Der Negativitätseffekt
Wir können lernen, unsere Negativitätsvorurteile zu erkennen, zu steuern und sogar zu über-winden. Die Macht des Schlechten kann perfekt für Gutes genutzt werden.
vonRoy F. Baumeister und John Tierney
»Nimm das Schlechte mit dem Guten«, sagen wir uns stoisch. Aber so funktioniert unser Gehirn nun mal nicht. Unser Verstand ist geprägt vom verzerrenden Einfluss eines fundamentalen Ungleichgewichts, und was dies für unser Leben bedeutet, wird der Wissenschaft gerade erst so richtig klar: »schlecht« ist stärker als gut.
In der wissenschaftlichen Literatur firmiert diese verzerrende Macht des Negativen unter mehreren Begrif-fen: Negativitätsbias, Negativitätsdominanz oder schlicht Negativitätseffekt. Wie immer Sie es nennen wol-len, gemeint ist eine allgemein menschliche Neigung, sich von negativen Ereignissen und Emotionen stär-ker beeinflussen zu lassen als von positiven. Während uns ein Wort der Kritik zu vernichten vermag, kann es uns durchaus kalt lassen, wenn uns jemand mit Lob überhäuft. Wir sehen das »eine« feindselige Gesicht in der Menge, während uns so manches freundliche Lächeln entgeht. Hört sich deprimierend an – und oft genug ist es das auch –, aber der Negativitätseffekt muss mitnichten das letzte Wort haben.
»Schlecht« ist stärker, aber »gut« kann durchaus die Oberhand gewinnen, wenn wir verstehen, womit wir es zu tun haben.
Indem wir den Negativitätseffekt durchschauen und uns über unsere angeborenen Reaktionen hinwegset-zen, können wir destruktive Muster durchbrechen und positiver – effektiver – in die Zukunft sehen; anders gesagt, wir können uns die durchaus bemerkenswerten Vorteile dieser verzerrenden Tendenz zunutze ma-chen. Pech, schlimme Nachrichten und negative Gefühle, das alles sorgt für starke, ja die stärksten Anreize überhaupt, widerstandsfähiger, gescheiter, netter und liebenswürdiger zu werden. »Schlecht« – oder besser gesagt das Negative – lässt sich zu unserem Vorteil nutzen, allerdings nur, wenn wir rational denkend seine irrationale Wirkung durchschauen. Es braucht Weisheit und ein gutes Stück Arbeit, dieser Negativität ein Schnippchen zu schlagen. Und in einer digitalen Welt, die die Macht des Negativen potenziert, gilt das mehr denn je.
Der Negativitätseffekt ist ein simples Prinzip mit alles andere als simplen Folgen. Solange wir den verzer-renden Einfluss des Negativen auf unser Urteilsvermögen nicht erkennen, werden wir schreckliche Entschei-dungen fällen. Unser Negativitätsbias erklärt uns die Welt im Großen wie im Kleinen: wie Länder in desast-röse Kriege stolpern, warum Nachbarschaften sich befehden und Ehepaare sich scheiden lassen, warum die Wirtschaft stagniert, warum Bewerberinnen und Bewerber Einstellungsgespräche vermasseln, Schulen Schüler durchrasseln lassen und warum so viele den risikolosen Ausweg wählen, anstatt aufs Ganze zu gehen. Der Negativitätseffekt zerstört Reputationen ebenso, wie er Unternehmen in die Pleite führt. Er fördert Stammesdenken und Xenophobie. Er sorgt für von grundlosen Ängsten geschürten Zorn unter US-Amerikanern ebenso wie für Hunger in Sambia; er ist der Auslöser moralischer Paniken unter Liberalen wie Konservativen; er vergiftet die Politik und sorgt dafür, dass man Demagogen wählt. Die Macht des Negativen ist universell, unbesiegbar jedoch ist sie nicht. Seine stärkste Wirkung entfaltet der Negativi-tätseffekt bei uns in jungen Jahren, wenn wir ganz besonders aus Kritik und Fehlern lernen sollen.
