Freitag, 31. Juli 2020

Die Bedingungen für die Entstehung des Systems sind nicht die Regeln seines Fortbestands.

                                                                                           aus Marxiana
 
Wenn z. B. das Weglaufen der Leibeignen in die Städte eine der historischen Bedingungen und Vorausset- zungen des Städtewesens ist, so ist es keine Bedingung, kein Moment der Wirklichkeit des ausgebildeten Städtewesens, sondern gehört zu seinen vergangnen Voraussetzungen, den Voraussetzungen seines Werdens, die in seinem Dasein aufgehoben sind. Die Bedingungen und Voraussetzungen des Werdens, des Entstehns des Capitals unterstellen eben, daß es noch nicht ist, sondern erst wird; sie verschwinden also mit dem wirklichen Capital, mit dem Capital das selbst, von seiner Wirklichkeit ausgehend, die Bedingungen seiner Verwirklichung sezt. 

So z. B. wenn bei dem ursprünglichen Werden des Geldes oder des für sich seienden Werths zu Capital eine Accumulation – sei es durch Ersparung an den durch eigne Arbeit geschaffnen Producten und Werthen etc – auf Seiten des Capitalisten vorausgesezt ist, die er als Nichtcapitalist vollbracht hat – wenn also die Voraus- setzungen des Werdens des Geldes zu Capital als gegebne äussere Voraussetzungen für die Entstehung des Capitals erscheinen – so, sobald das Capital als solches geworden ist, schafft es seine eignen Voraussetzungen, nämlich den Besitz der realen Bedingungen für Schöpfung von Neuwerthen ohne Austausch – durch seinen eignen Productionsprocess. 

Diese Voraussetzungen, die ursprünglich als Bedingungen seines Werdens erschienen – und daher noch nicht von seiner Action als Capital entspringen konnten – erscheinen jezt als Resultate seiner eignen Verwirklichung, Wirklichkeit, als gesezt von ihm – nicht als Bedingungen seines Entstehens, sondern als Resultate seines Da-seins. Es geht nicht mehr von Voraussetzungen aus, um zu werden, sondern ist selbst vorausgesezt, und von sich ausgehend, schafft die Voraussetzungen seiner Erhaltung und Wachsthums selbst. 
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K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.2 S. 368 [MEW 42, S. 372]


Nota. - Der 'Grund' eines Systems liegt außerhalb seiner und kommt in ihm nicht vor, und die immanente, "logische" Analyse kann ihn nicht ergründen. - Dieser Gedanke kommt in der ontologischen Dialektik Hegels natürlich nicht vor: Da ist durchgehend das Eine, als Substanz gefasste Große Subjekt am Wirken. Nun ist Hegels Dialektik eine dogmatische Parodie der kritischen, analytisch-synthetischen Methode Fichtes. Der Gedanke, dass der Grund eines Systems nur außerhalb seiner gefunden werden kann, ist dort ein durchgängiges Denk- motiv. Wer das, was an Hegel allenfalls brauchbar ist, vom Kopf auf die Füße stellen will, wird sich bei Fichte wiederfinden.
JE, 28. 8. 15




Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.  JE
 

Um ihrer selbst willen.

Ajax und Achilles                                                                  aus Philosophierungen

Dies hat das Philosophieren mit Kunst und dem Spielen gemeinsam: dass es um seiner selbst willen geschieht.
 

Wozu sie in der Welt taugen, kann man die Resultate des Philosophierens fragen - sofern es zu solchen kommt; nicht aber das Philosophieren selbst. Der Philosophierer muss sich vor der Welt rechtfertigen, sofern sie ihn be-zahlt, sonst nicht.

Für die Art des Philosophierens macht das einen Riesenunterschied. 
2. 7. 17


Die Art des Philosophierens... 

Ich kann fragen, was Wahrheit ist, kann fragen, ob es sie überhaupt gibt, kann fragen, ob die Welt wirklich ist und, wenn ja, was ich in ihr soll. Ich kann fragen, ob ich wissen kann und was wissen überhaupt bedeutet. Das lässt sich endlos fortspinnen. Schließlich muss ich fragen, was philosophieren überhaupt ist, und alles fängt von vorne an. 

Es läuft nämlich immer darauf hinaus, dass ich einen Sinn finden will - in allem, was es auch sei. Anders als ein gegenständliches Ding, das ich, wenn ich will, links liegen lassen kann, kann mir ein Sinn nicht gleichgültig blei-ben, denn je nachdem, wie er ausfällt, muss ich mein Wollen selbst danach bestimmen. Für mich, der ich mein Leben zu führen habe, ist der Sinn immer "eher da" als die Welt und die Dinge.

Wenn aber keiner 'da' wäre, wären in gewissem Sinn auch die Dinge nicht da.

Ich spiele um des Spielens willen. Aber ich philosopophiere, um mein Leben - so oder anders - führen zu können. Das ist offenbar nicht dasselbe.
5. 5. 19 


Donnerstag, 30. Juli 2020

Windräder.

FAZ     zu Geschmackssachen

Ich weiß nicht, ob ich da wohnen wollte. Doch ästhetisch gesehen, ist das obige Foto ein Bild. Ohne die Windräder wäre es das nicht.

Als ich als junger Mensch meinen ersten Fotoapparat bekam, habe ich alle Motive vermieden, auf denen Land-schaft von menschlichen Zutaten profaniert wurde. Strommaste waren mir ein Gräuel. Inzwischen habe ich Bilder gesehen, die durch die Masten überhaupt erst ansehnlich werden. Und wie Sie oben sehen, ist das mit Windrädern nicht anders. Es braucht vielleicht nur noch ein bisschen Zeit.




Wie kam der Mensch zum Reflektieren?

  Jusepe Ribera, St. Peter                                                         aus
aus derStandard, 17. 5. 2019

... In Brasilien zeichnete das Team um Melissa Berthet die Laute von Titi-Affen (Springaffen) auf, nachdem die Wissenschafter ein ausgestopftes Raubtier – einen Raubvogel oder eine Raubkatze – am Boden oder im Blätterdach in unmittelbarer Nähe der Gruppe platziert hatten. Später spielten sie der Gruppe die aufgezeich- neten Laute wieder vor, um die Reaktionen der Affen zu beobachten. Demnach konnten die Tiere durch die Laute Informationen über den Typ des Raubtiers und seinen Standort vermitteln, schienen dabei jedoch keine Kategorisierung zu verwenden, wie es beim Mensch der Fall ist.

"Wir neigen dazu, die Ereignisse, die uns umgeben, in Kategorien einzuteilen, auch wenn die Unterschei- dung zwischen diesen Kategorien tatsächlich unklar ist", sagte Berthet. "Zum Beispiel bilden die Farben eines Regenbogens ein Kontinuum, aber Menschen bevorzugen es, über sieben Farbbänder zu sprechen", so die Forscherin.


In ähnlicher Weise würden Menschen in der den Affen präsentierten Situation dazu neigen, vier Kategorien zu unterscheiden: bodenlebendes Raubtier am Boden, Flug-Raubtier am Boden, bodenlebendes Raubtier im Blätterdach, Flug-Raubtier im Blätterdach.

Nicht so bei den Affen: Sie stellen diese vier Situationen als Kontinuum dar, und zwar durch Lautfolgen aus Kombinationen von Schreipaaren, die aus Schrei A und/oder Schrei B bestehen können. Je weniger Kombi- nationen von zwei B-Schreien in der Lautfolge vorhanden sind, desto mehr schauen die zuhörenden Affen in die Luft, um dort nach einem Raubtier zu suchen. Aber sobald die Anzahl der Kombination mit zwei B-Schreien zunimmt, schauen die Affen eher zum Boden. Diese als probabilistisch bezeichnete Informati- onsübermittlung wurde bisher bei keiner anderen Tierart beschrieben. ...
 

mein Kommentar:

Die Auffassung der Erscheinungen der Welt als eindeutig zu Unterscheidende nennen wir die digitale, die Auffas- sung der Erscheinungen als gleitendes Kontinuum nennen wir eine analoge. Um die digitale Wahrnehmung so wiederzugeben, dass ein Anderer sie identifizieren kann, braucht man ein unmissverständliches Zeichen, ein digit, am besten ein - Wort. Eine analoge Wiedergabe bedarf eines kontinuierlichen Signalsystems.

Was war eher da - die digitale Wahrnehmungsweise des Menschen oder seine sprachliche Mitteilungsweise? Ich wage mal eine Spekulation: Es war die Wiedergabe durch spezifische Wortzeichen, die durch Äonen das unser Bewusstsein geprägt, nämlich überhaupt erst möglich gemacht hat, und diese Bewusstseinsverfassung hat ihrer- seits unsere Wahrnehmung geprägt.

Und siehe da: Eine 'vernünftige' Weltanschauung, und darunter verstehen wir seit gut 200 Jahren eine, die die Phänomene einander als Ursachen und Wirkungen zuordnet, ist nur bei einer digitalen Unterscheidung der Wahrnehmungen möglich: Eine Erscheinung muss als diese Eine spezifiziert worden sein, um ihr 'diese eine' Ur- sache zuschreiben zu können. Wessen Wahrnehmung aus ineinander übergehenden Bildern besteht, muss sich mit erfahrungsmäßiger Wahrscheinlichkeit bescheiden.


Merke: Die Unterscheidung nach Ursache und Wirkung ist reflexiv, sie schaut sich um: 'Da' ist die Erscheinung, die Ursache muss als hinter ihr verborgen angenommen werden - als schon geschehene, und durch sie ist sie bestimmt. Der probabilistische Blick in die Welt sieht nach vorne, er erwartet etwas; doch das Etwas ist analog, nur ungefähr, noch unbestimmt.

JE 

*


Nachtrag.

Das könnte zu einem Aha-Erlebnis der Anthropologie werden. Die Hirnforscher stehen ratlos vor der Tatsache der Reflexion. Wir denken nicht nur dieses und jenes, sondern wir denken uns, wir denken, dass wir denken, wir denken Dieses als ein Anderes. Aus ihren bildgebenden Verfahren können sie weder ersehen, wo, noch wie das geschieht. Sie können sich vor allem nicht vorstellen, was es ist.
 

Überliefert war die Auffassung, dass es für jede spezifische Leistung des Erkenntnisapparats eine spezialisierte Region im Gehirn gäbe, die für sie und sonst nichts zuständig wäre. Die schematische Unterscheidung zwischen Broca- und Wernicke-Zentrum ist wohl inzwischen von der Vorstellung zweier spezifischer neuronaler Verbün- de ersetzt, die zwar um einern Schwerpunkt herum gruppiert, aber über einen größeren Raum verteilt sind. Es sind dynamische Verbünde zwischen vielen einzelnen Neuronen; das macht sie so plastisch.

Und es bleibt dabei: Nur wir Menschen verfügen darüber, die Tiere nicht.

Man stellt sich leicht vor, wie nach dem zuerst entwickelten 'technischen' Broca-Areal sich stetig das 'semanti- sche' Wernicke-Areal ausgebildet hat: Die Struktur folgte der peiristischen Funktion. Kaum vorstellbar ist hin- gegen, die Struktur sei durch ein oder zwei plötzliche Mutationssprünge fix und fertig entstanden und habe die Individuen veranlasst, sie in Funktion zu nehmen.

Dass das begriffliche und eo ipso reflektierende Denken immanent aus der Evolution des Gehirngewebes ent- sprungen sei, ist aber nur unter letzterer Hypothese vorstellbar. Begreifen heißt: ein Phänomen so weit eingren- zen und fest-stellen, dass es mit einem anderen Phänomen nicht mehr verwechselbar ist. Eingrenzen lassen sich die Phänomene allerdings nicht durch ihre sinnlichen Qualitäten: Die gehen stetig ineinander über, wie die Farben des Regenbogens. Um sie immerhin grob unterscheiden zu können, muss man sie unter übersinnliche Bedeutungen fassen: namentlich unter die Zwecke, zu denen man sie brauchen wollen kann.

Wird auf den Unterschied gemerkt, entsteht im sinnlichen Kontinuum ein semantischer Bruch. Der schreit gera- dezu nach dem Beachtetwerden, und aus dem Wahrnehmen eines Unterschieds wird die Bedeutung eines Gegen- satzes. Und das ist Reflexion. Denn der Gegensatz stellt sie Dinge so dar, als ob sie gegeneinander tätig würden. Die aus festgestellten Begriffe starr gefügte Welt wird dynamisiert.

Nicht aus der veränderten Struktur des Hirngewebes wäre die Funktion des Sprechens entstanden, sondern mit der sich ausbildenden Sprachfunktion wäre eine Veränderung der Gewebestruktur einhergegangen.

Das ist ein Modell; wie gut es sich zu einer empirisch überprüfbaren theoretischen Hyposthese entwicklen lässt, können nur Fachleute beurteilen. Es würde immerhin einige offene Fragen klären und sollte daher versucht werden, meine ich.

19. 5. 19
 

Vermittlung, Für-sich-sein und gegenseitige Anerkennung.

                                                                                          aus Marxiana

Aber dieß ist nicht alles: Das Individuum A dient dem Bedürfnisse des Individuums B vermittelst der Waare a, nur insofern und weil das Individuum B dem Bedürfniß des Individuums A vermittelst der Waare b dient und vice versa. Jedes dient dem andren um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines Mittels. 

Es ist nun beides in dem Bewußtsein der beiden Individuen vorhanden: 1) daß jedes nur seinen Zweck erreicht, soweit es dem andren als Mittel dient; 2) daß jedes nur Mittel für das andre (Sein für andres) wird als Selbst-zweck (Sein für sich); 3) daß die Wechselseitigkeit, wonach jedes zugleich Mittel und Zweck, und zwar nur seinen Zweck erreicht, insofern es Mittel wird, und nur Mittel wird, insofern es sich als Selbstzweck sezt, daß jeder sich also als Sein für andres sezt, insofern er Sein für sich, und der andre als Sein für ihn, insofern er Sein für sich – daß diese Wechselseitigkeit ein nothwendiges fact ist, vorausgesezt als natürliche Bedingung des Aus-tauschs, daß sie aber als solche jedem der beiden Subjekte des Austauschs gleichgültig ist, und ihm diese Wech-selseitigkeit nur Interesse hat, so weit sie sein Interesse als das des andren ausschliessend, ohne Beziehung darauf befriedigt. 

D. h. das gemeinschaftliche Interesse, was als Motiv des Ge-/sammtakts erscheint, ist zwar als fact von beiden Seiten anerkannt, aber als solches ist es nicht Motiv, sondern geht so zu sagen nur hinter dem Rücken der in sich selbst reflectirten Sonderinteressen, dem Einzelinteresse im Gegensatze zu dem des andren vor. Nach dieser lezten Seite kann das Individuum höchstens noch das tröstliche Bewußtsein haben, daß die Befriedigung seines gegensätzlichen Einzelinteresses grade die Verwirklichung des aufgehobnen Gegensatzes, des gesell-schaftlichen allgemeinen Interesses ist. 

Aus dem Akt des Austauschs selbst ist das Individuum, jedes derselben in sich reflectirt als ausschließliches und herrschendes (bestimmendes) Subject desselben. Damit ist also die vollständige Freiheit des Individuums gesezt: Freiwillige Transaction; Gewalt von keiner Seite; Setzen seiner als Mittel, oder als dienend, nur als Mittel um sich als Selbstzweck, als das Herrschende und Uebergreifende zu setzen; endlich das selbstsüchtige Interes-se, kein darüber stehendes verwirklichend; der andre ist auch als ebenso sein selbstsüchtiges Interesse verwirkli-chend anerkannt und gewußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in der Dop-pelseitigkeit, Vielseitigkeit, und Verselbstständigung nach den verschiednen Seiten der Austausch des selbst-süchtigen Interesses ist. Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen. 
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K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.1 [MEW 42, S. 169f.]

 
Nota I. - Das bürgerliche Individuum ist a priori als vergesellschaftet gesetzt: So 'findet es sich vor'. Vergesellschaf-tet aber nicht naturwüchsig durch leibhaftige Angehörigkeit zu einer Lebensgemeinschaft, sondern vorab vermittelt durch eine überpersönliche Instanz, den Markt; außerdem können die Andern ihm fremd bleiben. Als Markt-teilnehmer ist er eine öffentliche Person, ansonsten wird er privat, was er in den naturwüchsigen Gemeinschaf-ten niemals konnte.

