aus spektrum.de, 21. Apr 2022 zu Jochen Ebmeiers Realien
Die Menschen werden immer dümmer
Vor
Tausenden von Jahren, als unsere Vorfahren als Jäger und Sammler
lebten, bot eine hohe Intelligenz einen klaren Selektionsvorteil. Das
tägliche Überleben hing maßgeblich von der Werkzeugnutzung, der
Jagdstrategie und der Anpassung an klimatische Verände-rungen ab.
Individuen mit niedrigem IQ überlebten häufig nicht lange genug, um
Nach-wuchs zu zeugen. Mit der stetig steigenden Intelligenz ging ein
Wachstum des Gehirns einher. Dies führte wiederum zu Problemen bei der
Entbindung. Frauen waren zur optimalen Fortbewegung auf ein schmales
Becken angewiesen, demnach musste die Geburt fortan in früheren
kindlichen Entwicklungsstadien erfolgen. Die zeitintensive Pflege der
Säuglinge zwang die nomadischen Völker zur Sesshaftigkeit und zur
Etablierung der Landwirtschaft. Mit dem Ackerbau verbesserten sich die
Lebensbedingungen. Der hohe Selektionsdruck auf einzelne Individuen
verschwand, weniger Intelligente hatten plötzlich ähnliche
Fortpflanzungsmöglichkeiten. Genetische Mutationen, die einen
niedrigeren IQ zur Folge hatten, konnten sich ungehindert ausbreiten.
Die Menschen wurden immer dümmer.
So
lautet die etwas irritierende Theorie des US-amerikanischen
Zellbiologen Gerald Crabtree. Da er selbst keine Studien durchführte,
sondern lediglich gängige Erkenntnisse der Genforschung interpretierte,
sollte man seinen Thesen wohl keine allzu große Bedeutung beimessen. Der
Ansatz hingegen ist faszinierend. Kann es wirklich sein, dass die
Menschen immer dümmer werden, weil der Selektionsdruck fehlt?
Intelligenz
Über
kaum eine Definition wird so kontrovers diskutiert. Grundsätzlich
versteht man darunter die kognitive Leistungsfähigkeit. Doch was genau
macht uns leistungsfähig? Kreativität? Logisches Denken? Sprachliche
Versiertheit? Und wie lässt sich das Ganze quantifizieren?
Der
Einfachheit halber orientiere ich mich im weiteren Verlauf am gängigsten
Quantifizierungsansatz, dem Intelligenzquotienten. Bei diesem Test
werden in verschiedenen Kategorien Fähigkeiten wie Sprachverständnis,
Bearbeitungsgeschwindigkeit, räumliches Denken oder Merkfähigkeit
geprüft. Den Ergebnissen wird anschließend eine Punktzahl zugeordnet,
die die Abweichung der Intelligenz vom Mittelwert 100 repräsentiert. Die
IQ Kurve ist normalverteilt und hat eine Standardabweichung von 15.
Etwa 70 % der Bevölkerung hat einen IQ zwischen 85 und 115, Punkte unter
70 (geistige Behinderung) oder über 130 (Hochbegabung) kommen nur bei
je 2% vor.
Der Flynn-Effekt

Entgegen Crabtrees konfusen Spekulationen konnte der Politologe James Flynn einen stetigen Anstieg des IQs seit Beginn der Aufzeichnung dokumentieren. Dieser Zuwachs war zwar weder linear noch in allen Regionen gleich stark ausgeprägt, allerdings betrug er in Industrienationen durchschnittlich immerhin 0,3 Punkte pro Jahr. Das entspricht 30 IQ Punkten pro Jahrhundert – der Differenz zwischen Durchschnittsintelligenz und Hochbegabung.
Der Anti-Flynn-Effekt
Bernt Bratsberg und Ole Rogebert stellten 2018 einen deutlichen Abfall des durchschschnittlichen IQs der Norweger fest, Forscher anderer Nationalitäten gelangten in letzter Zeit zu ähnlichen Ergebnissen. Werden die Menschen jetzt wieder dümmer?
