aus spektrum.de, 7. 1. 2022 zuJochen Ebmeiers Realien;
Wenn
man umgangssprachlich von „Sprache“ spricht, haben die meisten eine
klare Vorstellung davon, was das ist: „Sprache“ ist ein Mittel zur
Kommunikation, das was gesprochen oder geschrieben wird.
Kognitionswissenschaftler verstehen unter „Sprache“ hingegen meistens
etwas anders: Sie sehen Sprache als die universelle Fähigkeit des
Menschen, Sprache zu erwerben und zu verwenden – eines der wichtigsten Merkmale, das uns von anderen Tieren unterscheidet. Und diese Fähigkeit ist keineswegs auf Laut- oder Schriftsprache beschränkt.
Sprache ist nicht nur etwas Kulturelles, sondern vor allem etwas Biologisches
Trotz der über 7000 verschiedenen Sprachen weltweit
ist die Sprachfähigkeit universell: Es gibt keinerlei Hinweise darauf,
dass sich die kognitiven und neurobiologischen Voraussetzungen für den
Erwerb der unterschiedlichen Sprachen der Welt innerhalb der
Weltbevölkerung unterscheiden. Das heißt, ein aus Papua-Neuguinea
adoptiertes Kleinkind, dass in Hannover bei Adoptiveltern in einem
deutschsprachigen Umfeld aufwächst, erwirbt mehr oder weniger
automatisch und problemlos das lokal typische Hannoveraner Deutsch. Und
umgekehrt. Ein adoptiertes Kind aus Deutschland, das in Papua-Neuginea
aufwächst, würde ebenso problemlos und automatisch mindestens eine oder
wahrscheinlich sogar gleichzeitig mehrere der dortigen Landessprachen
erwerben.
Alle Menschen verfügen von Geburt an über eine Art
„neurokognitiven Werkzeugkoffer“, den die verschiedenen Sprachen der
Welt dann auf unterschiedliche Weise nutzen. Dieser „Werkzeugkoffer“
befindet sich hauptsächlich im Sprachnetzwerk in der linken Hälfte des Gehirns. Verarbeitet
man nun eine sogenannte Tonsprache wie etwa Mandarin, eine Varietät des
Chinesischen, werden die Ressourcen des „neurokognitiven
Werkzeugkoffers“ etwas anders genutzt als bei einer indogermanischen Sprache.
Jeder Mensch kann also prinzipiell jede Sprache der Welt erwerben
beziehungsweise erlernen. Hierfür folgen unsere Fähigkeiten einem evolutionär vorgegebenen entwicklungsbiologischen Programm,
welches dafür sorgt, dass der Spracherwerb im Kindesalter weitestgehend
vollautomatisch vonstattengeht. Im Erwachsenenalter bedeutet das
Erlernen einer neuen Sprache hingegen meist erheblichen Aufwand. Grund
dafür ist der natürliche Reifungsprozess des menschlichen Gehirns: Bis zur Pubertät entwickelt sich das Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte
und weist somit eine erhebliche Flexibilität auf, die sogenannte
neuronale Plastizität. Mit zunehmendem Alter nimmt diese stark ab.
Doch
dieses entwicklungsbiologische Programm wirkt sich nicht auf alle
Aspekte unserer Sprachfähigkeit gleichermaßen aus: Neue Wörter lassen
sich ein Leben lang gut lernen. Für die Fähigkeit aus den sprachlichen
Signalen in seiner Umgebung nicht nur Regelmäßigkeiten, sondern
automatisch auch grammatikalische Regeln abzuleiten gibt es jedoch ein
engeres Zeitfenster. Die Spracherwerbsforschung und dokumentierte Fälle
von sogenannten „Wolfskindern“ zeigen, dass die Fähigkeit automatisch
grammatikalische Regelmäßigkeit aus sprachlichem Input abzuleiten nach
dem Ende der sogenannten „kritischen Phase“ für den Spracherwerb nur noch rudimentär vorhanden ist. Das dokumentiert der tragische Fall von Genie,
einer Amerikanerin, die in ihrer Kindheit schwer vernachlässigt und
sozial isoliert wurde. Der Nicht-Erwerb der grammatikalischen Regeln
einer Erstsprache innerhalb dieser frühen Phase des Lebens zieht
irreversible Folgen nach sich: Obwohl
sich Genies Sprachfähigkeiten nach ihrer Rettung durchaus entwickelten
und sie viele neue Wörter lernte, produzierte sie Zeit ihres Lebens nur
relativ kurze Sätze und hatte Probleme mit grammatikalisch komplexen
Konstruktionen.
