Dienstag, 3. November 2020

Über Form und Formalismus.


Rezension
 
Anna-Maria C. Bartsch: Form und Formalismus. Stationen der Ästhetik bei Baumgarten, Kant und Zimmermann, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, 297 S., ISBN 978-3-8260-6207-0, 49.80 EUR

rezensiert von Martina Sauer, Bühl

Sich den Fragen nach den Ursprüngen des Formbegriffs zuzuwenden, um sie für das heutige Verständnis davon in der Kunstgeschichte und Philosophie fruchtbar zu machen, motivierte zur Lektüre der Doktorarbeit von Anna-Maria C. Bartsch, die diese an der Münchner Philosophischen Fakultät einreichte und 2017 veröffentlichte. [1] Lassen sich aus der Lektüre neue Erkenntnisse für das zum Teil verworrene Verständnis von dem, was eigentlich Form bzw. Formalismus ausmacht, herausziehen? Dass die Autorin mit Blick auf diese Frage Alexander Baumgarten bespricht, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Aufwertung der Sinnlichkeit für das Verständnis der Künste wegweisende Impulse setzte und daran anschließend Immanuel Kant aufgreift, der mit der Kritik der Urteilskraft 1790 u.a. auf Baumgarten aufbauend, den Künsten einen neuen, außerordentlichen Status einräumte und schließlich den längst vergessenen Robert Zimmermann diskutiert, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Formale Ästhetik, wie sie heute besteht, begründete, wirkte vielversprechend.

Und tatsächlich eröffnet die Autorin mit ihrer Untersuchung der Stationen der Ästhetik bei Baumgarten, Kant und Zimmermann neue, fundierte Einblicke in das Verständnis dessen, was eigentlich unter Form bzw. Formalismus zu verstehen ist. Deren Wurzeln liegen weniger, wie Bartsch deutlich macht, in einem sinnlich Gegebenen (Materiellen, 29-31) als in der Formbildungstätigkeit des Betrachters selbst (Organisationsweise des Bewusstseins), die von relational-logischen und damit nicht weiter reduzierbaren Bedingungen geprägt ist (24, 32). Insofern lasse sich der Formbegriff als ein Funktionsbegriff beschreiben (28, zu-sammenfassend: 281-286). Demnach beruht er, wie es bereits Baumgarten herausstellt, ohne jedoch den Formbegriff als solchen je zu verwenden, auf Reflexion beziehungsweise Logik, über die die "Konformität der Erkenntniskräfte des Subjekts mit den Eigenschaften des Objekts" erfahren werde (25, ferner: 58-67, vgl. parallel das (transzendentale) synthe-tische Urteil bei Kant: 88-91, 135-147 bzw. die "Form der Vorstellung" bei Zimmermann: 230-233). Der Formbegriff wie er hier aufscheint, lässt sich vor diesem Hintergrund als ein Verfahren verstehen, über das eine Analogie zwischen der subjektiven Vorstellungsfähigkeit und dem Vorgestelltem (der Welt als einer metaphysischen, von einem höheren Prinzip garantierten Wahrheit) hergestellt werden kann (24-29, hier 25 und Anm. 22). Das Schöne und zugleich Wahre und Gute, wie sie als zentrale Begriffe hinter der höheren Wahrheit, dem Ideellen, angenommen werden, scheinen damit erst über die Form (einem Tätigsein des Subjekts) auf und artikulieren sich im ästhetischen Urteil (vgl. bei Baumgarten: 59-70, bei Kant: 166-170, bei Zimmermann: 253-255, bzw. zusammenfassend: 281-284). Mit der Verlagerung in den Erfahrungsbereich des Menschen finde entsprechend, philosophiege-schichtlich relevant, ein Wechsel Weg von rationalistischen (von Verstand und Vernunft getragenen) zu empirischen (von Sinnlichkeit ausgehenden) Prinzipien statt (57-58).

Konkret stellt sich hieran anschließend die Frage: Wie ist das möglich? Bei Baumgarten, so Bartsch, werde die Analogie zwischen Objekt und Idee über die Konformität des inneren und äußeren Sinns bzw. des oberen und unteren Vermögens, von Verstand und Sinnlichkeit mit dem Metaphysischen erkennbar (57-70, vgl. zudem insbesondere 76-82). Kant betone dazu, dass die Möglichkeit der Analogiebildung auf einer Differenzierung bzw. dem In-Be-ziehung-Setzen (Relationierung) der Vorstellungsbilder nach Raum und Zeit (Formen der Sinnlichkeit) sowie nach Quantität, Qualität und Modalität (Formen des Verstandes) und damit auf einer Verhältnisbestimmung (Relation bzw. Form des Urteils) im Hinblick auf die Ideen (Formen der Vernunft) beruhe (vgl. 94-99, 135-137, 145-155 sowie ergänzend die Differenzierung der Kant'schen Logik nach Gottlob B. Jäsche um 1800, hier 28-29). Zimmermann hebe parallel zu beiden auf eine Reflexion "wohlgefälliger Grundformen" ab (28-29, 34, 204-217, 235-255). Sie seien jedoch nicht als normative Regeln oder Vorgaben für "schöne Dinge" - letztlich ohne Gehalt (vgl. die Kritik von Friedrich Theodor Vischer: 30, ferner: 32, 205, 269) - zu verstehen: "Vielmehr resultieren sie aus dem Bestreben, die formalen Bedingungen der Beziehung des Objekts auf das Subjekt, das sich reflexiv auf das Ästhetische bezieht, herauszustellen." (214) Insofern wird das harmonische Verhältnis in der Vorstellung des Objekts relevant, nicht am Objekt selbst (227-234, 259-260). Wesentlich dafür sei eine Differenzierung zwischen Qualität (Quale, Inhalt, was) und Quantität (Quan-tum, Stärke / Energie, Intensität, wie) der Vorstellungsglieder. Nur im Wie, so Zimmer-mann nach Bartsch, liege das eigentliche Maß zur Bestimmung der Vollkommenheit, da es einen unmittelbaren Einfluss auf das Was habe (240-241). Mit dem Ansatz geschichtliche Prozesse - insbesondere der Stilentwicklungen in der Geschichte der Kunst - als Ausdruck eines sich wandelnden Geschmacks am Schönen zu erklären, steht damit vor allem die Formale Ästhetik in der Kunstgeschichte in der Tradition eines Formbegriffs, wie er in der Ästhetik begründet wurde. Zu den Protagonisten dieser Entwicklung gehören einerseits Alois Riegl (Stilfragen, 1893), der bei Zimmermann in Wien studierte, und andererseits Heinrich Wölfflin (Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 1915) (vgl. 270-286).

Vor diesem Hintergrund gilt es abschließend nochmals zu fragen: Sind damit alle Fragen, die zu den Verwirrungen mit Bezug auf den Formbegriff führten, geklärt? Obwohl mit der Schrift einiges dazu beigetragen wird, deuten jüngere Forschungen zudem auf andere Ur-sachen hin, die von Bartsch so nicht thematisiert wurden. Sie liegen in der Verbindung des Formbegriffs mit den zugrunde gelegten höheren Prinzipien, konkret dem Schönen, Wah-ren und Guten. Denn mit der Analogie, die über das Wohl- und Missfallen (der Lust und Unlust), mit Bartsch, der Form nach zwischen dem Objekt zu höheren Ideen aufgezeigt werden kann, werden Prinzipien leitend, die heute so ohne Weiteres nicht mehr anerkannt werden. Die Abwertung des Gehalts der Künste und damit auch der Ästhetik und Kunst-geschichte, wie es sich im l'art pour l'art bekundet, hängt damit unmittelbar zusammen. [2] Vor diesem Hintergrund das Phänomen der Lust und Unlust bzw. das Er-leben, das mit der Form in der aktuellen kulturanthropologisch orientierten Forschung in Verbindung ge-bracht wird, als weiterführenden Ansatz zu sehen, diskutiert Bartsch insofern nicht, da es ihr im Wesentlichen um die Fundierung des Formbegriffs als Tätigkeit des Bewusstseins geht und sie ihn entsprechend - und nicht die Schönheit, das Erleben und Wahrnehmen - als Kernbegriff innerhalb der philosophischen Ästhetik versteht (23, 285). [3]


Anmerkungen:

[1] Konkret diente die Lektüre zudem als Vorarbeit für die beiden Beiträge zu den Lemmata "Formale Ästhetik", in: Glossar für Bildphilosophie, www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php [07.06.2018] und "Spekulative Ästhetik versus Ästhetik als Formwissenschaft (1830-1870)", in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 1/1-3, Die Philosophie des 19. Jahrhunderts: Deutschland, hg. v. Gerald Hartung, Schwabe: Basel (je geplant für 2018).