Um die Beantwortung dieser Frage ranken sich zahlreiche Mythen. Einige machen die dysgenetische Entwicklung, also die vermehrte Fortpflanzung dümmerer Individuen, verantwortlich, andere die gestiegene Anzahl ungebildeter Einwanderer. Dass diese Theorien zumindest für die Abnahme des IQs nicht verantwortlich sind, lässt sich damit beweisen, dass auch innerhalb von Familien die Intelligenz sinkt. Kinder sind dümmer als ihre Eltern.
Flynn selber begründet dieses Phänomen mit einer gesunkenen Konzentrationsfähigkeit: „Die moderne Welt stellt alle zehn Minuten ein Stimulans bereit, einen Mord im Videospiel etwa. Wie kann man von jungen Leuten noch erwarten, Charles Dickens zu lesen, wenn es manchmal über 400 Seiten keine Verfolgungsjagd gibt?“ Nur wer sich konzentrieren kann, kann gut lernen. Andere Wissenschaftler kritisieren die Gleichsetzung schlechterer Testergebnisse mit geringerer Intelligenz und hinterfragen die Testmethoden.
Universalgenie oder Spezialist?
Zudem werden unsere kognitiven Fähigkeiten immer spezialisierter – Universalgenies gibt es schon lange nicht mehr. Aber benötigt man überhaupt interdisziplinäre Fertigkeiten, wie der IQ Test sie voraussetzt, um intelligent zu sein? Ein psychologischer Forscher verglich die Thematik mit dem Zehnkampf. Wenn man nur noch Laufen trainiert und in den Laufdisziplinen verhältnismäßig besser wird als die Leistung in weniger trainierten Disziplinen abnimmt, verbessert sich dennoch das Gesamtergebnis. Ab einem gewissen Punkt stagniert der Trainingsfortschritt im Laufen und das Gesamtergebnis wird wieder schlechter. Doch ob wir als Menschheit diesen Punkt der Stagnation erreicht haben oder ob wir einfach nur die Definition der Intelligenz und die Methodik unserer Intelligenztests aktualisieren müssen, wird sich wohl erst in der Zukunft zeigen.
Literatur
- Theodor Schaarschmidt (2019): Warum die Intelligenz nicht weiter steigt. [Online im Internet] URL: https://www.spektrum.de/news/warum-die-intelligenz-nicht-weiter-steigt/1612044 [Stand: 12.04.2022]
- Nina Weber (2012): Die Menschen werden dümmer. [Online im Internet] URL: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/steile-these-von-gerald-crabtree-die-menschen-werden-immer-duemmer-a-866909.html [Stand: 12.04.2022]
- Stephanie Pappas (2012): Are humans getting smarter or dumber? [Online im Internet] URL: https://www.livescience.com/37095-humans-smarter-or-dumber.html [Stand: 12.04.2022]
- Michael Tanji (2016) Declining intelligence. [Online im Internet] URL: https://www.washingtonexaminer.com/weekly-standard/declining-intelligence [Stand: 12.04.2022]
- Richard Lynn (2008) The decline of the world´s IQ. [Online im Internet] URL: https://www.researchgate.net/publication/222557600_The_decline_of_the_world%27s_IQ [Stand: 12.04.2022]
Nota. - Richtig müsste es heißen: Viel klüger werden wir nicht mehr. Denn nicht die Mutationsrate würde sinken, sondern bloß der Selektionsmechanismus würde erlahmen. Es würde sich schließlich ein allgemeines gleichmäßiges Intelligenzniveau einstellen und über-durchschnittliche Begabungen würden sich genetisch nicht besser bewähren als die durch-schnittlichen. Sie hätten keinen Selektionsvorteil. Und die Minderbegabungen - keinen Nachteil? Vielleicht würden sie als unschön aufgefasst wie Hasenscharte oder Schielen. Aber ein Vorteil wären sie in keinem Fall: Denn selbst wo sie eine Empfehlung bei der Partnerwahl wären - bei der Zuchtwahl wären sie es schon nicht mehr. Dass also das Durchschnittsniveau dauerhaft sinkt, ist nicht zu erwarten.
JE
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