Nota II. - Wenn Sie übrigens meinen, Vermittlung, Fürsichsein und Anerkennung seien Hegel'sche Schlüssel-wörter, liegen sie nur halb richtig. Zuvor waren sie nämlich Fichte'sche Schlüsselwörter, bei dem hat sie der andere geklaut.
JE 22. 3. 18



Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.  JE 

Das Schema der Wissenschaftslehre, vorwärts und rückwärts.

E. Muybridge                                                                                                          zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Wissenschaftslehre sucht sonach den Grund von allem Denken, das für uns da ist, in dem innern Verfah- ren des endlichen Vernunftwesens überhaupt. Sie wird sich kurz so ausdrücken: Das Wesen der Vernunft be- steht darin, dass ich mich selbst setze, aber das kann ich nicht, ohne mir eine / Welt, und zwar eine bestimmte Welt entgegenzusetzen, die im Raume ist und deren Erscheinungen in der Zeit aufeinanderfolgen; dies alles geschieht in einem ungeteilten Moment; da Eins geschieht, geschieht zugleich alles Übrige.

Aber die Philosophie und besonders die Wissenschaftslehre will diesen einen Akt genau kennen lernen, nun aber lernt man nichts genau kennen, wenn man es nicht zerlegt und zergliedert. So macht es also auch die Wis- senschaftslehre mit dieser einen Handlung des Ich, und wir bekommen eine Reihe miteinander verbundener Handlungen des Ich – darum, weil wir die eine Handlung nicht auf einmal fassen können, weil der Philosoph ein Wesen ist, das in der Zeit denken muss. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 8f.
 

Nota I. Hier steht es unmissverständlich: Das Wesen der Vernunft besteht in einem Akt. Vorher war nichts, es kommt hernach nichts hinzu; keine Bedingung, keine Einschränkung, keine Erweiterung. Sollte er wirklich von allem Anfang an der Vernunft ein – immanentes oder ihr vorausgesetztes – Programm zu-gedacht haben, so müsste er es heimlich getan haben; gesagt hat er jedenfalls ausdrücklich das Gegenteil..

26. 10. 15

Nota II. - Um mich als Ich zu setzen, muss ich mir eine reale Welt entgegensetzen, die in Raum und Zeit besteht und in denen das Gesetz von Ursache und Wirkung herrscht. Meine Aufgabe ist das Fortbestimmen der Dinge in der Welt und eo ipso meiner selbst, und das ist nichts anderes als das freie Bestimmen meiner Zwecke mit und zwischen ihnen. Der Aufgabe wurde ich gewahr, indem ich mich in einer Reihe vernünftiger Wesen vor- fand, unter denen ich meine Zwecke so bestimme, dass auch sie die ihren frei bestimmen können. Summa: Ver- nunft besteht in der Suche nach gemeinsamer Zweckbestimmung. 

Das ist, grob gesagt, das Schema der Wissenschaftslehre. Hinzugefügt sei, dass hier das wirkliche Verfahren der Transzendentalphilosophie umgekehrt wird. Ihr tatsächlicher Ausgangspunkt war nicht ein Ich, das sich setzen soll, sondern vielmehr die vorgegebene Vorstellung von Vernunft als der Aufgabe, gemeinsame Zwecke zu be- stimmen. Von diesem Ausgangspunkt ging sie zurück zu den Bedingungen seiner Möglichkeit und fand auf - ein Unbestimmtes, das sich als Ich setzen soll.
JE, 

26. 9. 18

Mittwoch, 29. Juli 2020

Gibt es denn Wahrheit?

Sais                                                                                              aus Philosophierungen

Ich meine nicht, dass "es" Wahrheit "gibt". Wer oder was könnte mit "es" gemeint sein? Und was sollte "geben" hier bedeuten?* Dennoch haben alle Sätze, die ich sagen kann, nur dann einen Sinn, wenn ich unterstelle, daß sie wahr sind. Das ist offenbar ein Paradox. Das läßt sich nur... nein, nicht ausräumen, sondern lediglich: vor mir her schieben, indem ich sage, dass es Wahrheit geben soll

Natürlich kann ich aber "den Dingen" nicht vorschreiben, wie oder was sie 'sollen'! Der Satz 'Wahrheit soll sein, weil anders meine Sätze keinen Sinn haben' lässt sich anders formulieren: 'Du sollst reden, als ob es Wahrheit gä-be'. Das ist keine theoretische Tatsachenbehauptung, sondern eine praktische (pragmatische) Fiktion. 

Ob ich diese Fiktion logisch, ethisch oder ästhetisch nenne, ist an diesem fortgeschrittenen Punkt schon gleich-gültig. Es gibt allerdings (denkpraktische) Gründe, sie als eine ästhetische Fiktion aufzufassen.


aus e. online-Forum, 29. 9. 07


*) Auf Englisch heißt es there is: Da ist.
Auf Französisch il y a: Da hat es.
Auf Spanisch hay: Hat (es).
Italienisch: c'è: Da ist 


 

Hagia Sophia.


Als Museum ging der Hagia Sophia ihr Wichtigstes verloren.

Das Wichtigste war ja nicht ihre konfessionelle Beschränkung; weder die griechisch-orthodoxe noch die sunni-tisch-muslimische oder überhaupt eine christliche. Dass sie ein Gotteshaus war, ist aber schon von Belang.

