auto-bild zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Geist überhaupt ist das
Vermögen der produktiven Einbildungkraft, Gefühle zu Vorstel-lungen zu
erheben. In diesem Sinne ist allen Wesen, die Vorstellungen haben, Geist
zuzu-schreiben. Geist in der besondern Bedeutung, in welcher man
allerdings berechtigt zu sein scheint, manchen Menschen denselben
gänzlich abzusprechen, ist das Vermögen, die tiefer liegenden und
unsre auf die Sinnenwelt sich beziehenden Gefühle begründenden, auf
eine übersinnliche Ordnung der Dinge sich beziehenden Gefühle zum
Bewusstsein zu erheben; oder kürzer, das Vermögen, Ideale und Ideen
vorzustellen.
Ich habe gezeigt, wie
diese Vorstellungen des rein Geistigen zum Behuf der Mitteilung unter
geistigen Wesen in Körper gekleidet und darin, soweit dies möglich ist,
ausgedrückt werden; wie der Geistlose an diesem toten Körper hängen
bleibt, ohne sich dadurch zum Anschauen des in ihm ausgedrückten Idealen
zu erheben; und wie er dann, wohl auch zur Nachahmung, Körper bildet,
die aber keinen Geist haben. ... /
Der Stoff der gesamten
Philosophie ist selbst der menschliche Geist in allen seinen
Verrich-tungen, Geschäften und Handlungsweisen, und erst nach
vollständiger Erschöpfung diese Handungsweisen ist die Philosophie
Wissenschaftslehre.
Der menschliche Geist
ist Tätigkeit und nichts als Tätigkeit. Ihn kennenlernen heißt, seine
Handlungsweisen kennen lernen, denn weiter ist an ihm nichts zu kennen. ...
Wir
sind uns unsers Handelns nur mittelbar, nur vermittelst des Objekt des
Handelns, nur vermittelst des Gegenstandes, auf den unsre Handlung
geht, bewusst. Des Handelns als solchen sind wir uns nie bewusst und
können wegen der Gesetze des menschlichen Den-kens uns desselben nicht
bewusst werden. Nun wollen wir uns [aber] desselben bewusst wer-den. Das ist nur unter der Bedingung möglich, dass auf dieses Handeln wieder gehandelt werde; dass es selbst Objekt einer Handlung / werde; und eine solche Handlung nennt man Reflexion.
Ich stelle mir eine Körperwelt vor, und insofern bin ich mir lediglich der Körperwelt be-wusst. Soll ich meiner Tätigkeit in jenem Vorstellen mir bewusst werden, so ist es nur da-durch möglich, dass ich mein Vorstellen
der Körperwelt vorstelle. Hier stehe ich auf einem höhern Punkte; ich
reflektiere meine in der eignen Vorstellung vorhandne Tätigkeit, und
eine solche Reflexion ist möglich.
Hierin nun, welches ich bloß im Vorbeigehen vor [für]
die, denen es nötig sein könnte, er-innere, besteht das Wesen der
transzendentalen Philosophie, dass nicht geradzu vorgestellt, sondern
dass das Vorstellen vorgestellt werde; dass nicht, nach der Art des
gemeinen Men-schenverstandes, unmittelbar über das Vorgestellte, sondern
über das Vorstellende, und erst vermittelst dieses über das Vorgestellte
reflektiert werde.
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 66/69
Nota. -
An dieser Stelle gibt es manches anzumerken. Zunächst: Geist ist nichts
als Tä-tigkeit. 'Nichts als' - also auch nicht etwas der Tätigkeit als
ihre Substanz zu Grunde Liegen-des.
Und dann: Mich selbst
kann ich nur vorstellen, indem ich mein noumenales 'reines' Ich
verunreinige und als empirische Person in die Körperwelt versetze. Erst
in der Reflexion, im Vorstellen des Vorstellens, kann ich mein 'reines'
Ich "wiederherstellen". Es ist freilich ein wieder-Wiederherstellen, denn es 'ist' ja überhaupt nur als Noumenon, nur für den Phi-losophen scheint es das Erste zu sein. Allerdings: nach 'dem Ersten' fragt auch nur der Phi-losoph. Das wirkliche Individuum kommt ohne zu fragen auf die Welt.
Nebenbei sei darauf aufmerksam gemacht, dass F. die Sprache - Wörter und Begriffe - als eine "Verkörperlichung des Geistigen" - der Vorstellungen - zum Zweck der Mitteilung be-stimmt.
Und schließlich: Während meiner online-Bearbeitung der WL nova methodo
habe ich mich über weite Strecken damit herumgeschlagen, dass Fichte
zwar das real-Geistige, das wirkli-che Vorstellen ausschließlich auf das Gefühl zurückführt, aber auch den Denkzwang, die Denkgesetze auf ein - offenbar geistiges! - Gefühl gründet und ihnen ipso facto wie den Erfahrungsbegriffen anschauliche
Realität zuschreibt. Bei Fichte muss doch alles hergleitet werden aus
Voraussetzungen, die er ihrerseits aus seinem Eingangspostulat
hergeleitet hat; doch an dieser Stelle fehlt die Herleitung! Und hier
in den ersten Vorträgen seiner Lehrtä-tigkeit finden wir eine Art
Begründung, die allerdings eine problematische Tatsachenbe-hauptung ist: "Wer sieht nicht, dass die Gefühle...?"
Seien wir ehrlich: Es
ist ein Trick. Was er herleiten müsste, aber nicht kann, schiebt er
stattdessen nachträglich unter. Das 'Gefühl' fürs Geistige wird nicht
aus den sinnlichen Gefühlen destilliert und raffiniert, sondern ihnen zu
Grunde gelegt. Er hat das niemals weiter ausgeführt, in den Rückerinnerungen... spricht er - mitten im Atheismusstreit - von einem "intellektuellen Gefühl", das ihm die Gewissheit, dass es Wahrheit geben muss, ver-bürgen soll.
Das Problem ist dies: Wenn es ein Gefühl sein soll, muss es in etwas Empirischem gründen. Wenn es etwas Intellektuelles sein soll, muss es ein Geistiges zum Gegenstand haben. Da der Gegenstand geistiger Art sein soll, muss eine empirisch-geistige Voraussetzung behaup-ten.
Für eine rationelle Lösung
des Problems waren die empirischen Humanwissenschaften längst noch nicht
entwickelt. Die Verbindung von Sinnlichem und Geistigem ist das
Ästhe-tische, das wusste Fichte. Er hätte aber den Begriff des Ästhetischen weiter fassen müssen, als nicht nur Schiller, sondern er selbst es sich vorstellen konnte.
25. 6. 17
Nota II. - Sagen wirs geraderaus: Der Denkzwang und das intellektuelle Gefühl sind nicht aus begründeten Prämissen hergleitet und zum Baustein im System geworden, sondern wurde nachträglich ins System eingefügt, als sich eine Lücke zeigte. Wie das körperliche Gefühl auf den Widerstand der Körper schließen ließ, lässt das intellektuelle Gefühl auf einen geistigen Widerstand schließen: Das Denken "sträubt sich", in der Reflexion anders zu verfahren als in der originären Vorstellung - und ist nur bedingt frei: bedingt durch sein eigenes Verfahren. - Die 'Lücke' im System wird per analogiam geschlossen, pragmatisch spekulativ, aber rationell.
JE, 30. 5. 21
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