Nach seinem Tod wurde Franz Grillparzer (15. 1. 1791 bis 21. 1. 1872) zum repräsentativen Dichter der jeweiligen Herrschaftskultur. Heute ist er weitgehend vergessen. Umso merkwürdiger erscheint es, dass von ihm eine Faszination ausgehen kann, die dem geläufigen Bild des konservativen habsburgischen Beamten gänzlich widerspricht. Es waren Konstellationen des Widerstands im 20. Jahrhundert, in denen die Schönheit seines Werks aufleuchten konnte. Auch Rosa Luxemburg, eine der kenntnisreichsten Grillparzer-Leserinnen, konstatierte bei ihm diesen merkwürdigen Widerspruch. "Diesen liebe ich schon ernstlich", schrieb sie 1917 an Hans Diefenbach. "Der reinste Shakespeare an Knappheit, Treffsicherheit und volkstümlichem Humor (...). Ist es nicht zum Lachen, daß Grillparzer ein lederner Staatsbeamter und langweiliger Patron war?"

In einem Brief an Karl August von Varnhagen schrieb Heinrich Heine über die "verlorene Augensprache" als Erfahrung seiner Generation: "Wir, wir verstanden einander durch bloße Blicke, wir sahen uns an und wußten, was in uns vorging – diese Augensprache wird bald verloren sein." Heines Beschreibung des Verlusts einer vielschichtigen, das Gesprochene und das Unausgesprochene umfassenden Sprache am Ende der deutschen und österreichischen "Kunstperiode" kann zur Erklärung des Rätsels von Grillparzers Dramensprache beitragen. Übertragen auf das Drama: Es verlangt ein Verstehen, das den Ausdruck der Gebärdensprache, des Requisits und der vielen Formen der abbrechenden oder gebrochenen Rede, des Verstummens und Schweigens wahrnimmt, mit anderen Worten, den Ausdrucksbereich des Unbewussten.

Grillparzers Dramensprache

Vor etwa dreißig Jahren wurde diese rätselhaft moderne Sprache in der Salzburger Festspielaufführung von Die Jüdin von Toledo so überzeugend wie nie davor entdeckt. Man verstand, was deren eigentümliche "andere" Schönheit ausmacht. Besser wäre es, von "Schönheiten" zu sprechen, denn es gibt bei Grillparzer nicht die eine Sprache, sondern einander widersprechende Sprachen, welche die Gespaltenheit des Ichs bewusst machen. Die Sprache des Königs von Kastilien in der Jüdin von Toledo flattert wie ein Fähnchen im Wind, zerrissen vom erotischen Begehren und dem Gesetz der Staatsräson.

Der Regisseur dieser legendären Aufführung zum 200. Geburtstag des österreichischen Dichters war Thomas Langhoff. Der Schauspieler Ulrich Mühe hat das wankende und schwankende, seiner selbst nicht mächtige Sprechen in Sprachmusik im Geist der modernen Ich-Analyse verwandelt.

Als Grillparzer noch lebte, schrieb der Publizist Ferdinand Kürnberger zu seinem 80. Geburtstag ein Feuilleton, das die Fremdheit des unzeitgemäßen Dichters als gespenstische Beunruhigung darstellte: "Lächerlich-grausam zu sagen: der altkonservative, stockösterreichische Dichter blieb zeitlebens wie ein verkappter Revolutionär angesehen. Er war niemals persona grata. War er doch gleichzeitig mit der Marseillaise geboren! War er doch im Schoße des Josephinismus geboren! Der Mann geht herum wie unser böses Gewissen. Seine Zeit haben wir begraben, aber er lebt."

Das Stück, das den größten Theaterskandal in Grillparzers Schriftstellerleben hervorgerufen hat und dessen vehemente Ablehnung für ihn eine nie verwundene Kränkung bedeutete, ist sein heiterstes, anmutigstes und am meisten politisches. Es lässt mit dem leibfreundlichen Sensualismus des Küchenjungen Leon, dem sprachgewandten jugendlich-plebejischen Helden des Lustspiels, an Heinrich Heine denken. Dass Grillparzer den revolutionären deutsch-jüdischen Exilanten den anderen literarischen Zeitgenossen vorzog, dass er ihn auf seiner Frankreich- und Englandreise in Paris besuchte, dass sie einander im literarischen Gespräch sofort verstanden, lässt uns auch sein Werk mit größerer politischer Geistesgegenwart lesen.

Prag, 1941

Nach dem Skandal bei der Uraufführung von Weh dem, der lügt! 1838 hat Grillparzer keines seiner neuen Dramen mehr auf die Bühne bringen lassen. Seine großen Lebensdramen, Libussa, Ein Bruderzwist in Habsburg, Die Jüdin von Toledo wurden erst nach seinem Tod aufgeführt. Das war schon in der Gründerzeit, das Echo blieb entsprechend reserviert.