Denn als Gotteshaus beruhte ihre spirituelle Kraft zuerst in der ästhetischen Gewalt ihrer Raumwirkung. Von Justinian gedacht als eine Burg des Heiligen Geistes, von den Muslimen immerhin geachtet als ein Ort göttliche Gegenwart.

Dass Touristen sich dieses Erlebnis nicht entgehen lassen wollen, ist verständlich. Doch als Museumsbesucher werden sie viel mehr auf dieses oder jenes Detail - dieses Mosaik oder diesen Erzengel - Acht geben als auf das Erlebnis des Raumes. Und werden gerade als Touristen an der Hauptsache vorbeisehen.

Dass Erdogan bloß einen seiner vielen Tricks im Sinne hatte, kann man still in Kauf nehmen. Kemal Atatürk war es ja auch nicht ums Ästhetische zu tun.

Die ominöse fünfte Kraft.

aus wissenschaft.de,

Die “fünfte Kraft” und das hartnäckig hypothetische X17-Teilchen [Astrodicticum Simplex]
Die “fünfte Kraft” ist wieder mal kurz davor entdeckt zu werden. Das klingt schön mysteriös, ist in diesem Fall aber zur Abwechslung mal keine Pseudowissenschaft sondern echte Physik. Wenn auch vielleicht nicht so spektakulär wie manche Medienberichte es darstellen. Eine ausführliche Erklärung dessen, worum es geht, kann man nebenan bei Martin Bäker nachlesen; ich möchte die ganze Sache hier noch einmal kurz aktualisieren und zusammenfassen.

Die ganze Geschichte hat 2015 im ungarischen Debrecen begonnen. Damals veröffentlichten Attila Krasz-nahorkay und seine Kollegen vom Atomki Institut eine Arbeit zur Untersuchung des Zerfalls von Berylli-um-Atomen. Mit den bestehenden Modellen der Teilchenphysik kann man solche Prozesse sehr gut vor-hersagen. Und wenn die Vorhersagen dann nicht mit den Messergebnissen übereinstimmen, wird es span-nend. Denn das kann bedeuten, dass man etwas entdeckt hat, von dessen Existenz man vorher nichts wusste. Genau das haben Krasznahorkay und seine Kollegen damals behauptet und ich habe in meinem Blog auch darüber berichtet. In diesem Fall gab es dann aber schnell Hinweise, dass es sich eher doch um nicht sorgfältig genug durchgeführte Experimente anstatt neuer Physik handelt.

Ganz simpel gesagt geht es um folgende Situation: Wir beschreiben die Wechselwirkung zwischen den Grundbausteinen der Materie derzeit durch vier unterschiedliche Kräfte. Neben der schwachen und der starken Kernkraft, die nur innerhalb der Atome selbst wirken, gibt es auch noch die Gravitationskraft und die elektromagnetische Kraft, die man brauch, um zu erklären, wie die Materie auf größeren Maßstäben funktioniert. Mit diesen vier Kräften lassen sich alle bisher bekannten und beobachteten Phänomene erklären. Beziehungsweise sind es eigentlich fünf Kräfte, denn seit 2012 wissen wir ja auch von der Existenz des Higgs-Teilchens, das ebenfalls eine Kraft vermittelt, die – vereinfacht gesagt – dafür verantwortlich ist, dass die Elementarteilchen eine Masse haben (was bedeutet, dass es bei der “fünften Kraft” eigentlich um die “sechste Kraft” geht, aber das ignorieren wir jetzt mal). 

Wir wissen aber, dass es noch einige offene Fragen in der Teilchenphysik gibt. Wir wissen noch nicht, wie die Gravitationskraft mit den drei anderen Kräfte auf der Ebene der Elementarteilchen zusammenwirkt. Wir wissen noch nicht, wie Neutrinos genau funktionieren. Wir wissen noch nicht, woraus die dunkle Materie besteht und was dunkle Energie ist. Und so weiter – kurz gesagt: Wir wissen, dass uns in unserem Modell der Teilchenphysik irgendetwas fehlt. Es ist also nicht unplausibel, dass da noch unbekannte Teilchen zu entdecken sind und eben auch unbekannte Kräfte, die zwischen den Teilchen wirken.

Die ungarischen Forscher waren der Meinung, ihre Beobachtung des Zerfalls von Beryllium-Atomen würde Hinweise zeigen, die auf die Existenz genau so einer bisher unbekannten Kraft hindeuten. Und haben das in einer kürzlich veröffentlichen Arbeit ein weiteres Mal behauptet. Die trägt den Titel “New evidence supporting the existence of the hypothetic X17 particle”, und jetzt fragen sich natürlich alle: Was ist ein “X17 Teilchen”?

Die Kurzversion: Der Atomkern eines Beryllium-8-Atoms ist radioaktiv. Das heißt, er zerfällt und dabei werden ein Elektron und ein Positron erzeugt. Die sollten sich nach dem Zerfall in etwa in die gleiche Richtung bewegen. Was sie aber in den Experimenten von Krasznahorkay und seinen Kollegen überra-schend oft nicht getan haben. Sondern in einem Winkel von 140 Grad auseinander geflogen sind. Das kann, so die Hypothese, passieren, wenn das Beryllium nicht sofort ein Elektron-Positron-Paar produziert, sondern zuvor ein anderes Teilchen. Das ist aber ebenfalls instabil, und erst wenn dieses unbekannte “X”-Teilchen zerfällt, kriegt man die Elektronen und Positronen, die man beobachten kann. 

Die Energie, die im X-Teilchen steckt, wird auf Elektronen und Positronen übertragen, weswegen die sich in unterschiedliche Richtungen fortbewegen. Damit das alles funktioniert, muss das X-Teilchen eine Masse von 17 Mega-Elektronenvolt haben, und darum hat man es “X17-Teilchen” genannt. In der neuen Arbeit haben Krasznahorkay und seinen Kollegen sich jetzt ähnliche Zerfallsprozesse bei anderen Atomen angesehen und kamen zu dem Schluss, das auch hier die Existenz des X17-Teilchens die Ergebnisse erklären können.


Nota. - Man sagt immer noch Kraft, aber gemeint ist überall längst Wechselwirkung. Unter Kraft stellt man sich vor: Eines wirkt auf das Andere; dieses ist aktiv, jenes ist passiv. Als könnte die Kraft auch allein für sich 'dasein', ohne zu "wirken". Heute denkt man vielmehr an ein wechselseitig aktives Verhältnis zwischen Zweien. Weshalb man sich zu einem neuen Partikel auch eine neue Kraft denken muss.
JE




Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.  JE

Ist die Kritik der Politischen Ökonomie selber eine Theorie?

Gerrit Dou                                                                                               aus Marxiana

Die KpÖ ist keine positive Beschreibung der wirklichen ökonomischen Vorgänge. Sie ist ein logisches Modell. Das Wirtschaftsgeschehen ist aber keine logische Operation, sondern besteht aus wirklichen Alltagsereignissen. Wozu also das Modell?

Der Test auf die Theorie ist in der Wissenschaft, sagt Marx [irgendwo?], das Experiment. Anders als in den Na-turwissenschaften könne man in den Gesellschaftswissenschaften keine Versuchsanordnungen arrangieren. Das Gedankenexperiment müsse das Labor ersetzen. Das logische Modell ist dazu da, Gedankenexperimente zu er-möglichen.

Auch die positive Volkswirtschaftslehre liebt Modelle: mathematische Modelle. Ihr Zweck ist es, den wirtschaft-lichen Akteuren – bis hin zu den Wirtschaftspolitikern – Gedankenexperimente zu erlauben, die ihnen einen An-haltspunkt für praktische Entscheidungen geben. Im reellen Wirtschaftsgeschehen sind Experimente übrigens durchaus möglich. Schon mancher Unternehmer hat sein Geschäft nach dem trial an error Prinzip betrieben. War er dann pleite, dann ist er um eine Erfahrung reicher, aber um sein Kapital ärmer. Beim nächsten Mal würde er es besser machen, aber leider gibt es kein nächstes Mal. Dem zockenden Wirtschaftspolitiker mag es ebenso ergehen. Mathematische Modelle sind praktisch-spezifisch. Der praktische Zweck ist a priori gegeben: der größt-mögliche Nutzen für den, der zu entscheiden hat. Das Modell erlaubt zu errechnen, welcher kurzfristige Nutzen heute meinen langfristigen Nutzen morgen und übermorgen kompromittieren könnte; und rät gegebenenfalls an, auf das unmittelbar Naheliegende zu verzichten.

Das logische Modell der KPÖ hat nicht den Zweck, praktische Entscheidungen zu ermöglichen. Es dient dazu, durch experimentelle Versuche am Modell Fragen zu formulieren, die an das wirkliche Wirtschaftsgeschehen ge-stellt werden können, um das Funktionieren des Gesamtgeschehens zu verstehen. Es ist ein kritisches Werkzeug gegenüber dem ökonomischen Globalprozeß, und keine Untersuchung individueller Entscheidungsmöglichkeiten.

So wie im Übrigen die "Versuchanordnung" des Naturwissenschaftlers in seinem Labor ebenfalls nicht die wirk-liche Natur ist, sondern eben ein Modell davon – genauer gesagt, das Modell eines vorab gedanklich isolierten Teils davon. Seine Ergebnisse bilden keineswegs die Vorgänge in der Wirklichkeit ab, sondern geben ein cue, ein kriti-sches Werkzeug für deren Beobachtung. Freilich stellt auch der ökonomische Globalprozeß, den das Modell der KPÖ 'repräsentiert', nicht das ganze gesellschaftliche Leben dar, sondern - wiederum - nur einen davon gedanklich vorab isolierten Teil… 

[Fall der Profitrate] 

Das Kapital interessiert sich nicht für die Rate, sondern für seinen Profit – im Verhältnis zu… Ja, im Verhältnis wozu? 

Den Aktionär interessiert allerdings die Rate: Wie hoch ist seine Rendite, im Vergleich zur Rendite in andern Un-ternehmen (oder Geschäftszweigen)? Ist sie nämlich niedriger als dort, verschiebt er seine Anlage in den profita-bleren Sektor. Ist die Durchschnittsrendite 5%, dann wird er mit 4% nicht zufrieden sein. Liegt sie bei 3%, wird er sich mit 4% glücklich schätzen (und es bald mit dem konkurrierenden Kapital zu tun bekommen, das nun in seinen Sektor  strömt). Der Aktionär zieht seine Anlage erst dann aus dem Verkehr, wenn er gar nichts mehr be-kommt – und legt einen Schatz an. [Die um sich greifenden Hedge Fonds…?] 

Für das operierende Kapital ist der Bezugspunkt aber nicht der Durchschnitt, auch unmittelbar noch nicht die Ge-winnspanne der Konkurrenten, sondern die absolute Größe, die ein Geldbetrag haben muß, um wieder als Kapital fungieren zu können. Wie groß die Summe seines Gewinns sein muß, um neu ins Geschäft einzutreten, oder eine bestehende Anlage so zu erweitern, daß sie zusätzlichen Profit erbringt. Das heißt, so lange die Akkumulation schnel-ler voranschreitet, als die Profite sinken…

Das Modell der KPÖ hilft dem individuellen Kapital kein bisschen bei seinen Entscheidungen. Es erlaubt ledig-lich, das globale wirtschaftliche Geschehen danach zu befragen, welche krisenhaften Ereignisse als Ausdruck einer global fallenden Profitrate interpretiert werden können.

[Wert] 

Der 'naturalistische Wertbegriff' (Preobraschenski gg. Bucharin) ist die Vorstellung, der Wert sei eine sachliche Eigenschaft der Waren als res extensae. Das gilt aber nicht einmal für den Gebrauchswert. Sicher, hätte das Ge-treidekorn keinen so hohen Anteil an Kohlehydraten, hätte es keinen Nährwert für die Menschen. Aber der Nähr-wert der Kohlehydrate liegt nicht in ihnen selbst begründet [ohne einen Essser hätten sie keinen], sondern in der Organisation des menschlichen Stoffwechsels. Jene ist zu diesem hinzugetreten, nicht umgekehrt. [Na ja, Selek-tion und Anpassung…] Der Tauschwert entsteht (um im Bilde zu bleiben), weil der menschliche Stoffwechsel auch Fett, Proteine und Mineralien braucht, und sie sich nicht gegenseitig ersetzen können. Eine überschüssige Menge Kohlehydrate muß daher gegen eine fehlende Menge Fett oder Protein eingetauscht werden. So geschieht es, dass die drei im gegebenen Fall einander vergleichbar werden. Ihre Vergleichbarkeit liegt nicht in ihrer stofflichen Zusammensetzung – gerade an der nicht , sondern in der Natur des Bedürfnisses, auf das sie stoßen. 

……

'Wert' ist eine rein logische Funktion, bloß fiktionale "Rechengröße" in einem Gedankenexperiment, der Nichts entspricht von Allem, das im reellen Wirtschaftsprozess tatsächlich vorkommt. 'Wert' ist ein Wert, der "vorkom-men würde, wenn" in einem arbeitsteiligen Gemeinwesen, wo jeder nur für Andere produziert, vorab ein Plan aufgestellt würde von der verfügbaren Arbeitszeit (wobei die unterschiedlichen Arbeitsqualitäten auf "zusammen-gesetzte" Arbeit umgerechnet wären), und dann die Produkte der Einzelnen auf die – ebenfalls vorab quantitativ umgerechneten – Bedürfnisse verteilt würden. Siehe "Randglossen zum Gothaer Programm": 'Zunächst' würde jeder von den vorliegenden Produkten den Anteil erhalten, der seinem Anteil an der verausgabten Arbeit(szeit) entspricht. An der Lohnhöhe würde sich gegenüber der Markt-Wirtschaft also kaum was ändern (bloß die Privat-revenue der Bourgeois; verrechnet gegen das Gehalt der nun erforderlichen Planungsfachleute); ein 'Mehrwert' würde immer noch zurückgehalten zwecks Instandhaltung und Akkumulation. Erst in einem "2. Stadium" wären nicht die 'Werte' der Produkte Maßstab der Verteilung, sondern die Gewichtung der Bedürfnisse. Dann wäre der 'Wert' = 'durchschnittliche Arbeitszeit' eine bloße Messeinheit; nicht mehr Maßstab!


(Fragt sich freilich, ob sich ohne Tauschwert, der dazwischenträte, die 'Zusammengesetztheit' der Arbeiten aus so und soviel 'Durchschnittsarbeiten' irgendwie ermitteln ließe! Man müsste es aus den 'Produktions-kosten' einer jeden 'Arbeitskraft' errechnen – also was er wie lange gelernt hat; wobei kein Mittel wäre, zu erfahren, ob er das, was er gelernt hat, auch wirklich tut! Wo der Tauschwert herrscht, erfährt man's – hinterher: Wenn das Zeug nicht gegen die Konkurrenz bestehen kann. In der DDR gab's keine Konku-rrenz, daher[usw.]! M. a. W., die 'gesellschaftlich notwendige' Durchschnittsarbeit ist ebenso eine fiktio-nale Größe zwecks Gedankenexperiment.)


Aber wenn sie nicht die Arbeit zum Maß nähmen; wenn sie jeden einzelnen Gegenstand dem je individuellen Bedürfnissen nach je besonderen Gesichtspunkten zumessen würden – dann wäre eben auch das deren jewei-ligen 'Wert'. Nur dass es eben kein allgemeines Maß der Werte gäbe. So wird man sich die 'naturwüchsige' Ver
teilung in den ursprünglichen Gemeinschaften denken müssen. Daß dabei 'Alle gleich' gewesen wären, wird man kaum annehmen können.


"Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesell-schaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit [20] als Wert dieser Produkte, als ein von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteil der Gesamtarbeit existieren." 
Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, S. 19f.

Entwurf, 16. 5. 2015

* 

Hier bricht der Entwurf ab. Ob die Kritik der Politischen Ökonomie selber eine Theorie ist - ein Modell der bürgerlichen Gesellschaft -, blieb unbeantwortet. Was hat mich vom Weiterschreiben abgehalten? Wohl eine dringendere Arbeit, denn ein Geheimnis ist die Ausführung ja nicht:

Das theoretische Modell, von dem Marx ausgeht, ist das Klassische System der Politischen Ökonomie, auch das Smith-Ricardosche System genannt. Tatsächlich hat Marx, als er begonnen hat, an dem Werk zu arbeiten, das schließ-lich unter dem Titel Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie erschien, noch gemeint, er sei lediglich dabei, dieses System zu vervollständigen.

