Reduktionismus ist die philosophische Idee, dass komplexe Systeme als die Summe ihrer Teile betrachtet werden können. (Kricheldorf, 2016) Das Konzept des Neuroreduktionis-mus beschreibt die Tendenz, psychische Phänomene und Verhalten auf Gehirnzustände zu reduzieren. (Savulescu & Earp, 2014) Um genau zu sein, impliziert er, dass ein Phänomen wie das (Selbst-)Bewusstsein das Ergebnis von Hirnaktivität und Neurotransmitterwirkung sind. Während sich grundlegende Neurowissenschaftler hauptsächlich auf das Neurogenom konzentrieren, das sich im Nervensystem ausdrückt, werden Kenntnisse über Strukturen und Funktionen des Gehirns eher selten integriert. Diese Aufgabe wird eher von Psycholo-gen und Philosophen wahrgenommen. Daher ist die Frage, ob der Körper und das Gehirn selbst, ja sogar die Identität, auf Prozesse und Signale im Nervensystem reduziert werden können, eine eher philosophische Frage. (Werner, 1988)
In seinem Buch “Wir sind unser Gehirn” behauptet der niederländische Arzt und Neuro-wissenschaftler Dick Swaab, dass sowohl Körper als auch Geist von der Entwicklung des Nervensystems abgeleitet und durch Hypothesen über diese erklärt werden können. Der Titel selbst impliziert, dass alle Eigenschaften, die einen Menschen einzigartig machen, auf dem Gehirn beruhen. Dabei geht es nicht nur um physiologische Eigenschaften, sondern auch um die grundlegenden Charakteristika eines Individuums, wie z.B. sexuelle Orientie-rung, Persönlichkeitsmerkmale oder körperliche Aktivität. Aber sind neuroreduktionistische Erklärungen der Kognition möglich?, fragt Uttal. (Uttal, 2014) Sollten wir ungelöste Phäno-mene des Gehirns auf der mikroneuralen Ebene der Synapsen und gap junctions im Gehirn erklären oder eher auf der makroneuralen Ebene, wenn wir neuronale Netzwerke und Hirn-aktivität berücksichtigen?
In der Theory of Mind wird die Hypothese aufgestellt, dass temporoparietal junctions, die sich auf Verbindungen zwischen dem Temporal- und dem Parietallappen, neben anderen assoziativen Regionen und dem präfrontalen Kortex, beziehen, für die Entstehung der Selbstwahrnehmung verantwortlich sind. (Graziano & Kastner, 2011) (Abu-Akel & Sha-may-Tsoory, 2011) Dank Interventionsstudien mit Psychedelika konnte gezeigt werden, dass Bewusstsein ein Konstrukt unter dem Einfluss des Exposoms ist, das sich auf äußere und innere Einflüsse bezieht. (Letheby & Gerrans, 2017) Kritiker des Neuroreduktionismus bringen in Betracht, dass vor allem der Geist nicht neuroreduktionistisch gesehen werden sollte, eher in dem Sinne, dass er mehr wäre als die Summe seiner Teile. Die Grundlage wären natürlich neuronale Netze, aber das Bewusstsein wäre ein Konstrukt, zu komplex, um es auf diese Netze und die Aktivität darin zu reduzieren.
Referenzen
Abu-Akel, A., & Shamay-Tsoory, S. (2011). Neuroanatomische und neurochemische Grundlagen der Theorie des Geistes. Neuropsychologia, 49(11), 2971–2984. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2011.07.012
Graziano, M. S. A., & Kastner, S. (2011). Das menschliche Bewusstsein und seine Beziehung zu den sozialen Neurowissenschaften: Eine neue Hypothese. Kognitive Neurowissenschaften, 2(2), 98-113. https://doi.org/10.1080/17588928.2011.565121
Kricheldorf, H. R. (2016). Antiwissenschaft und Antireduktionismus. In H. R. Kricheldorf (Hrsg.), Richtig machen in Wissenschaft und Medizin: Kann Wissenschaft durch Fehler vorankommen? Irrtümer und Fakten (S. 53-69). Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-319-30388-8_4
Letheby, C., & Gerrans, P. (2017). Selbst ungebunden: Ich-Auflösung in psychedelischer Erfahrung. Neurowissenschaft des Bewusstseins, 2017(1), nix016. https://doi.org/10.1093/nc/nix016
Savulescu, J., & Earp, B. D. (2014). Neuroreduktionismus über Sex und Liebe. Think (London, England), 13(38), 7-12. https://doi.org/10.1017/S1477175614000128
Uttal, W. R. (2014). Are Neuroreductionist Explanations of Cognition Possible? Behavior and Philosophy, 42, 37–64. http://www.jstor.org/stable/behaphil.42.37
Werner G. (1988). Die vielen Gesichter des Neuroreduktionismus. Dynamik der sensorischen und kognitiven Verarbeitung durch das Gehirn, 241-257. https://doi.org/10.1007/978-3-642-71531-0_16
Nota. - Die empirischen Wissenschaften Biologie und Psychologie wollen und sollen erklä-ren, wie er zustande kommt; nicht erklären können sie, was er ist: der Geist; empirisch-fak-tisch: das Bewusstsein. Damit beschäftigen sich die aus eben diesem Grund so genannten Geisteswissenschaften: Sie beobachten, beschreiben, bewerten, wie er in der Geschichte, nämlich den Handlungen der Menschen, erscheint.
Aus welchem Motiv könnte man aber wissen wollen, was er ist? Doch wohl nur um der Kri-tik - griechisch für Beurteilung - willen: Sollte er besser so oder besser anders verfahren? Na, am besten ja wohl vernünftig! Was aber vernünftig ist und was nicht, darüber wird man immer streiten - entschieden werden kann der Streit nur auf vernünftigem Weg. Das ist eine sinnvolle Aussage - und kein unendlicher Zirkel - nur unter der Voraussetzung, dass sich im vernünftigen Verfahren eine logische Notwendigkeit darstellen lässt, die dem subjektiven Meinungsstreit entzogen ist.
Das zu untersuchen ist Sache der Philosophie; namentlich der extra so benannten Vernunft-kritik, alias Transzendentalphilosophie. Zu neurologischen Fragen hat sie nichts Eignes bei-zutragen. Beitragen kann sie freilich wissenschaftliche Kritik: ob nämlich dieses oder jenes Verfahren vernünftig ist oder nicht.
JE
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