zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Fichte sagt am Schluss der Wissenschaftsehre nova methodo zusammenfassend:
Um uns selbst zu
finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu
beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andere, und
dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigent- lich sei.
Diese Aufgabe erscheint
nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung analytisch -
jedesmal, inwiefern ein Sittengebot an uns ergeht. Aber in dieser
Aufforderung liegt zugleiuch, da wir praktische Wesen sind, zu einem
praktischen Handeln Aufforderung. Dies ist für jedes Individuum auf besondere Art gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und ist ein ganz besonderes.
Aber die Weise, wie das
Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto aufstellen.
So eine Untersu- chung wird von einem hohen Gesichtspunkte aus
angestellt, auf welchem die Individualität verschwindet und bloß auf das
Allgemeine gesehn wird. Ich muss handeln, mein Gewissen ist mein Gewissen; insofern ist die Sittenlehre individuell.
So nicht in der allgemeinen Sittenlehre; Wissenschaftslehre des
Praktischen, die insbesondere Ethik wird. D. h. das Praktische ist
Handeln überhaupt, das Handeln kommt aber durch die Grundlage immerfort
vor, indem auf [un leserliches Wort] der ganze Mechanismus gründet. Daher
kann die besondere Wissenschaftslehre des Praktischen nur sein eine
Ethik. Diese lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden
soll, ihr / Resultat ist Ideal, inwiefern dies Resultat sein
kann, da es nicht begriffen werden kann.
Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie
ist Wissenschaftslehre, bei-de liegen auf dem transzendentalen
Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen ge-rechnet wird,
also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere,
weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird,
sondern die Vernunft über-haupt in ihrer Individualität. Die erstere
Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstrak-tion: der des
Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv.
________________________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 241f.
Nota. - Kein anderer Autor hat wie Fichte so regelmäßig während der Darstellung seines Systems auf die Darstellung reflektiert. Auf das Verfahren nicht nur, sondern auch auf das, was dargestellt wird, denn um dessen Bestimmung geht es ja; so dass nie vom
Verfahren des Bestimmens allein, sondern immer auch von dem je
Bestimmten die Rede ist.
Dies kam mit § 19 zu einem Schluss: Was heißt Wissen und was ist das, was wir wissen können?
Idealerweise
müssten
von da aus alle reellen Wissenschaften neu aufgebaut werden:
"Welt-lehre", nämlich Physik und Biologie (wobei Chemie noch kein eigenes Fach ist). Das nennt Fichte 'Theoretische Philosophie', er
rechnet sie offenbar zur Besonderen Wissenschaftsleh-re hinzu. Warum?
Weil
sie 'aufstellt, was notwendig Erfahrung ist und sein kann'.
Die wirklichen
Wissenschaften können aber nicht von vorn anfangen. Neues
empirisches Material fällt täglich an, es muss dem Wissensschatz an dem
Punkt einverleibt werden, an dem er sich eben befindet - mit den
Methoden, die neuestens verfügbat sind, und das ge-schieht unter aller
Augen im Streit. Die Wissenschaftslehre
wird sie bestenfalls auf Schritt und Tritt kritisch begleiten: dass sie
ihre Begriffe nicht aus der Luft greifen und nicht für Erfahrung
ausgeben, was doch als Prämisse unterstellt wurde. Und wird sie stets
anhalten, auszuscheiden, was an dogmatischem Bodensatz mitgeschleppt
wurde.
Dann freilich hieße es
die kritische Philosophie überdehnen, wollte man sie in die
Realwis-senschaften hineintreiben und selber positiv werden lassen. Sie
kann nicht selber Realwis-senschaft werden und muss deren Propädeutik
und kritische Instanz bleiben.
Das sieht Fichte offenbar ganz anders; wie offenbar auch Kant, bei dessen Opus postumum es
sich doch wohl um den Versuch handelte, die zeitgenössische
(Newton'sche) Physik in den Ergebnissen der Transzendentalphilosophie zu
gründen. Recht und Sittenlehre hatte F. selbst ja bereits aus der Wissenschaftslehre abgeleitet, bevor er diese nova methodo vorzu-tragen begonnen hat. Beim Naturrecht haben wir bereits gesehen, wie der Versuch, die Ver-nunftkritik in positives Wissen hinüberzumodeln, in die Irre führt. Sobald die Kritik den Rechtsbegriff
etabliert hat, mag der kritische Philosoph sich im Lichte dieses seines
Begiffs am politischen Tageskampf um das gelten-sollende Recht seiner
Zeit beteiligen.
