Montag, 12. April 2021

Das Standardmodell in Bedrängnis.

Transport des Speichrrings zum Fermilab in Chicago
aus nzz.ch, 8. 4. 2021                                                                                                                          
zuJochen Ebmeiers Realien
 
Vor zwei Wochen bekam das Standardmodell der Teilchenphysik nasse Füsse. Jetzt steht ihm das Wasser bis zum Hals
Am Fermilab bei Chicago haben Physiker das magnetische Moment des Myons mit bisher unerreichter Präzision vermessen. Das Ergebnis erhärtet den Verdacht, dass es im Mikrokosmos bisher unbekannte Teilchen oder Kräfte geben könnte.
 
von Christian Speicher

Die Suche nach «neuer Physik» ist seit vielen Jahren das Leitmotiv von Teilchenphysikern. Unter «neu» verstehen sie alles, was über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausgeht. Dieses Modell beschreibt die heute bekannten Elementarteilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte zwar sehr erfolgreich. Nach heutigem Verständnis ist es jedoch nur eine Annäherung an eine umfassendere Theorie. Diese soll zum Beispiel erklären, woraus die dunkle Materie besteht und warum es im Universum ein Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie gibt.

Erst vor zwei Wochen haben Forscher am Cern in Genf Teilchenzerfälle beobachtet, die sich nicht an die bekannten Spielregeln der Teilchenphysik zu halten scheinen. Jetzt meldet auch das grösste Beschleunigerlabor in den USA, das Fermilab, Zweifel am Standardmodell an. Die internationale «Muon g-2»-Kollaboration hat durch eine Präzisionsmessung festgestellt, dass das magnetische Moment des Myons geringfügig grösser ist, als theoretisch zu erwarten wäre. Die Messung bestätigt ein vor zwanzig Jahren durchgeführtes Experiment am Brookhaven National Laboratory. Zusammengenommen liefern diese beiden Messungen einen der bisher stärksten Hinweise darauf, dass es im Mikrokosmos Teilchen oder Kräfte geben könnte, die wir noch nicht kennen.

Rohe Gewalt oder Präzision

Grundsätzlich gibt es zwei Wege, um mit Teilchenbeschleunigern nach neuer Physik zu suchen. Entweder schiesst man Teilchen mit hoher Wucht aufeinander und hofft, dass die freigesetzte Energie ausreicht, damit sich aus ihr neue Teilchen materialisieren können. Auf diese Weise wurde 2012 am Cern das Higgs-Teilchen entdeckt. Oder man erzeugt mit niedriger Energie eine sehr grosse Zahl bekannter Teilchen und untersucht deren Eigenschaften mit höchster Präzision. Zu dieser Kategorie gehört das «Muon g-2»-Experiment am Fermilab.

Das Myon ist ein Elementarteilchen, das bis auf die rund 200-mal so grosse Masse eine Kopie des Elektrons ist. Wie das Elektron ist das Myon elektrisch negativ geladen. Und wie das Elektron besitzt es einen intrinsischen Drehimpuls, Spin genannt, der mit einem magnetischen Moment einhergeht. Man kann sich das so vorstellen, als seien Elektronen und Myonen mit einer internen Kompassnadel ausgestattet.

Das magnetische Moment der beiden Teilchen sollte laut Quantentheorie doppelt so gross sein, wie es die klassische Physik erwarten lässt. Dies wird durch den sogenannten g-Faktor zum Ausdruck gebracht, der den Wert 2 hat. Das ist allerdings nicht die ganze Wahrheit. Schon in den 1940er Jahren stellte man fest, dass der g-Faktor des Elektrons ungefähr 0,1 Prozent grösser als 2 ist.

Wie man heute weiss, hängt diese magnetische «Anomalie» mit der speziellen Natur des Vakuums zusammen. Entgegen der landläufigen Meinung ist das Vakuum nicht leer. Ständig entstehen aus dem Nichts heraus «virtuelle» Teilchen, die im nächsten Augenblick wieder verschwinden, um der Energieerhaltung Genüge zu tun. Obwohl sich diese geisterhaften Teilchen nie materialisieren, können sie die Eigenschaften und Zerfälle von realen Teilchen auf subtile Weise beeinflussen. Mit dem Standardmodell der Teilchenphysik lässt sich der Effekt dieser Vakuumfluktuationen sehr genau berechnen.

Das magnetische Moment des Myons gibt Rätsel auf

Für das Elektron decken sich die Berechnungen mit den besten derzeitigen Messungen. Nicht so für das Myon. Vor zwanzig Jahren hat ein Experiment am Brookhaven National Laboratory einen Wert für das anomale magnetische Moment gemessen, der 3,7 Standardabweichungen grösser ist als der berechnete Wert. (Das bedeutet, dass die Diskrepanz zwischen Theorie und Experiment 3,7 mal so gross ist wie der Messfehler.) Das wurde als möglicher Hinweis gewertet, dass im Vakuum nicht nur die bekannten Teilchen des Standardmodells virtuell in Erscheinung treten, sondern auch bisher unbekannte Teilchen. Das Experiment am Brookhaven National Laboratory liess aufhorchen. Doch die Messunsicherheit war zu gross, um die Entdeckung neuer Physik feiern zu können.

Das g-2-Experiment am Fermilab setzt nun fort, was damals am Brookhaven National Laboratory begonnen wurde. Schon 2013 war der 50 Tonnen schwere magnetische Speicherring des Brookhaven-Experiments ans Fermilab transportiert worden. Das geschah, weil man mit dem Beschleuniger am Fermilab einen wesentlich intensiveren Myonenstrahl erzeugen kann, der zudem sehr rein ist.

Die fast lichtschnellen Myonen werden in den Speicherring eingespeist und drehen hier ihre Runden, bis sie zerfallen. Im Magnetfeld des Speicherrings verhalten sich die Teilchen wie präzedierende Kreisel. Misst man die Frequenz dieser Kreiselbewegung, lässt sich das anomale magnetische Moment der Myonen sehr genau bestimmen.

Das Resultat, das die über 200 Forscher der «Muon g-2»-Kollaboration nun vorgestellt haben, bestätigt, was sich bereits vor zwanzig Jahren am Brookhaven National Laboratory angedeutet hatte: Das anomale magnetische Moment des Myons ist grösser als vom Standardmodell erlaubt. Obwohl bisher erst 6 Prozent der geplanten Datenmenge ausgewertet worden seien, sei die relative Messunsicherheit mit 0,46 parts per million schon jetzt kleiner als beim Vorgängerexperiment, sagt Martin Fertl von der Universität Mainz, dessen Arbeitsgruppe am «Muon g-2»-Experiment beteiligt ist.

Richtig eng wird es für das Standardmodell, wenn man die beiden Datensätze miteinander kombiniert. Der gemittelte Messwert ist dann um 4,2 Standardabweichungen grösser als der berechnete Wert. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Diskrepanz zwischen Theorie und Experiment auf eine statistische Fluktuation zurückzuführen ist, ist damit kleiner als 0,0025 Prozent. Das klingt beeindruckend, reicht aber noch nicht ganz, um von neuer Physik zu sprechen. Aus Erfahrung sind Teilchenphysiker vorsichtig und sprechen erst dann von einer Entdeckung, wenn die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Fluktuation kleiner als 0,00005 Prozent ist. Aber noch nie waren die Physiker einer Widerlegung des Standardmodells so nahe wie jetzt.

In den kommenden Jahren werden die Forscher am Fermilab versuchen, auch die letzten Unsicherheiten zu beseitigen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Mit den noch zu erwartenden Daten werde sich die Messunsicherheit um den Faktor vier verkleinern, sagt Fertl.

Auch auf Seite der Theorie ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Just an dem Tag, an dem die g-2-Kollaboration an die Öffentlichkeit ging, erschien im Fachmagazin «Nature» eine Arbeit, die Zweifel an der bisherigen Berechnung der Vakuumfluktuationen weckt. Bei der Berechnung des magnetischen Moments sei die Polarisierung des Vakuums durch Hadronen (das sind Teilchen, die von der starken Wechselwirkung zusammengehalten werden) unterschätzt worden, lautet das Fazit der Arbeit. Wie diese Diskrepanz zwischen zwei unterschiedlichen Berechnungsmethoden zu bewerten ist, ist derzeit noch unklar.

Was wäre, wenn . . .?

Wie eine Physik jenseits des Standardmodells aussehen könnte, ist nicht erst seit dem Experiment am Fermilab ein Thema. Jeder Forscher hat dabei seine eigenen Präferenzen. Während die einen überzeugt sind, dass das Standardmodell supersymmetrisch erweitert werden muss, ziehen andere Physiker eine neue Naturkraft vor.

Wieder andere postulieren die Existenz von sogenannten Leptoquarks, die eine Verbindung zwischen den Quarks und den Leptonen des Standardmodells herstellen. Das Problem sei, dass viele Teilchen die magnetische Anomalie des Myons erklären könnten, sagt der Professor für theoretische Physik Andreas Crivellin von der Universität Zürich und dem Paul-Scherrer-Institut. Aus dem Experiment am Fermilab könne man deshalb nicht schlussfolgern, wie das Standardmodell erweitert werden müsse.

Etwas anders sieht das aus, wenn man die magnetische Anomalie des Myons nicht isoliert betrachtet. Auch das LHCb-Experiment am Cern hat jüngst Hinweise geliefert, dass das Standardmodell verletzt sein könnte. Zwar müssen diese Hinweise noch erhärtet werden. Stellt man die beiden Experimente jedoch nebeneinander, wird der Spielraum für neue Physik enger. So konnte Crivellin zum Beispiel zeigen, dass gewisse Modelle mit Leptoquarks zwar in der Lage sind, beide Anomalien zu erklären. Das funktioniert allerdings nur, wenn die neuen Teilchen gewissen Randbedingungen genügen.

Fertl ist überzeugt, dass man bei der Suche nach neuer Physik noch einen weiten Weg vor sich hat. Da es vielfältige Verknüpfungen zwischen den verschiedensten Messgrössen gebe, könne man nicht an einer Stelle nachjustieren, ohne anderswo Spannungen zu erzeugen. Flankierend zu den Experimenten am Cern und am Fermilab müssten deshalb weitere Präzisionsmessungen durchgeführt werden.

Das geschieht zum Beispiel am Paul-Scherrer-Institut. Hier suchen Forscher nach Zerfällen der Myonen, die laut dem Standardmodell verboten sind. Denn die gleichen virtuellen Teilchen, die das magnetische Moment des Myons verstärken, könnten auch verbotene Zerfälle möglich machen. Würde man solche Zerfälle tatsächlich beobachten, liesse das weitere Rückschlüsse auf die Natur der virtuellen Teilchen zu. In einem nächsten Schritt könnte man versuchen, diese Teilchen durch Kollisionen «in echt» zu erzeugen. Das wäre dann der definitive Beweis für ihre Existenz.

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