Samstag, 10. April 2021

Die Kunst, Philosophien zu machen.

Odilon Redon

Die Kunst, Philosophien zu machen                                                            zu Philosophierungen

Philosophieren ist dephlegmatisieren, vivifizieren. Man hat bisher in der Untersuchung der Philosophie die Philosophie erst totgeschlagen und dann zergliedert und aufgelöst. Man glaubte, die Bestandteile des Caput mortuum wären die Bestandteile der Philosophie. Aber immer schlug jeder Versuch der Reduktion oder der Wiederzusammensetzung fehl. Erst in den neuesten Zeiten hat man die Philosophie lebendig zu beobachten angefangen, und es könnte wohl kommen, daß man so die Kunst erhielte, Philosophien zu machen. 

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Novalis, Fragmente
ed. Kamnitzer, Dresden 1929

 

Nota. -  Dephlegmatisieren, vivifizieren: wen? Den Philosophierenden ja wohl. Philosophie-ren ist nicht das Entbergen einer verhüllten Wahheit, sondern die Sinngebung... der Welt? Nein, sondern des Lebens in dieser Welt. Und der Sinne kann es mannigfaltige geben:, denn die Leben sind mannigfaltig. Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist. Es gilt ja, das Leben zu führen.

Also doch Lebensweisheit

Nun ja. Wer eine Wegkarte sucht, der er am kritischen Punkt nur folgen muss, der hört sich bei weisen Männern um; Sokrates, Gautama, Schopenhauer oder Zarathustra. Er wählt aus, was am deutlichsten zu seinem Herzen spricht, und notfalls rührt oder schüttelt er einen Cocktail. Wenn er Glück hat, hat er Glück. Wenn er aber Pech hat, war er selber schuld: Er hätte eben besser wählen müssen. 

Ebensogut hätte ers bleiben lassen können. Wenn er Glück hat, hat er Glück. Wenn nicht, ist er umso unglücklicher: Er hätte eben doch beizeiten...

Das ist nicht Philosophie, das ist Selbstbetörung. Es ist eine Wahl, die ein verstohlenes Glücksspiel ist: Selbst was er für sein Glück halten kann, überlässt er dem Zufall.

Unter Philosophie im strengen Sinn verstand Novalis, als er noch Fichtianer war, die Wis-senschaftslehre. Was die allein lehren kann, ist Vernunft, und die besteht in specie darin, im Wechselspiel der mannigfaltigen privaten Zwecke, die im alltäglichen Verkehr der Reihe ver-nünftiger Wesen mit einander konkurrieren, diejenigen zu bestimmen, die allgemein gelten können und also sollen. Das ist Sache des gesunden Menschenverstands, denn der ist Ver-nunft im Alltagmodus; und wo er nicht ausreicht, der Wissenschaft, die sich nur durch ihre Gründlichkeit von ihm abhebt. Die Wissenschaftslehre selbst verhält sich dazu nur kritisch.

Was, das darüber hinausginge, könnte Novalis unter Philosophien, die durch Kunst ent-stehen, verstanden haben? 

Es wird wohl das sein, was folgen muss, wenn die theoretische Philosophie alias Vernunft-kritik zu ihrem Schluss gekommen ist: praktische Philosophie. Im Schuljargon bedeutet das nichts anders als Moralphilosophie. Die freilich kann nicht nur, sondern muss privat sein: von diesem und für dieses Lebe-Wesen. Gesetze seien der Moral durchaus entgegen, meint Novalis selber. Da muss schon ein jeder für sich sorgen. Und wenn er sich genügend inspi-riert fühlt, mag er es in künstlerischer Form buchstäblich zum Besten geben, man kann es ihm abnehmen oder nicht. 

Philosophie dürfe man "eigentlich nur dichten", hieß es bei Wittgenstein.

Novalis hat aber vielleicht eher begeisterte Schwärmerei im Sinn gehabt.

 

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