An
obiger Stelle erklärt er stattdessen die Absicht, eine ideale Welt zu
entwerfen, die indes-sen gar nicht begreiflich wäre. Sie ist nicht
begreiflich, daher lässt sie sich auch nicht in ein-zelne Schritte
zerlegen, die auf einander aufbauen und den großen Vorteil böten, praktisch unternommen werden zu können. Das Ideal lässt sich dagegen nur in sonntäglichen Weihe-stunden beschwören.
Und doch hat Fichte seinen Plan einer idealen Welt alsbald zu einem praktikablen ersten Schritt konkretisiert. Sein Geschlossener Handelsstaat sollte
ein Durchgangsstadium zu einem vernunftmäßig eingerichteten Gemeinwesen
sein. Aber wer ihn einrichten und mit welchen Übergangsmaßnahmen er
eingeleitet werden könne, hat er nicht hinzugeschrieben. Er hat kein
politisches Programm formuliert, sondern ein gelehrte Abhandlung
geschrie-ben, die auch unter den Gelehrten kaum Beachtung fand.
Noch weniger als die Wissenschaft lässt Geschichte sich nochmal von vorne anfangen.
*
Nachdem
ich so weit gekommen bin, kann ich endlich den Punkt berühren, um den es mir hier eigentlich geht: Wenn es denn möglich wäre, Staat und
Gesellschaft nach einem idealen Vernunftplan einzurichten, so wäre die
Rechtslehre und keine 'allgemeine' Sittenlehre seine Grundlage. Denn in
der Tat gründet die Rechtslehre und erst recht das Recht auf der
Ver-nunft. Sittlichkeit liegt der Vernunft voraus als Teilbereich des Ästhetischen, und daher lässt sie sich weder verbegrifflichen noch diskursivieren.
Vernünftig
ist, was der Bestimmung nach in die Wechselwirkung der Reihe
vernünftiger Wesen eingeht, und daher ist es intelligibel. Die je
einzelnen Richtsprüche meines Gewis-sens gehören nicht dazu; intelligibel
sind sie weder mir noch sonstwem. Intelligibel sind Bestimmungen; meine Gewissensentscheidungen werden mir zuteil, ich weiß nicht wie noch von wem noch wozu. Das weist sie aus als Teilhaber des Ästhetischen.
So wenig wie eine Allgemeine Ästhetik kann es eine allgemeine Sittenlehre geben. Hier wird die Anschauung selbst gewertet, prädiziert, das individuelle Ich ist hinter sich zurückgetre-ten und sieht von sich ab, nämlich sofern es Zwecke setzen könnte, die mit Zwecken Ande-rer zu vermitteln wären. Das sittliche Urteil ist, wie das ästhetische, singulär und steht allein für sich und wird um seiner selbst willen
gefällt. Es ist ohne Gründe und ohne alle Vernunft. Ein Glück nur, dass
ich es vor niemandem verantworten muss; ich wüsste ja nicht, wie. Denn
ich war nicht tätig und bei mir, sondern fühlte mich empfangend und
außer mir. Ich hätte mich schon sträuben müssen, aber das konnte ich vor mir nicht verantworten.
*
Wie
kann es sein, dass Fichte bei alle seiner methodischen Pedanterie sich
so verirrt hat? Über Motive - Temperament, Geltungswille, Wirkenwollen
- ließe sich nur mutmaßen. Aber die Gründe, die es möglich gemacht
haben, müssen sich in seinem Denken auffinden las-sen. Und lassen sich
auffinden - es ist sein beständiges Schwanken zwischen einer kriti-schen
und einer dogmatischen Auffassung von Vernunft.
10. 6. 19
Nota. Das obige Bild gehört mit nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen