Mittwoch, 27. April 2022

Das Sehen ist Schema der Idealität.

Joshua Reynolds          zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Man bestimmt ursprünglich den Ort eines Dinges im Raume nach Gutdünken, oder wie man sich ausdrückt: nach dem Augenmaße. Der Maßstab liegt unmittelbar im Auge, ich fasse einen größern und kleinern Raum auf und messe den ersteren durch den letzten, ich brechne, was für ein Quantum Sehens es bedürfte bis da oder dort hin. 

Aber hat das Sehen Quantität? Es ist doch wohl etwas Absolutes, wenn es als äußeres Sche-ma der inneren Idealität betrachtet wird! Aber beim Raumbestimmen ist auch nicht das blo-ße Sehen, sondern das Anschauen einer Linie, die ich ziehen müsste, um an den Ort zu kom-men. 

Diese Linie beschreibe ich nun so: Ich schätze mein Streben, wieviel Kraft-/aufwand ich anwenden müsste, wie oft ich mich aus meiner Stelle bewegen müsste, um in dem Ort zu sein, in dem sich das Objekt befindet. (Der Maßstab ist ohnstreitig der Schritt, vorausge-setzt, dass ich mich mit jedem Schritt ganz von der Stelle bewege und in eine neue Stelle eintrete.) Hier bekommen wir den ersten merklichen Punkt, wo die notwendige Beziehung der Vorstellung auf unser praktisches Vermögen dargestellt ist.

5. Das Bestimmende und Bestimmte sind synthetisch vereinigt. Ich kann nichts in den Raum setzen, ohne mich drein zu setzen, und ich kann mich nicht drein setzen, ohne andre Dinge hinein zu setzen; indem ich mich nur setze, in wiefern ich Dinge setze.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 121f. 



Nota I. - Das Sehen ist das Schema der Idealität: gr. idein = sehen. Ebenso ist Tätigkeit das Schema des Vorstellens - und jeder anderen Leistung des praktischen Vermögens. Dass dieses Praktische ganz hand- bzw. fußgreiflich zu verstehen ist, beweist das Beispiel des Schritts. Als Schema ist es freilich ein Absolutes, nämlich Noumenon.  

19. 11. 16

Sehen ist bilden.

nach Rudolpho Duba, pixelio.de 

In den späteren Darstellungen der WL erscheint das 'Sehen' als ein ursprüngliches Bilden [WL '13]

...aber das Bild ist immer ein Bild von Etwas: von dem, was im Bild dargestellt ist. Dies meint Fichte mit 'Sein', aber eben nicht, realistisch, eines, das dem Bilden als sein Vor-Bild zugrunde gelegen hätte; terminus a quo; sondern eines, das, nachdem es einmal gebildet ist, nicht anders angeschaut werden kann, denn als ob es schon immer hätte 'da sein' müssen: terminus ad quem. Es ist das, was schlechterdings sein sollte: "Die Wahrheit ist kein Fak-tum, keine Sache oder bloße Gegebenheit, sondern etwas, das schlechthin sein soll. Sie fordert ihre allseitige Verwirklichung; und nur, wo sie bejaht wird, verwirklicht sie sich." Reinhard Lauth, Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit, Stgt. 1966, S. 39f
aus e. Notizbuch, in den 90ern
 
Nota II. - So müsste man Fichte vor 1800 auffassen; später nicht mehr. 
Juni 2014 

Nota III. - Ob ein angeschautes Bild (da) sein soll, darüber entscheidet nicht die Einbil-dungskraft selber, sondern das Urteilsvermögen; der Teil der Einbildungskraft, der sich 'gegen sich selbst' wendet.

Aug. 2015 

Nota IV. - Bestimmen ist das Einbilden von Qualitäten: So habe ich es vor langem zusam-mengefasst. 'Real' nennt Fichte das Bild, das die Anschauung entwirft: "setzt". 'Ideal' ist die Reflexion darauf: das Qualifizieren des Angeschauten. 
JE

 

 

Nota. - Lieber Leser, Sie mögen sich an den vielen sachlichen Wiederholungen der letzten Wochen gestört haben. Ich bin damit beschäftigt, verstreute Bemerkungen zu einem jewei-ligen Komplex zusammenzustellen: Derselbe Gedanke bekommt in unterschiedlichen For-mulierungen verschiedene Färbungen - und das ist ein Fortschritt im Bestimmen - nicht beim Umfang, aber in der Schärfe. JE

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