aus nzz.ch, 16.11.2020 Gare Saint-Lazare Gemälde von Claude Monet, 1877
Die damals beliebten Attraktionen können in den heutigen Herbstmonaten noch immer Sehnsüchte wecken: Man fuhr im ausgehenden 19. Jahrhundert nach München, um die Neue Pinakothek zu besuchen, und verliess Paris nicht, ohne eine Oper gesehen zu haben, in London führte kein Weg am Victoria and Albert Museum vorbei, und vermutlich unternahm man von der Stadt aus auch gleich noch einen Ausflug nach Stratford zum Geburtshaus von Shakespeare. Spätestens ab 1879 legte jedenfalls der Zugfahrplan einen solchen Abstecher nahe, denn die Ankunft der Eisenbahn war nunmehr perfekt auf den Vorstellungsbeginn des neu eröffneten Shakespeare Memorial Theatre abgestimmt.
Überhaupt war die ganze Reisetätigkeit erst durch das Eisenbahnnetz möglich geworden, das ab den 1840er Jahren eine stetig zunehmende Zahl an europäischen Städten miteinander verband. Der Zug war damals im wahrsten Sinne bahnbrechend, mit Blick auf die Wirtschaft weiss man das längst: Er verbilligte den Transport von Gütern und brachte damit wirtschaftliche Verflechtung in einer Dichte, wie Europa sie bis dahin nicht gekannt hatte.
Aber das war eben nicht alles. Die Bahn beförderte auch Menschen und deren Ideen. Sie trug Bücher, Kunstwerke, überregionale Zeitungen oder Opernpartituren in Windeseile durch verschiedene Länder und liess die Leute, die sich so pausenlos auf dem Kontinent bewegten, Europa als einen einzigen Kulturraum erfahren. So ungefähr lautet die Kernthese, die Orlando Figes in seinem jüngsten Buch ausgehend von drei Künstlerbiografien entfaltet.
Der britische Historiker verfolgt die Dreiecksbeziehung zwischen der französisch-spanischen Sängerin Pauline Viardot-García, ihrem in der Kunstvermittlung tätigen Gatten Paul Viardot und dem russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew. Dieser war den Eheleuten eng verbunden und folgte Pauline als Geliebter von Paris über Berlin nach Baden-Baden und London in all die verschiedenen Städte, in denen die Kosmopolitin abwechselnd lebte. Wen die Leben und Lieben dieser drei Personen nicht übermässig interessieren, dem sei die Lektüre trotzdem empfohlen: Der Autor schafft es, die drei Biografien in ein grosses Panorama zu betten und ein allgemeines Verständnis zu schaffen für die neue Art der Kulturproduktion, die im 19. Jahrhundert entstand.
Ary Scheffer, Pauline Viardot-García als Hl. Cäcilie
Schematisch hat man sich die Sache so vorzustellen: Die traditionelle Förderung der Künste durch Könige, Höfe oder Mäzene entfiel in jener Zeit zusehends. Die jungen Staaten subventionierten zwar einige Kulturinstitutionen, doch im Prinzip hatten sich die Künstler im bürgerlichen Zeitalter in eigenständige Unternehmer zu verwandeln. Als freie Geister standen sie beim Bürgertum in hohem Ansehen – in Tat und Wahrheit, das zeigt Figes, ganz ohne es zu werten, waren die Künstler aber genau wie etliche andere Existenzen in die Logik der entstehenden Märkte eingebunden: Die Kunst musste an möglichst viele Leute gebracht werden, wenn der Künstler allein mit ihr über die Runden kommen wollte.
Das Publikum freilich war noch nie so gut zu erreichen gewesen wie jetzt, da der Zug die Distanzen scheinbar schrumpfen liess. Pauline Viardot etwa konnte in rascher Folge in diversen Städten auftreten, und weil sich auch die Kunde von den Künstlern und ihren Erfolgen rasch über Ländergrenzen hinweg verbreitete, wurde die Sängerin allenthalben als Star erwartet.
