Codex Manesse
Der Künstlerphilosoph zu Philosophierungen
Der rohe, diskursive Denker ist der Scholastiker. Der echte
Scholastiker ist ein mystischer Subtilist. Aus logischen Atomen baut er
sein Weltall – er vernichtet alle lebendige Natur, um ein
Gedankenkunststück an ihre Stelle zu setzen. Sein Ziel ist ein
unendlicher Automat. Ihm entgegengesetzt ist der rohe, intuitive
Dichter. Er ist ein mystischer Makrolog. Er haßt Regel und feste
Gestalt. Ein wildes, gewalttätiges Leben herrscht in der Natur – alles
ist belebt. Kein Gesetz – Willkür und Wunder überall. Er ist bloß
dynamisch.
So regt sich der philosophische Geist zuerst in völlig getrennten Massen.
Auf der zweiten Stufe der Kultur fangen sich an diese Massen zu
berühren – mannigfaltig genug; so wie in der Vereinigung unendlicher
Extreme überhaupt das Endliche, Beschränkte entsteht, so entstehn nun
auch hier Eklektiker ohne Zahl. Die Zeit der Mißverständnisse beginnt.
Der Beschränkteste ist auf dieser Stufe der Bedeutendste, der reinste
Philosoph der zweiten Stufe. Diese
Klasse ist
ganz auf die wirkliche, gegenwärtige Welt, im strengsten Sin-ne,
eingeschränkt. Die Philosophen der ersten Klasse sehn mit Verachtung auf
diese zweite herab. Sie sagen, sie sei alles nur ein bißchen und mithin
nichts. Sie halten ihre Ansichten für Folgen der Schwäche, für
Inkonsequentismus. Gegenteils stimmt die zweite Klasse in der
Bemitleidung der ersten überein, der sie die absurdeste Schwärmerei, bis
zum Wahn-witz, schuld geben.
Wenn von einer Seite Scholastiker und Alchimisten gänzlich
gespalten, hingegen die Eklek-tiker eins zu sein scheinen, so ist doch
auf dem Revers alles gerade umgekehrt. Jene sind im wesentlichen
indirekte
eines Sinns, nämlich über die absolute
Unabhängigkeit und unendli-che Tendenz der Meditation. Sie gehn beide
vom Absoluten aus; dagegen die Bornierten im wesentlichen mit sich
selbst uneins und nur im Abgeleiteten übereinstimmend sind. Jene sind
unendlich, aber einförmig – diese beschränkt, aber mannigfaltig. Jene
haben das Genie, diese das Talent. Jene die Ideen, diese die Handgriffe.
Jene sind Köpfe ohne Hände, diese Hände ohne Köpfe.
Die dritte Stufe
ersteigt der Künstler, der Werkzeug und Genie zugleich ist. Er findet,
daß jene ursprüngliche Trennung der absoluten philosophischen
Tätigkeiten eine tieferliegende Trennung seines eigenen Wesens sei,
deren Bestehn auf der Möglichkeit ihrer Vermittlung, ihrer Verbindung
beruht. Er findet, daß, so heterogen auch diese Tätigkeiten sind, sich
doch ein Vermögen in ihm vorfinde, von einer zur andern überzugehn, nach
Gefallen seine Pola-rität zu verändern. Er entdeckt also in ihnen
notwendige Glieder seines Geistes;
er merkt,
daß beide in einem gemeinsamen Prinzip vereinigt sein müssen. Er
schließt daraus, daß der Eklektizismus nichts als das Resultat des
unvollständigen, mangelhaften Gebrauchs dieses Vermögens sei.
Es wird
ihm mehr als wahrscheinlich, daß der Grund dieser Unvollständigkeit die
Schwäche der produktiven Imagination sei, die es nicht vermöge, sich im
Moment des Übergehns von einem Gliede zum andern schwebend zu erhalten
und anzuschauen. Die vollständige Dar-stellung des durch diese Handlung
zum Bewußtsein erhobenen echt geistigen Lebens ist die
Philosophie κατ' εξοχην. Hier entsteht jene
lebendige Reflexion, die sich bei
sorgfältiger Pfle-ge nachher zu einem unendlich gestalteten geistigen
Universo von selbst ausdehnt – der Kern und der Keim einer alles
befassenden Organisation. Es ist der Anfang einer wahrhaf-ten
Selbstdurchdringung des Geistes, die nie endigt.
___________________
Novalis, Fragmente
ed. Kamnitzer, Dresden 1929
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen