Dienstag, 14. Juli 2020

Gibt es eine bürgerliche Kultur?

Gauguin                                                                        aus Geschmackssachen

Es gibt keine bürgerliche Kultur; es gibt eine kapitalistische Kultur - aber deren schöpferischer Träger, deren Autor, deren Ur-Heber ist nicht die Bourgeoisie, sondern... deren Kostgänger.

Andere herrschende Klassen bedurften der Kultur als Rechtfertigung ihrer Ausbeutungsordnung - und diese rechtfertigte jene in der Tat; Ausbeutung, Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts für Macht und Herr-lichkeit - die Ausbeuter brauchten selber einen Grund, um sich von sich zu überzeugen, der Luxus allein tats nicht, und es gibt sogar Aubeutergesellschaften, wo die Ausbeuter gar keinen Luxus kennen:** Sparta.

Der Kapitalismus aber bedarf  keiner Legitimation - jedenfalls nicht für die Agenten des Kapitals: Dessen Aus-beutung ist der Profit, und der rechtfertigt sich selbst. Die Kapitalisten brauchen keine Kultur, um sich ihrer eigenen raison d'être zu versichern: der Gewinn besorgt das selbst. Das heißt: Sie brauchen keine eigne Kultur! Als Mittel ihrer Erbauung als Privatleute können die Elemente der Kultur x-beliebiger Herkunft sein,*** vor-zugsweise sogar feudaler, denn dem Adel gegenüber hat der neureiche Routurier seinen Minderwertigkeitskom-plex nie abgelegt: Sich die Produkte der feudalen Kultur kaufen zu können - welch ein Triumph!



Die Kapitalisten sind insbesondere nicht die Träger der Bildung - sie sind nicht die Ideologen ihrer Klasse: Zu dem Zweck müssen sie sich eine ganze Klasse von Kostgängern halten - nicht zur Rechtfertigung vor der arbeitenden Masse. Macht rechtfertigt sich selbst - auch vor den Beherrschten; Reichtum rechtfertigt sich selbst... nur für die Reichen, nicht für die Armen.


Baudelaire

Die Ideologen der Feudalität seien ebenfalls nicht die Feudalen selbst gewesen? Doch: Der Klerus ist Teil der Feudalität, ein eminenter Bestandteil, Ingrediens; nicht zuletzt eben durch den Gegensatz, den er in mancher Hinsicht zum Blutadel bildet. Aber die höfische Kultur, die der Ritter, war ein ureigenstes Erzeugnis des Adels, ihr Mythos, ihre Mythologie, ihr Lebensstil, ihr Minnelied...

Die Bourgeoisie muß ein Corps von Panegyrikern für bares Geld einkaufen, um sich den Ausgebeuteten ange-nehm, d. h. wenigstens respektabel zu machen.

Allerdings muß sie nicht weit suchen. Die Zukurzgekommenen aller Stände, die nach den Fleischtöpfen schie-len, die meinen, von Rechts wegen auch einen Anspruch auf die besseren Plätze zu haben, sind es schon ihrem Dünkel schuldig, diese ihre prekäre Lage mit höheren Weihen auszuschmücken, um sie sich selbst schmackhaft zu machen - und sich vor allen Dingen die Aussicht auf den individuellen Aufstieg, und sei er noch so illusorisch, als versöhnenden und zu 'praktischem Leben' ertüchtigenden Hoffnungsschimmer nicht zu verstellen.

So entsteht die Intelligenz als spezifischer Klassenausdruck des Kleinbürgertums, die Intelligenz als Ausdruck der kleinbürger-lichen Existenzbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft - sie ist Autor und Konsument der "bürgerlichen Kultur": Die Kultur des Kapitalismus ist in ihrem Wesen nach kleinbürgerliche Kultur.

*) cf. England: Dessen originale Kulturleistung ist der comfort, Kreation der verbürgerlichten Aristokratie: des gentleman.
**) Die Feudalen der Blütezueit steckten weit mehr von dem angeeigneten Mehrprodukt in die Kirchenschätze, als sie verpraßten - und selbst das taten sie nicht einmal allein.
***) Die Verfertiger der kulturellen Gegenstände sind selbstverständlich Handwerker und Artisten.


aus e. Notizheft, 9. 3. 1986 


van Gogh

PS. Gauguin war als Bankier gescheitert, bevor er beschloss, berufsmäßiger Maler zu werden; van Gogh war erst als Kunsthändler und dann als reformierter Prediger gescheitert.


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