[2] Vgl. hierzu u.a. Hans-Georg Gadamer, der zur Rettung der Künste vorschlägt, dass die Anschauung sich nicht vom Geschmack, sondern von Anschaulichkeit leiten lasse solle: "als Weisung auf das, was zu sehen ist": Denn es ist, so Gadamer, "von der Kantischen Voraussetzung aus schwer, den Erkenntnischarakter der Kunst anzuerken-nen. Man kann sich dafür kaum auf die klassischen Unterscheidungen berufen, mit denen Kants "Analytik des Schönen" einsetzt. Denn was dort den Ausgangspunkt darstellt, ist lediglich der "Standpunkt des Geschmacks", und das heißt: das Ideal der 'freien' Schönheit, zu der das Dekorative und das Naturschöne das Muster abgibt. Daraus würde folgen, Kunst nicht als Kunst, sondern als Dekoration zu sehen." (4), in: ders.: Anschauung und Anschaulichkeit, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19, Anschauung als ästhetische Kategorie, Göttingen 1980, 1-14.

[3] Die Tätigkeit des Bewusstseins bzw. die Form des Denkens und dessen relationale Verfasstheit als Erleben zu greifen, steht weiterführend an den Ansatz Bartsch anschließend in meinen eigenen Forschungen im Vorder-grund. Vgl. hierzu Martina Sauer: Faszination - Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung an-hand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Heidelberg 2012, archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/1851/ [07.06.2018] (zweite Auflage erscheint im Juli 2018: doi.org/10.11588/arthistor-icum.344.471).


Nota. - Ich hatte das schon formatiert, da überkamen mich Zweifel, ob es überhaupt in mein Blog gehört. Es ist akademisch-philologisch, der Leser erfährt bestenfalls, was ihn bei der Lektüre erwartet, doch was die Rezen-sentin selber meint, wird grad am Schluss vage angedeutet. Es ist nur eine Rezension, das verstehe ich schon, es soll mir die Entscheidung erleichtern, ob ich die Lektüre auf mich nehmen will, mehr nicht. Aber mich hinter-lässt es ratlos. Steigt die Autorin so wenig in die Sache ein, wie ihre Rezensentin? Referiert auch dsie nur, was dieser oder jener oder ein Dritter meint?

Die Ausgangsfrage ist, ob es einem bewusst ist oder nicht: Wie kommt das, was im künst-lerischen Gegenstand von wem? etwa vom Künstler selbst? gemeint worden ist, in die Auffassung des Betrachters hinein? Metaphysisch gefragt: Ist das von wem? etwa vom Künstler selbst? Gemeinte im Werk gegenständlich geworden? Und selbst dann: Wie kann das, was vom Künstler vergegenständlicht wurde, ins Meinen des Betrachters hineingelan-gen? Da ist nur eine Erklärung möglich: Es war in dessen Meinen latent schon immer an-gelegt, es bedurfte nur noch der Berührung 'von außen'. So wie bei Plato der immer erst werdende irdische Intellekt von den olympisch schon immer da-seienden Ideen zum Wie-derkennen erinnert wird. Bei Aristoteles ist es der überindividuelle intellectus agens, der erweckend in den individuellen intellectus possibilis hineinfährt. 
 
Mit andern Worten, das ist alles Metaphysik. Aber es sollte ja referiert werden, was nach der Kant'schen 'Kritik' aus der Frage nach dem Ästhetischen geworden ist. Darüber erfahre ich nichts.  
 
Allerdings fällt es mir wie Gadamer 'schwer, unter Kant'schen Voraussetzungen einen Er-kenntnischarakter der Kunst anzuerkennen'. Wenn der Betrachter am Werkstück das auf-findet, was der Werkende hineingemeint hat, ist es gut für beide. Findet er aber was anderes, ist es auch in Ordnung. Findet er nichts, war das Werk wohl überflüssig; doch vielleicht nicht für den Werkenden; usw., usf..
JE

 

 


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.JE 

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