Einer Vervollständigung bedurfte es allerdings. Denn das theoretisch bedeutendste Problem dieser Theorie, wo nämlich der Mehrwert herkommt, wird bei Smith nur gestreift und von Ricarde als Problem nicht einmal mehr erkannt.

Wenn nämlich alle Marktteilnehmer Warenbesitzer sind und untereinander alle ihre Waren zu ihrem Arbeitswert, nämlich ihren Herstellungskosten, austauschen, wie es das Wertgesetz fordert, bleibt der Wert des Gesamtprodukts immer derselbe, ein Zuwachs geschieht nicht. 

Smith machte bei seiner Grundannahme, dass der Wert jeder Ware in der in ihr vergegenständlichten Arbeit be-stünde, eine bemerkenswerte Ausnahme: Die Arbeit selbst hat nämlich bei ihm einen natürlichen, nicht ihrerseits durch Arbeit bestimmten konstanten Wert, nämlich den Kornpreis. Die Arbeiter ernähren sich von Brot, das wird aus Korn gebacken, aber das Korn ist ein Produkt des Bodens, der Natur (gr. physis) und nicht der Arbeit. Das war ein physio kratischer Rest, und dies ausgerechnet mitten im Kern des ganzen Systems.* Ricardo hat Smith deswegen gescholten, aber eine andere Lösung vorgeschlagen hat er nicht; er hat nicht einmal eingesehen, dass eine Lösung theoretisch notwendig war.

Marx hat sich lange bei dem Versuch aufgehalten, den Mehrwert aus dem Begriff des Werts zu entwickeln und hat sich dabei zu seinem unglückseligen "Kokettieren mit der Hegel'schen Ausdrucksweise"  verleiten lassen; dies aber ohne Ergebnis. Erst als er sich, ersatzweise, dem Studium der wirklichen Geschichte der Produktionsweisen zuwendet - Formen, die der kapitalistischen Produktionsweise vorhergehen -, fällt ihm auf, dass der Lohnarbeiter im Unter-scheid zu allen andern Marktteilnehmern kein gegenständliches Produkt zum Tausch anbietet, sondern sein le-bendiges Arbeitsvermögen selbst. Etwas anderes hat er nicht, aber mit seiner bloßen Arbeitskraft kann er selber nichts anfangen: Ihm fehlen die Arbeitsmittel; mit andern Worten: das Kapital.

Das war nicht immer so; sie verfügten einmal über ein Arbeitsmittel; über Boden, früher, als sie noch Bauern waren, sei es als Pächter, sei es als Teilhaber am Gemeindeland. Wie kam es, dass sie darüber heute nicht mehr verfügen - etwa durch den 'Tausch gleicher Werte'? Keineswegs, sondern durch außerökonomische Gewalt; sie sind von Grund und Boden vertrieben worden.

Erst seither ist Arbeitskraft überhaupt zur austauschbaren Ware geworden, "von Natur" ist sie eine personale Eigenschaft. Sie kann daher auch nicht verkauft, sondern muss auf Zeit vermietet werden. Jetzt erst und unter diesen Bedindungen wird ihr Wert durch ihre Herstellungs-, d. h. Reproduktionskosten bestimmt. Aber daraus folgt unmitelbar, dass ihre Produkte nicht dem Eigentümer der Arbeitskraft gehören, sondern dem, der sie wäh-rend der Arbeitszeit gemietet hat, denn der hat sie sachlichen Mittel bereitgestellt, die dem Arbeiter überhaupt erst erlaubt haben, seine Arbeitskraft zu verausgaben. Die Verausgabung der Arbeitskraft gehört dem Kapitaleigner, denn der hat sie bezahlt.

Kurz gesagt, eine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft ist die Kritik der Politischen Ökonomie nur, indem sie ein Kritik am Modell der Smith-Ricardoschen Schule ist. Als Theorie ist sie rein negativ. 

Das hat seine besondere Pointe. Denn da, wo die Kritik doch einen positiven Beitrag zur ökonomischen Theorie leistet, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate nämlich (das schon vor Marx erahnt, aber nicht ausge-führt wurde), erweist sich, dass das, was von einer Theorie in specie erwartet wird: ein wirkliches Geschehen in Begriffe zu fassen, im Bereich des menschlichen Handelns gar nicht möglich ist. Zwar ist das Gesetz absolut und, wie es der Begriff verlangt, allzeit wirksam; aber ob in der gegenständlichen Welt aus der Tendenz jemals ein Akut wird, also ob die Profitrate jemals wirklich fällt, ist ausschließlich eine Sache der Wirklichkeit, die nur aus Zu-fällen besteht. Dass es irgendwann geschieht, ist logisch genauso gut möglich, wie dass es nie geschieht.

Insofern liefert die Kritik der Politischen Ökonomie einen abschließenden Beitrag über die Brauchbarkeit nomo-thetische und idiographischer Wissenschaft in der Geschichtsbetrachtung.

*) Es war weniger dumm, als es hinterher aussieht, denn es hatte den Augenschein für sich. Zu Smith's Zeit gab es in England Preisstatistiken seit rund 50 Jahren - und in dieser Zeit hatte sich der Kornpreis kaum verändert.

30. 1. 18