Wir nehmen keine Erscheinungen wahr. Wir nehmen keine Bedeutungen wahr. Wir neh-men Dieses oder Das wahr. Was ist Dies oder Das? Eine Erscheinung, die etwas bedeutet. Könnte sie mir nichts bedeuten, würde sie mir nicht erscheinen.
In seiner Wirklichkeit
ist unser Wahrnehmen kein linearer Ablauf in Stufenfolge – erst
an-schauen, dann reflektieren, dann wahrnehmen in specie; oder andersrum.
Sondern, wie die zeitgenössische Hirnforschung nahelegt, ein
systemischer Prozess "in Permanenz". Es wird nicht erst diese, dann jene
und schließlich eine dritte Hirnregion aktiv, sondern sie interagie-ren "apriori"; und sie warten regelrecht darauf, zu tun zu kriegen, sie
suchen sich ihren Stoff. Darum spielt es auch keine Rolle, welche der
jeweils beteiligten Regionen stammesgeschicht-lich die ältere und welche
die jüngere ist. Heute agieren sie allezeit uno actu als Ein Ganzes System.
So geschieht das Bewerten des
unmittelbar durch die Sinnesreize Gegebenen – was man das 'ästhetische
Erleben' nennen könnte – gleichzeitig in mehreren Hirnarealen,
insbesondere dem Limbischen System, das aus mehreren
entwicklungsgeschichtlich sehr alten Teilen be-steht, und der als
Gustatorischer Cortex bezeichneten 'Inselrinde', die in der
entwicklungs-geschichtlich viel jüngeren Fissura Lateralis liegt. Und
zugleich spielen in noch immer un-verstandener Weise die Reaktionen des
Plexus solaris hinein, der überhaupt nicht zum Zen-tralen System gehört,
sondern aus einem Nervenknoten in der Bauchhöhle besteht – und insofern"uralt" ist.
Wenn also Baumgarten
seinerzeit das ästhetische Erleben als das "niedere" Erkenntnisver-mögen
bezeichnet hat, war das in neurophysiologischer Hinsicht grundfalsch. Es
spielt in die "höheren" Erkenntnisvorgänge jederzeit hinein, so wie
jene in diese.
Aber in philosophischer
Hinsicht ist es diskutabel. Die Philosophie betrachtet das Wissen – als
Inbegriff all unseres Gewärtigseins – nicht in seinem physiologischen
oder psychologi-schen Vorkommen, sondern nach seinem logischen Aufbau.
Logisch kommt von logos, und bezeichnet alles auf Sinn und
Vernünftigkeit Bezogene (und nicht lediglich die Regeln des korrekten
Schlussfolgerns). Zwar ist auch in logischer Hinsicht das Wissen (wenn es da ist) jederzeit 'ganz und auf einmal' da. Aber zugleich ist es 'geworden'.
Allein in logischer Hinsicht folgt notwendig eines aus dem andern, nur in logischer Hinsicht
gibt es 'Begründung' (und in der Naturwissenschaft wird die Vorstellung
der Kausalität nur 'sozusagen' verwendet, zu heuristischen Zwecken). In
logischer Hinsicht 'gibt es' also zuerst und danach. Da
müssen die Sinnesreize zuerst 'da' sein, bevor sie 'gemerkt', und
gemerkt werden, bevor die 'gewertet' werden können. Die
logisch-genetische Betrachtung ist etwas anderes als die
historisch-empirische.
Allerdings ist in
logischer Hinsicht die Begründungskette umkehrbar (was sie in der
Natur-wissenschaft, wo Begründung nur 'sozusagen' vorkommt, nicht ist).
Wenn das eine notwen-dig das andere zur Folge hat, dann hat das andere notwendig
das eine als Grund. Mit ande-ren Worten, der Schluss 'begründet' in
logischer Hinsicht den Anfang ebenso, wie jener ihn. Stellen wir uns das
Wissen als einen unbegrenzten Prozess vor – was es genetisch sicher
ebenso ist wie historisch –, dann ist das wirkliche Wissen eine endlose Umbegrün-dung alles wechselseitig Begründeten.
Das Gewärtigsein ist, wenn alles klappt, eine Revolution in Permanenz.
Dass alles klappt, ist in Ansehung unserer engen bürgerlichen Verhältnisse selten. Das ist schlecht für die Verhältnisse.
24. 8. 2013
Nota - Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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