Sonntag, 11. April 2021

Der Künstlerphilosoph.

Codex Manesse

Der Künstlerphilosoph                                                                              zu Philosophierungen

Der rohe, diskursive Denker ist der Scholastiker. Der echte Scholastiker ist ein mystischer Subtilist. Aus logischen Atomen baut er sein Weltall – er vernichtet alle lebendige Natur, um ein Gedankenkunststück an ihre Stelle zu setzen. Sein Ziel ist ein unendlicher Automat. Ihm entgegengesetzt ist der rohe, intuitive Dichter. Er ist ein mystischer Makrolog. Er haßt Regel und feste Gestalt. Ein wildes, gewalttätiges Leben herrscht in der Natur – alles ist belebt. Kein Gesetz – Willkür und Wunder überall. Er ist bloß dynamisch.

So regt sich der philosophische Geist zuerst in völlig getrennten Massen.

Auf der zweiten Stufe der Kultur fangen sich an diese Massen zu berühren – mannigfaltig genug; so wie in der Vereinigung unendlicher Extreme überhaupt das Endliche, Beschränkte entsteht, so entstehn nun auch hier Eklektiker ohne Zahl. Die Zeit der Mißverständnisse beginnt. Der Beschränkteste ist auf dieser Stufe der Bedeutendste, der reinste Philosoph der zweiten Stufe. Diese Klasse ist ganz auf die wirkliche, gegenwärtige Welt, im strengsten Sin-ne, eingeschränkt. Die Philosophen der ersten Klasse sehn mit Verachtung auf diese zweite herab. Sie sagen, sie sei alles nur ein bißchen und mithin nichts. Sie halten ihre Ansichten für Folgen der Schwäche, für Inkonsequentismus. Gegenteils stimmt die zweite Klasse in der Bemitleidung der ersten überein, der sie die absurdeste Schwärmerei, bis zum Wahn-witz, schuld geben.

Wenn von einer Seite Scholastiker und Alchimisten gänzlich gespalten, hingegen die Eklek-tiker eins zu sein scheinen, so ist doch auf dem Revers alles gerade umgekehrt. Jene sind im wesentlichen indirekte eines Sinns, nämlich über die absolute Unabhängigkeit und unendli-che Tendenz der Meditation. Sie gehn beide vom Absoluten aus; dagegen die Bornierten im wesentlichen mit sich selbst uneins und nur im Abgeleiteten übereinstimmend sind. Jene sind unendlich, aber einförmig – diese beschränkt, aber mannigfaltig. Jene haben das Genie, diese das Talent. Jene die Ideen, diese die Handgriffe. Jene sind Köpfe ohne Hände, diese Hände ohne Köpfe.

Die dritte Stufe ersteigt der Künstler, der Werkzeug und Genie zugleich ist. Er findet, daß jene ursprüngliche Trennung der absoluten philosophischen Tätigkeiten eine tieferliegende Trennung seines eigenen Wesens sei, deren Bestehn auf der Möglichkeit ihrer Vermittlung, ihrer Verbindung beruht. Er findet, daß, so heterogen auch diese Tätigkeiten sind, sich doch ein Vermögen in ihm vorfinde, von einer zur andern überzugehn, nach Gefallen seine Pola-rität zu verändern. Er entdeckt also in ihnen notwendige Glieder seines Geistes; er merkt, daß beide in einem gemeinsamen Prinzip vereinigt sein müssen. Er schließt daraus, daß der Eklektizismus nichts als das Resultat des unvollständigen, mangelhaften Gebrauchs dieses Vermögens sei.

Es wird ihm mehr als wahrscheinlich, daß der Grund dieser Unvollständigkeit die Schwäche der produktiven Imagination sei, die es nicht vermöge, sich im Moment des Übergehns von einem Gliede zum andern schwebend zu erhalten und anzuschauen. Die vollständige Dar-stellung des durch diese Handlung zum Bewußtsein erhobenen echt geistigen Lebens ist die Philosophie κατ' εξοχην. Hier entsteht jene lebendige Reflexion, die sich bei sorgfältiger Pfle-ge nachher zu einem unendlich gestalteten geistigen Universo von selbst ausdehnt – der Kern und der Keim einer alles befassenden Organisation. Es ist der Anfang einer wahrhaf-ten Selbstdurchdringung des Geistes, die nie endigt.
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Novalis, Fragmente
ed. Kamnitzer, Dresden 1929

 
Nota. -  Obiges in die Sprache der Transzendentalphilosophie zu übersetzen, will mir nicht gelingen. Novalis ist hier wohl schon zum Dichten übergegangen. Er redet ja nicht von der Geschichte der Philosophie. Dort haben sich Scholastiker und Begeisterte nicht ursprüng-lich mehr oder weniger verständnislos gegenüber gestanden, bis dann die Eklektiker die Ge-gensätze zu Atomen zerkleinert und quasi gradiert und vermittelmäßigt hätten. 
 
Recht hat er freilich, dass die drei Typen, unabhängig vom je präferierten System, als Tem-peramente des Philosophierens immer wieder durchschlagen, und dann allerdings die einen mehr in diesem, die andern mehr in jenem System. Was für eine Philosophie man wählt, hängt ja davon ab, was man für ein Mensch ist: Einige Systeme ziehen jenen Typus, andere den andern an. 
 
Vernünftiges Argumentieren betrifft aber die Systeme, die Temperamente der Leute kann es nicht ändern. Dichtung mag es immerhin versuchen.
JE
 

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