In der Aufführung von Weh dem, der lügt! am 7. November 1942 im vormaligen "tschechischen Nationaltheater" in Prag wurde Grillparzers Lustspiel auf einzigartige Weise zu neuem Leben erweckt. 1941 war Grillparzer in Wien anlässlich seines 150. Geburtstages von den Repräsentanten des nationalsozialistischen Staates als Dichter Hitlerdeutschlands gefeiert worden. Es war der grauenhafteste Tiefpunkt der offiziellen Grillparzer-Rezeption. Aber im Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung in Prag erlebte sein Lustspiel den schönsten Erfolg, den ein Grillparzer-Drama jemals hatte, obwohl es nur in zensierter Fassung auf die Bühne kam.

Das Wort "Rhein" durfte beispielsweise nicht genannt werden. Der tschechische Regisseur Karel Dostal inszenierte Grillparzers Stück "als anmutiges, liebliches Märchen", dessen "spielerische Leichtigkeit" "mehr getanzt als gespielt" wurde. Und doch dürfte das Lustspiel, so František Černý, der dieses historische Theaterereignis mit Sorgfalt rekonstruiert hat, "bis dahin noch nie so politisch aktuell zu den Zuschauern" gesprochen haben.

Das Ungesagte

Die Zentralgestalt, der fränkische Küchenjunge Leon, verwandelte sich in eine dem Schwejk verwandte Figur, und die Grenze von Diesseits und Jenseits des Rheins stellte auf der Bühne den Gegensatz von Kultur und Barbarei dar. So wurde dem Stück unter Bedingungen des Widerstands seine anspielungsreiche "Augensprache" (Heine) zurückerstattet, eine Sprache, die imstande ist, das Gesagte und das Ungesagte, das Vergangene und das erhoffte Zukünftige zu umfassen.

Die Wienbibliothek macht den Nachlass Grillparzers mit 21. 1. 2022 digital zugänglich.


aus Die Presse, Wien, 19. 1. 2022

Wer war Grillparzer, bevor er resignierte?
Erst die Nachwelt machte ihn zum Reaktionär: Der Dichter Franz Grillparzer starb am 21. Jänner vor 150 Jahren. Über einen Freiheitsfreund, Feministen – und Zerrissenen.

von Anne-Catherine Simon 

Rosa Luxemburg sah in ihm den „reinsten Shakespeare“, Friedrich Engels einen „edlen, freien Geist, dem die österreichische Zensur eine unerträgliche Last ist“. Heine schätzte ihn in den 1830er-Jahren sehr. Und einige der besten Gedanken über Franz Grillparzer stammen aus der Feder eines in der Vor- und Nachkriegszeit führenden österreichischen Kommunisten. Das heißt nicht, dass der neben Nestroy wichtigste österreichische Dramatiker des 19. Jahrhunderts ein Revolutionär war. Er war aber auch nicht der Reaktionär, zu dem ihn das zur kleinen Demokratie geschrumpfte Österreich gemacht hat. Man schneiderte sich eine österreichische Identität – unter anderem mittels selektiver Grillparzer-Rezeption. Ein Mythos, der bis heute ein Eigenleben führt, auch wenn Regisseure wie Peter Stein oder Martin Kušej diesen Dichter längst anders gezeichnet haben.

Damit wurde ein Schriftsteller zum Restaurationsapologeten stilisiert, der das repressive System Metternichs („ein ausgezeichneter Diplomat und ein schlechter Politiker“) verabscheute. „Die Zensur hat mich umgebracht“, klagte er 1823 dem auch wegen seiner Freiheitsideale von ihm verehrten Beethoven. Sich selbst warf er in einem fiktiven Brief vor, „die Partei deines Vaterlandes“ zu nehmen, obwohl „dieses Stehenbleiben, dieses Nichtweiterschreiten auf dem Pfade der Entwicklung (. . .) ein Verbrechen an der Menschheit“ sei. 1830 empörte er sich im Tagebuch über den „schändlichen Machiavellismus der Staatslenker, die, damit die Herrscherfamilie der einzige Staatsverband sei, die wechselseitige Nationalabneigung der einzelnen Provinzen hegten und nährten“.

Zwei Suizide

Doch Grillparzer ist eben auch der Dichter der Angst, der Skepsis. Nicht zuletzt die Familiengeschichte gibt ihm Grund dazu. Seine Mutter begeht Selbstmord, einer seiner Brüder ertränkt sich in der Donau, Verwandte rund um ihn verelenden, bis hin zur Prostitution. Er hasst seinen Beamtenberuf, sein Selbstbild als Schriftsteller ist schwankend. 1826 etwa kommt er gekränkt von seinem Besuch bei Goethe zurück. Der sei ihm „nicht gerecht geworden, insofern ich mich nämlich denn doch, trotz allem Abstande für den Besten halte, der nach ihm und Schiller gekommen ist“... Später dominiert harte Selbstkritik. ...