Doch was passiert, wenn ein Kind zum Beispiel
taub geboren wird und somit keinen unmittelbaren Zugang zur Lautsprache
hat? Wie bekommt es dann den notwendigen sprachlichen Input? Die
Forschung zeigt: Das Wesentliche für den Spracherwerb und die normale
Ausbildung des Sprachnetzwerks im Gehirn ist keineswegs das gesprochene
Wort. Wichtiger ist, dass Kinder überhaupt sprachlichen Input bekommen – die Form der Sprache ist dabei egal.
Das heißt, es macht keinen Unterschied, ob gehörlose Kinder eine
Gebärdensprache und hörende Kinder eine Lautsprache als jeweilige
Erstsprache erwerben. Dies bestätigt wiederum eine andere wesentliche
Erkenntnis der kognitionswissenschaftlichen Forschung seit den 1960er
Jahren: Die
Einsicht, dass die verschiedenen Gebärdensprachen der Welt vollwertige
und eigenständige Sprachen mit eigenem Vokabular und eigener Grammatik
sind. Wichtig ist lediglich, dass sich durch den Erstspracherwerb
das Sprachnetzwerk ausbildet. Dann ist es auch später im Leben – wenn
auch mit etwas Mehraufwand – möglich, Fremdsprachen zu erlernen. Denn
alle erforderlichen Teile des „neurokognitiven Werkzeugkoffers“ sind
ausgereift und in Verwendung.
Dem Gehirn ist egal, ob Sprache gesprochen, geschrieben oder gebärdet wird
Die
neurobiologische Forschung zur Gebärdensprache zeigt, dass diese
prinzipiell im selben Netzwerk in der linken Hälfte des menschlichen
Gehirns verarbeitet wird wie Laut- und Schriftsprache. In einer Meta-Analyse von Studien mit bildgebenden Verfahren konnten wir dies unlängst bestätigen.
Beim Sprachnetzwerk handelt es sich somit um ein Netzwerk, das
hauptsächlich sprachliche Informationen wie Grammatik oder Bedeutung
verarbeitet. Diese sprachlichen Informationen sind prinzipiell abstrakt
und in jeder einzelnen Laut- und Gebärdensprache anders. Die Sprachen
der Welt unterscheiden sich ja im Hinblick auf das Vokabular und die
Grammatik. Folglich
scheint das menschliche Gehirn über ein Netzwerk in der linken
Hirnhälfte zu verfügen, welches hauptsächlich diese abstrakten
Informationen und Regelmäßigkeiten verarbeitet und uns hilft, einzelne
Gebärden oder Wörter zu Sätzen zusammenzubauen. Einzelfallstudien
von gehörlosen Erwachsenen, die weitestgehend isoliert und mit nur
minimalem lautsprachlichem Input aufgewachsen sind und dann erst im
Erwachsenenalter eine Gebärdensprache erlernt haben, zeigen zudem: Fehlt
im Kindesalter der sprachliche Input, so haben die Erwachsenen später Probleme mit komplexen Sätzen, denn das Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte scheint nicht ausreichend ausgebildet zu sein.
