R. Campin St. Joseph dans son atelier zu Wissenschaftslehre - die fast...
Fichte hat bis zum
Schluss versichert, er habe allezeit
dasselbe gelehrt. Der gewissenhafte Student ist daher gehalten, die
frühen
Darstellungen der Wissenschaftslehre im Lichte der späteren, und die
späteren
Darstellungen im Lichte der früheren zu lesen. Das braucht seine Zeit.
Erst
wenn er es immer wieder erfolglos versucht hat, darf er daran gehen, die
frühen und die späten Darstellungen je für sich und unabhängig
voneinander zu verstehen.
Dann allerdings muss er die Stelle dingfest machen, wo die
späteren von den früheren ab-weichen; die Stelle, wo nicht bloß die Darstellung,
sondern das Dargestellte ein anderes wird. Es liegt auf der Hand, diese Stelle
irgend- wo im Umkreis des Atheismusstreits zu suchen. So bin ich verfahren.
Dass zwischen dem unvollendeten Manuskript Rückerinnerungen, Antworten, Fragen und
der veröffentlichten Bestimmung des Menschen nicht einfach ein Übergang, sondern ein Bruch stattfand, ein
Sprung, ist nicht zu übersehen, er spricht ihn ja selber aus, indem ihm das bisherige
Wissen ungenügend wurde und er den Glauben in die Transzendentalphilo-sophie
einfügte.
In die Transzendentalphilosophie? Das ja wohl eben nicht.
Mochte Fichte selber meinen, die Wissenschaftslehre sei vorher und hinterher
dieselbe gewesen – Transzendentalphilo-sophie
war sie hinterher jedenfalls nicht mehr. Ein reales Absolutes, das – als
dogmatische Zusatzbedingung – aber doch in keinem Moment Objekt werden soll,
das erfordert in der Tat eine proiectio per hiatum irrationalem, und er wird die Zeit, die ihm verblieb, damit zu- bringen,
sie unter dialektischen Winkelzügen zu verbergen.
Jacobi hatte ihn dazu verleitet, aber das hätte er nicht
gekonnt, wenn es nicht bei Fichte schon einen wunden Punkt gab, in den er den
Finger bohren konnte. Es war die Doppel-deutigkeit dessen, was Fichte unter Vernunft verstand.
*
Um die Wurzel dieser Doppeldeutigkeit aufzufinden, habe ich mich der Wissenschaftslehre nova methodo zugewandt, der letzten Gestalt, die Fichtes Lehre vor dem Atheismusstreit angenommen hatte. In dieser gegenüber der Grundlage
von 1794/95 in systematischer Hinsicht wesentlich verbesserten
Darstellung musste sich der Punkt finden lassen, wo die beiden
konkurrierenden und eigentlich unvereinbaren Vorstellungen von der Vernunft auseinandertreten: hier als ein vorgegebener Plan, den die
endlichen Intelligenzen aufzu-finden und zu verfolgen hätten, dort als
die Aufgabe unendlicher Bestimmung aus Freiheit.
Ich wurde enttäuscht, ich fand diesen Punkt nicht. Wo immer Fichte die Vernunft trans-zendental aus der Freiheit herleitet, kann er sie immer nur als offene Aufgabe
ausweisen; aus den Prämissen der Wissenschaftlehre selbst kann die
dogmatische Auffassung eines zu erfüllenden Plans nie entwickelt
werden. Sie ist ein Fremdkörper, der von außen künstlich in die
Transzendentalphilosphie hineingetragen wurde.
Von außen? Von
außerhalb der Wissenschaftslehre, ja; aber von Fichte selbst, und es war
schon die seine, bevor er die Arbeit an der Wissenschaftslehre
überhaupt begonnen hatte. Er hat sie ausgesprochen in den populären
öffentlichen Vorträgen Von den Pflichten der Gelehrten, die er
unmittelbar vor Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit in Jena
gehalten hat; das wird Gegenstand einer späteren gesonderten Darstellung
sein, hier teile ich es nur 'historisch' vorab mit; es kann ja jeder
selbst nachlesen.
*
Die logische Forsetzung der WL nova methodo wäre der Übergang zu einem System der Ästhetik gewesen. Dazu ist es aus den bekannten Gründen nicht gekommen. Stattdessen ist sein System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre
1798 erschienen, wäh-rend er eben begonnen hatte, die Wissenschaftslehre
zum ersten Mal "nach neuer Methode" vorzutragen. Man muss sie daher als
eine Fortsetzung der Grundlage, der ersten Darstel-lung der WL betrachten.
Tatsächlich knüpft sie thematisch unmittelbar an die Einführungsvorlesungen Von den Pflichten der Gelehrten aus dem Jahr 1794 an und war wohl als Schlussstein - clef de voûte - des ganzen Systems gedacht. Dass er in der Darstellung der Wissenschaftslehre nach neuer Methode an
die Sittenlehre noch einen ästhetischen Systemteil fügen
müsste, war ihm noch nicht bewusst. Zwar schließt er auch dort
seine Pflichtenlehre mit einem Abschnitt über die "Pflichten des
ästhetischen Künstlers" ab, aber eben doch als die Angelegenheit eines
be-sonderen gesellschaftlichen Standes.
Die Aufgabe der Sittenlehre sei "die: Freie Willen sollen zu einem gewissen mechanischen Zusammenhang
und Wechselwirkung gefügt werden. Nun gibt es so einen Naturmechanis-mus
an sich nicht, er hängt zum Teil mit von unserer Freiheit ab", heißt es nun. Es müsse ein Übergang
gefunden werden aus dem Standpunkt des natürlichen Bewusstseins der
kon-kreten Menschen (zu denen der Philosoph selber gehört) auf den Standpunkt der Transzen-dentalphilosophie. Es entstünde der Philosophie die
Aufgabe, "in ihr ihre eigene Möglich-keit zu erklären".
"Es
ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der
transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die
Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte erscheint die Welt als
gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem
ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten
und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers)."
*
Angenommen
nun, dass der Wechsel vom gemeinen zum ästhetischen Standpunkt die
Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaftslehre ist; ist er dann
womöglich auch die Bedingung der Möglichkeit von... mehr? Ist er
Bedingung der Möglichkeit nicht nur der theoretischen, sondern
unmittelbar auch Bedingung der Möglichkeit der praktischen Vernunft?
Andere haben es so aufgefasst und haben die Moralität aus der Ästhetik hergeleitet. Ich habe außer philosophischen auch lebenspraktische Gründe, diese Lösung zu favorisieren.
Dann
müsste Fichtes Sittenlehre von 1798 auf fehlerhaften Gründen beruhen.
Ich habe eine Vermutung: Es ist wieder die Doppeldeutigkeit seiner Vernunft. Ich will mich ihr daher nun im Besondern zuwenden.
Die Einleitung
war dazu ein erster Schritt.
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