Auch für die meist privat geführten Theater und Opernhäuser war die erhöhte Mobilität von grosser Bedeutung: Mussten sie früher neue Stücke in hoher Kadenz produzieren, um ihr lokales Publikum bei der Stange zu halten, konnten sie nun auf neue Gäste aus ferneren Gegenden zählen und einzelne, erfolgreiche Produktionen viel länger im Repertoire halten – eine Entwicklung, die laut Figes mitverantwortlich war für die Herausbildung dessen, was man später «Kanon» nennen sollte.
Wie die Marktkräfte auf die Festigung des Geschmacks einwirkten, ist auch am Beispiel der Bücher zu sehen. Dank der Eisenbahn gelangten sie neuerdings überallhin: Das Schienennetz wurde bald von Verkaufsstellen für Bücher gesäumt, und gewiefte Buchhändler sicherten sich Monopole für Bahnhofkioske. Da sich die Massenproduktion von Büchern aber nur dann lohnte, wenn man die Titel auch wirklich absetzen konnte, richteten viele Verleger den Fokus auf Werke von «unzweifelhafter Popularität»; sie setzten auf bekannte Namen und zementierten dadurch ihrerseits einen Kanon.
Iwan Turgenjew
Grossen Autoren wurde es so zum Teil wirklich möglich, von den Einkünften aus den Büchern zu leben. Vielen aber entgingen erkleckliche Summen, weil ein verlässliches Urheberrecht fehlte. Iwan Turgenjew etwa zählte zu seiner Zeit zwar zu den bedeutendsten russischen Autoren, doch die vielen Übersetzungen seiner Werke trugen ihm nichts ein ausser Ärger – Geld erhielt er keines, und die schlechte Qualität der unautorisierten Ausgaben in anderen Sprachen brachte ihn nicht selten zum Verzweifeln. Turgenjew selber sollte es nicht mehr erleben, aber 1886, kurz nach seinem Tod, wurde in Bern erstmals eine internationale Übereinkunft getroffen, die geistiges Eigentum grenzüberschreitend schützte.
Diese völkerrechtliche Entwicklung zeichnet Figes nach in seinem Buch, oder vielmehr tippt er sie an, wie er den Einfluss der Fotografie auf die Künste, die Macht der Presse, die Bedeutung neuer Drucktechniken und vieles andere mehr eher streift als durchdringt. Manchmal lässt es der Historiker bei seinem ambitionierten Unternehmen auch sträflich an Genauigkeit fehlen – dass Gottfried Keller ein deutscher Nationalist war, liest man zum Beispiel mit einigem Staunen. Trotzdem ist Figes’ Buch ein Gewinn, gerade wenn man das ganze Panorama aus heutiger Warte betrachtet. Es zeigt nämlich nicht zuletzt auch eine Zeit, in der sich kulturelle Integration und nationaler Rückzug überkreuzten.
Victoria & Albert Museum, London
In dem Moment, da die Menschen durch ganz Europa reisten, deutsche Museen besuchten, in Paris bekannte Opern hörten, überall Shakespeare verehrten und allerorts zu denselben Walzern tanzten – just in diesem Moment des Zusammenrückens begannen zahlreiche Staaten und Künstler auf ihre nationalen Eigenheiten zu pochen. «Eine traurige Uniformität überzieht die Welt», monierte ein französischer Kritiker schon 1846, und im Verlauf des Jahrhunderts sollten sich gegen den Trend zur Verschmelzung zunehmend aggressive Formen nationalistischer Selbstbehauptung entwickeln – auch die kosmopolitisch gesinnten Viardots bekamen sie zu spüren.
Solche Klagen und Konstellationen konfrontieren den Leser unweigerlich mit aktuellen Themen, wie einen überhaupt die ganzen Reflexionen über Kultur, Markt und Mobilität direkt in die Gegenwart führen. Einzig die heimliche Heldin der Geschichte wird man zweifelsfrei in der Vergangenheit verorten: Die Eisenbahn hat ihre grosse Rolle leider schon lange ausgespielt.
Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2020. 642 S., Fr. 51.90.
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