Ein
weiteres Teil in diesem Puzzle liefern schlussendlich Daten von
Menschen die gehörlos und blind sind. Ein bekanntes Beispiel ist die Schriftstellerin Helen Keller,
welche in der frühen Kindheit wegen einer Krankheit sowohl das Gehör
als auch das Augenlicht verloren hatte. Das hinderte sie allerdings
nicht daran, mit Hilfe der sogenannten Tadoma-Methode, die englische
Lautsprache zu erwerben. Dabei wird zum Beispiel eine Hand des
taubblinden Menschen auf dem Gesicht des Sprechers platziert, um die
artikulierten Laute zu ertasten. Untersuchungen
ergaben, dass selbst diese Form des indirekten lautsprachlichen Inputs
mit einem regulären Spracherwerb einhergeht. Aktuellere
Untersuchungen zeigen, dass taubblinde Menschen bevorzugt eine Form der
Gebärdensprache bevorzugen, bei der das Gegenüber die Bewegungen der
Hände im Raum ertastet. Diese sogenannten taktilen Gebärdensprachen
basieren häufig auf den lokalen Gebärdensprachen des jeweiligen Landes
oder der Region. Von
Taubblinden werden diese in der Regel so angepasst, dass rein visuell
wahrnehmbare Aspekte von Gebärden, wie zum Beispiel das Hochziehen der
Augenbrauen während eines Fragesatzes, durch Signale ersetzt werden, die
auch über den Tastsinn wahrnehmbar sind. Interessanterweise folgen diese Anpassungen auch grammatikalischen Regelmäßigkeiten.
Warum gibt es denn überhaupt so viele verschiedene Sprachen?
Obwohl
Sprache natürlich auch ein Mittel zur Kommunikation ist, so bildet den
Kern der menschlichen Sprachfähigkeit offenbar die Möglichkeit abstrakte
Symbole, egal ob Wörter oder Gebärden, anhand von grammatikalischen
Regeln zu neuen komplexeren Repräsentationen zusammenzusetzen. Die
Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen (Englisch vs.
Chinesisch), und den Modalitäten (Laut- vs. Gebärdensprache), erklären
sich daraus, dass es sich bei der Sprachfähigkeit um ein evolutionär
sehr junges Merkmal unserer Spezies handelt: Die
Fähigkeit, komplexe grammatikalische Strukturen zu bilden, hat somit in
erster Linie dazu geführt unserer Spezies eine artspezifische Denkweise
zu ermöglichen, die wir als spezifisch „sprachlich“ bezeichnen können.
In welcher Verbindung diese komplexen, anhand von Grammatik generierten
Strukturen zur internen Struktur unseres nicht-sprachlichen Denkens
stehen, ist eine offene Frage. Die Diversität der Sprachen der Welt und
vor allem die Existenz von Gebärdensprachen deuten darauf hin, dass in
der Biologie des Menschen die Form, in der wir unsere Sprachfähigkeit
zum Ausdruck bringen, schlicht nicht zwingend festgelegt ist.
Verschiedene Sprachen verwenden den universellen „neurokognitiven
Werkzeugkoffer“ also auf unterschiedliche Art und Weise.
Wir sind keine sprechende, sondern eine sprachbegabte Spezies
Wir
sind im Kern also eine sprachbegabte Spezies, deren Gehirn darauf
spezialisiert ist, abstrakte Relationen zwischen einzelnen Wörtern oder
Gebärden herzustellen, um sie in Sätzen zu verbinden. Dies passiert
primär im Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte. Die Details der
grammatikalischen Regeln sind in jeder Sprache anders und somit
biologisch nur indirekt festgelegt und weitestgehend zufällig,
beziehungsweise folgen sie historischen Mustern. Wichtig für die normale
Ausbildung des Sprachnetzwerks ist einerseits die angeborene
Sprachfähigkeit und andererseits der Input im Kindesalter. Die Form von
Sprache ist dabei zweitrangig – was auf die durch und durch abstrakte
Natur unserer Sprachfähigkeit hindeutet.
Nota. - Für heute nur dies: Die Fähigkeit, Grammatik auszubilden und zu verstehen, ist also gattungsgeschichtlich überliefert. Grammatik ist das Verfahren, Bedeutungseinheiten zu ein-ander in ein hierarchisches Verhältnis von Dependenz zu setzen. Grammatik ist das Rudi-ment der Logik. Logik ist ihrerseitss ein gattungsgeschichtliches Produkt, es wird aber nicht genetisch, sondern sozial und kommunikativ überliefert.
JE
Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE
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