. Dabei hält sich der Roboter in seinen Bewegungen eher von Licht fern, da der Schleimpilz grelles Licht meidet.

Möglicherweise kann diese Technologie genutzt werden, um die Oberfläche von fremden Planeten zu erkunden. Der Vorteil von biologischen Komponenten ist hierbei, dass sie oft energieeffizienter sind als Maschinen und sich selbst regenerieren können[2].

Ist der Pilz intelligent? Gegenstimmen behaupten, der Pilz lasse sich hauptsächlich von chemischen Gradienten leiten und besitzt keine wirklichen Problemlösungs-Fähigkeiten. Ob der Schleimpilz als intelligent bezeichnet werden kann oder nicht, hängt natürlich davon ab, wie man Intelligenz definiert. Bisher gibt es, wie oben erwähnt keine allgemeingültige Definition.

Ein Großteil der Menschen vertritt die Meinung, das KIs noch nicht wirklich intelligent sind, aber es eines Tages werden könnten. Ob wir eine Technologie oder ein Lebewesen als intelligent beschreiben, hängt zum Beispiel davon ab, ob es viele verschiedene Aufgaben lösen kann. Ist dies der Fall, empfinden wir Dinge häufig als intelligenter. Auch empfinden wir oft Dinge, die menschenähnlich sind als intelligent wie zum Beispiel humanoide Roboter.

Dabei verschiebt sich die Grenze, welche Technologien wir als intelligent empfinden, immer weiter hin zu komplexeren Systemen. Oft empfinden wir Dinge als intelligent, die wir nicht verstehen. Wie der britische Science-Fiction Schriftsteller Arthur C. Clarke schon sagte:

Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.
Jede ausreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.
– Arthur C. Clarke –

Wenn wir die Technologie jedoch verstehen, verschwindet die Magie.

Schlusswort

Können unsere eigenen, komplexen Gedankengänge auch irgendwann verstanden werden und jede Entscheidung und jedes Gefühl als bloße Rechnung dargestellt werden[3]?

Nächste Woche betrachtet Louisa künstliche Intelligenz von der kritischen Seite.

Quellen:

[1] Carter, Rita, The brain in minutes, London Quercus (IN MINUTES), ISBN: 9781786485809
[2] Jacques Mitsch, 2019, ARTE, Der Blob – Intelligenz ohne Gehirn?, https://www.arte.tv/de/
[3] Haenlein, Michael; Kaplan, Andreas (2019). A Brief History of Artificial Intelligence: On the Past, Present, and Future of Artificial Intelligence. California Management Review, (), 000812561986492–. doi:10.1177/0008125619864925

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