Mit zunehmendem Alter nimmt die Notwendigkeit zu lernen ab; wir gewinnen an Perspektive. Alte Men-schen neigen zu mehr Zufriedenheit als junge, da ihre Emotionen und Urteile nicht mehr so stark von Pro-blemen und Rückschlägen verzerrt werden. Sie begegnen der Macht der Negativität durch den Genuss der Freuden, die der Tag ihnen bringt, und mit Erinnerungen an glückliche Augenblicke, anstatt sich in vergangenem Elend zu suhlen. An objektiven Kriterien gemessen mag ihr Leben (schon gar, wenn sie gesundheitliche Probleme haben) nicht besser erscheinen, aber sie fühlen sich besser und sind in der Lage, vernünftigere Entscheidungen zu treffen, weil sie es sich erlauben können, unangenehme Gelegenheiten, aus denen sie etwas lernen könnten, zu ignorieren und sich stattdessen auf die angenehmen Seiten des Lebens zu konzentrieren.
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Indem Sie lernen, wie das Negativitätsbias auf Sie – und jeden anderen von uns – wirkt, werden Sie die Welt realistischer und weniger ängstlich sehen. Sie können sich dann ganz bewusst über die Impulse hinwegsetzen, die für erdrückende Unsicherheiten, Panikattacken und Phobien wie etwa Höhen- und Redeangst verantwortlich sind. Eine Phobie ist eine verselbstständigte Illustration der Macht des Negativen: eine Überreaktion auf die Möglichkeit, dass etwas schiefgehen könnte, ein irrationaler Impuls, der Sie daran hindert, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Phobien lassen sich jedoch ebenso überwinden wie allgemeinere Probleme, hat man erst einmal verstanden, wie der Negativitätseffekt funktioniert.
Anstatt also nach einem Rückschlag zu verzweifeln, können Sie nach Wegen suchen, von der erlittenen Schlappe zu profitieren. Anstatt unbedingt die perfekten Eltern, die perfekten Paare sein zu wollen, können Sie versuchen, die fundamentalen Fehler zu vermeiden, die eine weit größere Rolle spielen als alles, was Sie anderen Gutes tun. Sie können in jeder Beziehung lernen, einem Streit ein Ende zu machen, bevor er beginnt – oder zumindest dafür sorgen, dass er nicht aus dem Ruder läuft, indem sie erkennen, wie leicht ein kleiner Affront falsch interpretiert, wie leicht aus einer Mücke ein Elefant werden kann, zumal wenn Partner einander nicht zu lesen vermögen. Und beruflich können sie die Fallstricke ausfindig machen und umgehen, die Karrieren ruinieren und Unternehmen zum Scheitern verurteilen.
Das Positive am Negativen ist seine Fähigkeit, den Verstand zu schärfen und uns mit dem nötigen Willen zu erfüllen. Indem Sie die Wirkung schmerzlichen Feedbacks verstehen lernen, werden Sie besser mit Kritik umgehen können – was sie in die Lage versetzt, die nützlichen Lektionen aus ihr zu ziehen, ohne sich von ihr entmutigen zu lassen. Außerdem werden Sie Kritik üben lernen, was eine wahrhaft seltene Fertigkeit ist. Die meisten Menschen, auch die sogenannten Experten, haben keine Ahnung, wie man schlechte Nachrichten überbringt, weil Sie die Mechanismen ihrer Aufnahme nicht verstehen. Wenn Ärzte ungeschickt eine trostlose Diagnose vermitteln, tragen sie nur zu Kummer und Verwirrung der Patienten bei. Auch bei der Beurteilung von Schülerinnen und Schülern, Studierenden oder Angestellten sind viele Lehrende und Chefs rasch bei der Hand mit Kritik, die in der Hauptsache nur entmutigen kann, während andere dem Problem grundsätzlich aus dem Weg gehen, indem sie ausschließlich gute Bewertungen oder Noten vergeben. Einige Techniken, die man jüngst in Schulen, Büros und Fabriken getestet hat, werden Sie in die Lage versetzen, ihre Aufgabe effektiver zu erledigen.
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Kritik und Strafen sorgen, sofern richtig verabreicht, weit schneller für Fortschritte als der Ansatz, einfach jedem eine Medaille fürs Mitmachen anzuheften. Sie inspirieren Menschen, aus ihren Fehlern zu lernen, anstatt weiterhin ihre Karrieren oder Beziehungen aufs Spiel zu setzen. Kritik und Strafen bringen den Menschen bei, an sich selbst zu arbeiten und mit anderen zurechtzukommen, ob es sich dabei nun um die berufliche Zusammenarbeit mit anderen handelt, um Verantwortlichkeiten zu Hause oder darum, eine Liebesbeziehung am Leben zu erhalten, deren Flamme zu erlöschen droht.
Richtig verstanden, vermag die Macht des Negativen aus uns allen das Beste herauszuholen.
Aus aktuellen Büchern: Leseprobe von
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